Obligatorische Sanktionen bei Verstößen gegen Mehrwertsteuerrecht - Schwellenwerte und Sanktionshöhe
Leitsatz
Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 325 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der die Nichtabführung der gemäß der Jahressteuererklärung für ein bestimmtes Steuerjahr geschuldeten Mehrwertsteuer innerhalb der gesetzlich festgelegten Fristen nur dann eine mit einer Freiheitsstrafe bewehrte Straftat darstellt, wenn die Höhe der nicht entrichteten Mehrwertsteuer einen Schwellenwert von 250 000 Euro für die Strafbarkeit übersteigt, während für die Strafbarkeit der Nichtabführung von an der Quelle einbehaltener Einkommensteuer ein Schwellenwert von 150 000 Euro vorgesehen ist.
Instanzenzug:
Verfahrensstand: Diese Entscheidung ist rechtskräftig
Gründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV, der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) und des am in Brüssel unterzeichneten Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1995, C 316, S. 49, im Folgenden: PIF-Übereinkommen).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Herrn Mauro Scialdone, dem vorgeworfen wird, als alleiniger Geschäftsführer der Siderlaghi Srl die gemäß der Steuererklärung der Gesellschaft für das Steuerjahr 2012 zu entrichtende Mehrwertsteuer nicht binnen der gesetzlich festgelegten Fristen abgeführt zu haben.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Das PIF-Übereinkommen
3 Art. 1 („Allgemeine Bestimmungen”) des PIF-Übereinkommens bestimmt in seinem Abs. 1:
„Für die Zwecke dieses Übereinkommens umfasst der Tatbestand des Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der [Union]
…
im Zusammenhang mit Einnahmen jede vorsätzliche Handlung oder Unterlassung betreffend
die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel aus dem Haushalt der Union oder aus den Haushalten, die von der Union oder in deren Auftrag verwaltet werden, rechtswidrig vermindert werden,
das Verschweigen einer Information unter Verletzung einer spezifischen Pflicht mit derselben Folge;
die missbräuchliche Verwendung eines rechtmäßig erlangten Vorteils mit derselben Folge.”
4 Art. 2 („Sanktionen”) dieses Überbekommens sieht in Abs. 1 vor:
„Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in Artikel 1 genannten Handlungen sowie die Beteiligungen an den Handlungen im Sinne von Artikel 1 Absatz 1, die Anstiftung dazu oder der Versuch solcher Handlungen durch wirksame, angemessene und abschreckende Strafen geahndet werden können, die zumindest in schweren Betrugsfällen auch Freiheitsstrafen umfassen, die zu einer Auslieferung führen können; als schwerer Betrug gilt jeder Betrug, der einen in jedem Mitgliedstaat festzusetzenden Mindestbetrag zum Gegenstand hat. Dieser Mindestbetrag darf 50 000 [Euro] nicht überschreiten.”
5 In Art. 2 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie wird festgelegt, welche Umsätze der Mehrwertsteuer unterliegen.
6 Art. 206 dieser Richtlinie bestimmt:
„Jeder Steuerpflichtige, der die Steuer schuldet, hat bei der Abgabe der Mehrwertsteuererklärung nach Artikel 250 den sich nach Abzug der Vorsteuer ergebenden Mehrwertsteuerbetrag zu entrichten. Die Mitgliedstaaten können jedoch einen anderen Termin für die Zahlung dieses Betrags festsetzen oder vorläufige Vorauszahlungen erheben.”
7 Art. 250 Abs. 1 der Richtlinie lautet:
„Jeder Steuerpflichtige hat eine Mehrwertsteuererklärung abzugeben, die alle für die Festsetzung des geschuldeten Steuerbetrags und der vorzunehmenden Vorsteuerabzüge erforderlichen Angaben enthält, gegebenenfalls einschließlich des Gesamtbetrags der für diese Steuer und Abzüge maßgeblichen Umsätze sowie des Betrags der steuerfreien Umsätze, soweit dies für die Feststellung der Steuerbemessungsgrundlage erforderlich ist.”
8 Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.
…”
Italienisches Recht
9 In Art. 13 Abs. 1 des Decreto legislativo n. 471 recante riforma delle sanzioni tributarie non penali in materia di imposte dirette, di imposta sul valore aggiunto e di riscossione dei tributi, a norma dell’articolo 3, comma 133, lettera q, della legge 23 dicembre 1996, n. 662 (Gesetzesdekret Nr. 471 zur Reform der nicht strafrechtlichen Steuersanktionen im Bereich der direkten Steuern, der Mehrwertsteuer und des Steuereinzugs gemäß Art. 3 Abs. 133 Buchst. q des Gesetzes Nr. 662 vom ), vom (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 5 vom ) (im Folgenden: Gesetzesdekret Nr. 471) heißt es:
„Wer es ganz oder teilweise unterlässt, innerhalb der vorgesehenen Fristen Abschlagszahlungen, wiederkehrende Zahlungen, die Ausgleichszahlung oder den sich aus der Erklärung ergebenden Steuersaldo, in diesen Fällen abzüglich des Betrags der wiederkehrenden Zahlungen und der Abschlagszahlungen, auch wenn sie nicht entrichtet wurden, zu leisten, wird mit einer Verwaltungssanktion belegt, die 30 % des jeweils nicht geleisteten Betrags entspricht, auch wenn sich infolge der Berichtigung bei der Überprüfung der jährlichen Erklärung festgestellter Schreib- oder Rechenfehler eine höhere Steuer oder ein geringerer abzugsfähiger Überschuss ergibt. …”
10 Art. 10bis („Nichtabführung geschuldeter oder bescheinigter Steuerabzüge”) des Decreto legislativo n. 74 recante nuova disciplina dei reati in materia di imposte sui redditi e sul valore aggiunto, a norma dell’articolo 9 della legge 25 giugno 1999, n. 205 (Gesetzesdekret Nr. 74 zur Neuregelung für Straftaten im Bereich der Einkommensteuer und der Mehrwertsteuer gemäß Art. 9 des Gesetzes Nr. 205 vom ), vom (GURI Nr. 76 vom , S. 4) (im Folgenden: Gesetzesdekret Nr. 74/2000) bestimmte in seiner zum Zeitpunkt der Begehung der im Ausgangsverfahren maßgebenden Taten und bis einschließlich geltenden Fassung:
„Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren wird bestraft, wer die sich aus der den Steuerpflichtigen ausgestellten Bescheinigung ergebenden Steuerabzüge nicht innerhalb der Frist zur Vorlage der Jahressteuererklärung des Steuerabführungspflichtigen abführt, wenn der geschuldete Betrag im jeweiligen Besteuerungszeitraum 50 000 Euro übersteigt.”
11 In Art. 10ter („Nichtabführung der Mehrwertsteuer”) dieses Gesetzesdekrets hieß es seinerzeit:
„Art. 10bis findet innerhalb der dort festgelegten Grenzen auch auf denjenigen Anwendung, der die gemäß der jährlichen Steuererklärung geschuldete Mehrwertsteuer nicht innerhalb der für Abschlagszahlungen für den folgenden Steuerzeitraum geltenden Frist abführt.”
12 Art. 13 („Mildernde Umstände. Begleichung der Steuerschuld”) dieses Gesetzesdekrets sah in seinem Abs. 1 vor:
„Die für Straftaten im Sinne des vorliegenden Gesetzesdekrets vorgesehenen Strafen werden um bis zu einem Drittel herabgesetzt …, wenn vor Eröffnung der Hauptverhandlung im ersten Rechtszug die den Straftatbestand erfüllenden Steuerschulden beglichen sind …”
13 Das Gesetzesdekret Nr. 74/2000 wurde durch das Decreto legislativo n. 158 recante revisione del sistema sanzionatorio, in attuazione dell’articolo 8, comma 1, della legge 11 marzo 2014, n. 23 (Gesetzesdekret Nr. 158 über die Änderung des Sanktionssystems zur Umsetzung von Art. 8 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 23 vom ) vom (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 233 vom ) (im Folgenden: Gesetzesdekret Nr. 158/2015) mit Wirkung ab geändert.
14 Seither bestimmt Art. 10bis des Gesetzesdekrets Nr. 74/2000 in der durch das Gesetzesdekret Nr. 158/2015 geänderten Fassung:
„Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren wird bestraft, wer die sich aus der Jahressteuererklärung des Steuerabführungsverpflichteten oder aus der den Steuerpflichtigen ausgestellten Bescheinigung ergebenden Steuerabzüge nicht innerhalb der Frist zur Vorlage dieser Jahressteuererklärung abführt, wenn der geschuldete Betrag im jeweiligen Besteuerungszeitraum 150 000 Euro übersteigt.”
15 Art. 10ter des Gesetzesdekrets Nr. 74/2000 in der durch das Gesetzesdekret Nr. 158/2015 geänderten Fassung sieht vor:
„Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren wird bestraft, wer die gemäß der Jahressteuererklärung geschuldete Mehrwertsteuer nicht innerhalb der für Abschlagszahlungen für den folgenden Steuerzeitraum geltenden Frist abführt, wenn der geschuldete Betrag im jeweiligen Besteuerungszeitraum 250 000 Euro übersteigt.”
16 Art. 13 („Strafaufhebungsgrund. Begleichung der Schuld”) des Gesetzesdekrets Nr. 74/2000 in der durch das Gesetzesdekret Nr. 158/2015 geänderten Fassung sieht Folgendes vor:
„(1) Die Taten nach den Art. 10bis, 10ter … werden nicht bestraft, wenn die Steuerschulden einschließlich der Verwaltungsbußgelder und Zinsen durch vollständige Zahlung der geschuldeten Beträge beglichen werden, bevor der Beschluss über die Eröffnung der Hauptverhandlung im ersten Rechtszug ergeht; dies schließt auch Zahlungen infolge der steuerrechtlich vorgesehenen besonderen Schlichtungsverfahren und Verfahren der Zustimmung zur vorgenommenen Bewertung oder die freiwillige Begleichung der Steuerschuld ein.
…
(3) Wird die Steuerschuld vor Eröffnung des Hauptverfahrens im ersten Rechtszug durch Ratenzahlungen beglichen, insbesondere gemäß Art. 13bis, so wird für die Zahlung der Restschuld eine Frist von drei Monaten gewährt. Die Verjährung wird in diesem Fall unterbrochen. Das Gericht kann diese Frist einmalig um maximal drei weitere Monate verlängern, wenn es dies für erforderlich hält; die Unterbrechung der Verjährung bleibt hiervon unberührt.”
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
17 Die Agenzia delle Entrate (Finanzverwaltung, Italien) führte bei Siderlaghi eine Steuerprüfung durch. Bei dieser Prüfung wurde festgestellt, dass die Gesellschaft die von ihr gemäß ihrer Steuererklärung für das Steuerjahr 2012 zu entrichtende Mehrwertsteuer in Höhe von 175 272 Euro nicht binnen der gesetzlich festgelegten Fristen abgeführt hatte. Die Finanzverwaltung teilte Siderlaghi diese Regelwidrigkeit mit und forderte sie auf, ihren Verpflichtungen durch Zahlung der geschuldeten Steuer, der Verzugszinsen und, gemäß Art. 13 Abs. 1 des Gesetzesdekrets Nr. 471/97, einer Geldbuße in Höhe von 30 % der Steuerschuld nachzukommen. Da sich die Gesellschaft verpflichtete, ihre Mehrwertsteuerschuld innerhalb von 30 Tagen ab dieser Mitteilung in Raten zu begleichen, wurde die vorgesehene Geldbuße um zwei Drittel herabgesetzt.
18 Außerdem beantragte die Procura della Repubblica (Staatsanwaltschaft, Italien) am beim vorlegenden Tribunale di Varese (Bezirksgericht Varese, Italien) den Erlass eines Strafbefehls über 22 500 Euro gegen Herrn Scialdone. Dieser Antrag war darauf gestützt, dass es sich bei der in Rede stehenden Nichtabführung der Mehrwertsteuer um eine Straftat im Sinne der Art. 10bis und 10ter des Gesetzesdekrets Nr. 74/2000 handele, da für eine solche Nichtabführung, zumal u. a. der nicht abgeführte Betrag der Mehrwertsteuer den Schwellenwert von 50 000 Euro für die Strafbarkeit der Nichtabführung übersteige, die von diesen Bestimmungen vorgesehene Sanktion in Betracht komme und Herrn Scialdone als alleinigem Geschäftsführer von Siderlaghi diese Straftat zuzurechnen sei.
19 Am trat das Gesetzesdekret Nr. 158/2015 in Kraft. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die dadurch am Gesetzesdekret Nr. 74/2000 vorgenommenen Änderungen als günstigere Vorschriften rückwirkend auf den Herrn Scialdone zur Last gelegten Sachverhalt Anwendung fänden. Folglich handele es sich bei dem in Rede stehenden Sachverhalt nicht mehr um eine Straftat, da Art. 10ter des Gesetzesdekrets Nr. 74/200 in der durch das Gesetzesdekret Nr. 158/2015 geänderten Fassung nun einen Schwellenwert von 250 000 Euro für die Strafbarkeit der Nichtabführung der Mehrwertsteuer vorsehe und die Steuerschuld von Siderlaghi unter diesem neuen Schwellenwert liege. Außerdem könne Herr Scialdone in den Genuss des Strafaufhebungsgrundes kommen, der jetzt in Art. 13 des Gesetzesdekrets Nr. 74/2000 in der durch das Gesetzesdekret Nr. 158/2015 geänderten Fassung vorgesehen sei, da Siderlaghi mit der Finanzverwaltung die Begleichung der geschuldeten Mehrwertsteuer, der verhängten Geldbuße und der Verzugszinsen durch Ratenzahlung vereinbart habe.
20 Das vorlegende Gericht möchte jedoch wissen, ob die durch das Gesetzesdekret Nr. 158/2015 vorgenommenen Änderungen der italienischen Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht vereinbar sind, da es sich, falls eine Unvereinbarkeit dieser Vorschriften mit dem Unionsrecht vorliegen sollte, gezwungen sähe, diese unangewendet zu lassen und auf die ursprüngliche Fassung des Gesetzesdekrets Nr. 74/2000 zurückzugreifen, so dass Herr Scialdone weiterhin strafbar wäre.
21 Insoweit weist das vorlegende Gericht zum einen darauf hin, dass nach der ursprünglichen Fassung der Art. 10bis und 10ter des Gesetzesdekrets Nr. 74/2000, unabhängig davon, ob an der Quelle einbehaltene Einkommensteuer oder Mehrwertsteuer nicht abgeführt worden sei, derselbe Schwellenwert von 50 000 Euro für die Strafbarkeit gelte. Dagegen sei seit der Änderung des Gesetzesdekrets Nr. 74/2000 durch das Gesetzesdekret Nr. 158/2015 dieser Schwellenwert in Bezug auf die Nichtabführung der Quellensteuer gemäß dem neuen Art. 10bis auf 150 000 Euro und in Bezug auf die Nichtabführung der gemäß der Steuererklärung zu entrichtenden Mehrwertsteuer gemäß dem neuen Art. 10ter auf 250 000 Euro angehoben worden. Das vorlegende Gericht hat Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Unterscheidung mit den sich aus Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 325 AEUV sowie aus der Mehrwertsteuerrichtlinie ergebenden Anforderungen, da Letztere nach seiner Auffassung einen besseren Schutz der nationalen finanziellen Interessen gegenüber denen der Europäischen Union zur Folge hat.
22 Zum anderen schließt das vorlegende Gericht aus diesen Vorschriften und dem PIF-Übereinkommen, dass die Mitgliedstaaten möglicherweise verpflichtet sind, Nichtabführungen von Mehrwertsteuer wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden mit einer Freiheitsstrafe zu sanktionieren, sobald der nicht abgeführte Betrag 50 000 Euro übersteigt. Wäre dies der Fall, stünde Art. 10ter des Gesetzesdekrets Nr. 74/2000 in der durch das Gesetzesdekret Nr. 158/2015 geänderten Fassung nicht mit dem Unionsrecht in Einklang, da die darin vorgesehene Sanktion nur auf die Nichtabführung von Beträgen anwendbar sei, die mindestens 250 000 Euro betrügen. Aus ähnlichen Gründen bezweifelt das vorlegende Gericht auch, dass ein absoluter Strafaufhebungsgrund der in Art. 13 des Gesetzesdekrets Nr. 74/2000 in der durch das Gesetzesdekret Nr. 158/2015 geänderten Fassung vorgesehenen Art mit dem Unionsrecht vereinbar ist.
23 Unter diesen Umständen hat das Tribunale di Varese (Bezirksgericht Varese) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist das Unionsrecht, insbesondere Art. 4 Abs. 3 EUV in Verbindung mit Art. 325 AEUV und der Mehrwertsteuerrichtlinie, nach denen die Mitgliedstaaten im Rahmen der Sanktionspolitik zur Gleichstellung verpflichtet sind, dahin auszulegen, dass es dem Erlass einer nationalen Regelung entgegensteht, die vorsieht, dass die strafrechtliche Relevanz der Nichtabführung der Mehrwertsteuer bei Überschreiten eines höheren Schwellenbetrags eintritt, als er für die Nichtabführung der direkten Einkommensteuer festgelegt ist?
Ist das Unionsrecht, insbesondere Art. 4 Abs. 3 EUV in Verbindung mit Art. 325 AEUV und der Mehrwertsteuerrichtlinie, nach denen die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, wirksame, abschreckende und verhältnismäßige Sanktionen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union zu erlassen, dahin auszulegen, dass es dem Erlass einer nationalen Regelung entgegensteht, die den Beschuldigten (sei er Geschäftsführer, gesetzlicher Vertreter, für Steuerangelegenheiten Bevollmächtigter oder an der Straftat Beteiligter) straflos stellt, wenn die mit Rechtspersönlichkeit ausgestattete Körperschaft, zu der der Beschuldigte gehört, die Steuer und die im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuer geschuldeten Verwaltungsbußgelder verspätet abgeführt hat, obwohl die Steuerfestsetzung bereits erfolgt war, die Strafverfolgung eingeleitet, die Sache dem Richter vorgelegt und die ordnungsgemäße Einleitung des kontradiktorischen Verfahrens bestätigt worden war, aber bevor der Beschluss über die Eröffnung der Hauptverhandlung ergangen ist, in einem System, in dem für den Geschäftsführer, gesetzlichen Vertreter oder ihren Bevollmächtigten und an der Straftat Beteiligten keine andere Sanktion, nicht einmal verwaltungsrechtlicher Art, vorgesehen ist?
Ist der Begriff des Betrugs in Art. 1 des PIF-Übereinkommens dahin auszulegen, dass er auch Fälle der unterlassenen, teilweisen oder verspäteten Abführung der Mehrwertsteuer erfasst und Art. 2 dieses Übereinkommens die Mitgliedstaaten daher verpflichtet, die unterlassene, teilweise oder verspätete Abführung der Mehrwertsteuer bei Beträgen, die 50 000 Euro übersteigen, mit Freiheitsstrafe zu bestrafen?
Falls diese Frage verneint wird: Ist Art. 325 AEUV, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, abschreckende, verhältnismäßige und wirksame Sanktionen, auch strafrechtlicher Art, vorzusehen, dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Geschäftsführer und gesetzlichen Vertreter juristischer Personen oder ihre Steuerbevollmächtigten und die an der Straftat Beteiligten für die unterlassene, teilweise oder verspätete Abführung von Mehrwertsteuer bei Beträgen, die die Mindestschwellen für Betrug in Höhe von 50 000 Euro um das Drei- oder Fünffache übersteigen, von einer strafrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Verantwortlichkeit freistellt?
Zu den Vorlagefragen
Zu den Fragen 1 und 3
Vorbemerkungen
24 Mit seiner ersten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht, insbesondere Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 325 AEUV, die Mehrwertsteuerrichtlinie und das PIF-Übereinkommen einer nationalen Regelung entgegenstehen, die zum einen bestimmt, dass die Nichtabführung der gemäß der Jahressteuererklärung für ein bestimmtes Steuerjahr geschuldeten Mehrwertsteuer binnen der gesetzlich festgelegten Fristen nur dann eine mit einer Freiheitsstrafe bewehrte Straftat darstellt, wenn der Betrag der nicht abgeführten Mehrwertsteuer einen Schwellenwert von 250 000 Euro für die Strafbarkeit übersteigt, und die zum anderen für die Strafbarkeit der Nichtabführung von an der Quelle einbehaltener Einkommensteuer einen Schwellenwert von 150 000 Euro vorsieht.
25 Insoweit ist daran zu erinnern, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie nicht die Sanktionen im Bereich der Mehrwertsteuer harmonisiert. Hierfür sind grundsätzlich die Mitgliedstaaten zuständig.
26 Vor diesem Hintergrund geht zunächst aus den Art. 2 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV hervor, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen (Urteil vom , Menci, , EU:C:2018:197, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Sodann haben die Mitgliedstaaten nach Art. 325 Abs. 1 AEUV Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen mit Maßnahmen zu bekämpfen, die wirksam und abschreckend sind. Dabei umfassen die finanziellen Interessen der Union u. a. die Einnahmen aus der Mehrwertsteuer (Urteil vom , Menci, , EU:C:2018:197, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Schließlich müssen gemäß ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Mitgliedstaaten, denen allerdings die Wahl der Sanktionen verbleibt, darauf achten, dass Verstöße gegen das Unionsrecht einschließlich der durch die Mehrwertsteuerrichtlinie harmonisierten Regelungen nach sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden, die denjenigen ähneln, die bei nach Art und Schwere gleichartigen Verstößen gegen das nationale Recht gelten, und jedenfalls der Sanktion einen wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden Charakter verleihen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Kommission/Griechenland, 68/88, EU:C:1989:339, Rn. 24, vom , Nunes und de Matos, , EU:C:1999:376, Rn. 10, sowie vom , Berlusconi u. a., , und , EU:C:2005:270, Rn. 65).
29 Nach alledem fallen zwar die von den Mitgliedstaaten zur Bekämpfung von Verstößen gegen die harmonisierten Vorschriften im Bereich der Mehrwertsteuer eingeführten Sanktionen unter ihre verfahrensrechtliche und institutionelle Autonomie, doch diese ist nicht nur durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dessen Anwendbarkeit im vorliegenden Fall nicht in Rede steht, sondern zum einen auch durch den Äquivalenzgrundsatz, wonach die Sanktionen denjenigen ähneln müssen, die bei nach Art und Schwere gleichartigen Verstößen gegen das nationale Recht und Verletzungen der nationalen finanziellen Interessen gelten, und zum anderen durch den Effektivitätsgrundsatz beschränkt, wonach diese Sanktionen wirksam und abschreckend sein müssen.
30 Somit sind die erste und die dritte Frage im Licht dieser beiden Grundsätze zu beantworten, wobei in einem ersten Schritt der Effektivitätsgrundsatz und in einem zweiten Schritt der Äquivalenzgrundsatz geprüft wird.
Zum Effektivitätsgrundsatz
31 Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, sieht die italienische Regelung zur Bekämpfung der Nichtabführung der gemäß der Jahressteuererklärung für ein bestimmtes Steuerjahr geschuldeten Mehrwertsteuer binnen der gesetzlich festgelegten Fristen zwei Arten von Sanktionen vor. Zum einen können gegen den säumigen Steuerpflichtigen gemäß Art. 13 Abs. 1 des Gesetzesdekrets Nr. 471/97 Geldbußen in Höhe von grundsätzlich 30 % der geschuldeten Steuer zuzüglich Verzugszinsen verhängt werden. Zum anderen sieht Art. 10ter des Gesetzesdekrets Nr. 74/2000 in der durch das Gesetzesdekret Nr. 158/2015 geänderten Fassung in Bezug auf natürliche Personen die Möglichkeit der Verhängung einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren vor, wenn der Betrag der nicht abgeführten Mehrwertsteuer einen Schwellenwert von 250 000 Euro für die Strafbarkeit übersteigt.
32 Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts könnte es das Unionsrecht jedoch verlangen, dass Freiheitsstrafen gegen Personen, die sich der Nichtabführung von Mehrwertsteuer schuldig gemacht haben, bereits dann verhängt werden, wenn der nicht abgeführte Betrag mindestens 50 000 Euro erreicht.
33 Insoweit geht aus den Rn. 25 bis 29 des vorliegenden Urteils hervor, dass ungeachtet der Tatsache, dass die Sanktionen im Bereich der Mehrwertsteuer zur Zeit der im Ausgangsverfahren maßgebenden Ereignisse nicht harmonisiert waren, die Mitgliedstaaten nach dem Effektivitätsgrundsatz verpflichtet waren, wirksame und abschreckende Maßnahmen zur Bekämpfung von Verstößen gegen harmonisierte Regelungen auf diesem Gebiet einzuführen und die finanziellen Interessen der Union zu schützen, ohne dass jedoch diese Sanktionen grundsätzlich besondere Merkmale aufweisen müssen.
34 So hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass die Mitgliedstaaten frei wählen können, welche Sanktionen sie anwenden, um die Erhebung der Einnahmen aus der Mehrwertsteuer in ihrer Gesamtheit und damit den Schutz der finanziellen Interessen der Union zu gewährleisten. Dabei kann es sich um verwaltungsrechtliche oder strafrechtliche Sanktionen oder um eine Kombination aus beiden handeln (Urteile vom , Åkerberg Fransson, , EU:C:2013:105, Rn. 34, vom , M.A.S. und M.B., , EU:C:2017:936, Rn. 33, sowie vom , Menci, , EU:C:2018:197, Rn. 20).
35 Zwar hat der Gerichtshof auch festgestellt, dass strafrechtliche Sanktionen unerlässlich sein können, um bestimmte Fälle von schwerem Mehrwertsteuerbetrug wirksam und abschreckend zu bekämpfen. Somit sind die Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet verpflichtet, wirksame und abschreckende strafrechtliche Sanktionen zu erlassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , M.A.S. und M.B., , EU:C:2017:936, Rn. 34 und 35).
36 Im Übrigen ist die Wahlfreiheit der Mitgliedstaaten durch das PIF-Übereinkommen beschränkt. Gemäß dessen Art. 2 Abs. 1 trifft jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union im Sinne von Art. 1 Abs. 1 des Übereinkommens, einschließlich des Mehrwertsteuerbetrugs (Urteil vom , Taricco u. a., , EU:C:2015:555, Rn. 41), mit strafrechtlichen Sanktionen geahndet werden, die zumindest in den schweren Betrugsfällen, d. h. in Fällen, die einen von den Mitgliedstaaten auf nicht über 50 000 Euro festzusetzenden Mindestbetrag zum Gegenstand haben, auch Freiheitsstrafen umfassen, die zu einer Auslieferung führen können.
37 Jedoch ist festzustellen, dass es für eine Nichtabführung der Mehrwertsteuer wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende kennzeichnend ist, dass der Steuerpflichtige, nachdem er wie in Art. 250 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehen für das betreffende Steuerjahr eine vollständige und ordnungsgemäße Umsatzsteuererklärung abgegeben hat, die gemäß dieser Erklärung geschuldete Mehrwertsteuer entgegen Art. 206 der Richtlinie nicht innerhalb der gesetzlich festgelegten Fristen an die öffentliche Hand abführt.
38 Nach Auffassung aller Beteiligten, die beim Gerichtshof Erklärungen eingereicht haben, stellt – soweit der Steuerpflichtige seinen Erklärungspflichten auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer nachgekommen ist – eine solche Nichtabführung der Mehrwertsteuer unabhängig davon, ob diese Unterlassung vorsätzlich erfolgt oder nicht, keinen „Betrug” im Sinne von Art. 325 AEUV dar.
39 Auch im Sinne des PIF-Übereinkommens stellt eine Nichtabführung der Mehrwertsteuer, für die eine Steuererklärung abgegeben wurde, keinen „Betrug” dar. Gemäß Art. 1 Abs. 1 Buchst. b des PIF-Übereinkommens umfasst der Tatbestand des „Betrugs” zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union nämlich das „Verschweigen einer Information unter Verletzung einer spezifischen Pflicht” oder die „Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen”. Wie sich jedoch aus Rn. 37 des vorliegenden Urteils ergibt, geht es vorliegend nicht um einen Verstoß gegen Erklärungspflichten. Außerdem zielt diese Vorschrift zwar auch auf die „missbräuchliche Verwendung eines rechtmäßig erlangten Vorteils” ab, doch ist mit der deutschen Regierung festzustellen, dass der Steuerpflichtige durch die Tatsache, dass die Mehrwertsteuer, für die bereits eine Erklärung abgegeben wurde, nicht innerhalb der gesetzlich festgelegten Fristen abgeführt wird, keinen Vorteil erlangt, da er die Steuer weiterhin schuldet und durch die Nichtabführung den Schritt in die Rechtswidrigkeit geht.
40 Folglich sind auf die Nichtabführung von Mehrwertsteuer, für die bereits eine Erklärung abgegeben wurde, weder die Auslegung des Gerichtshofs zu Art. 325 Abs. 1 AEUV zum Mehrwertsteuerbetrug noch das PIF-Übereinkommen anwendbar. Somit kommt es auf den in Art. 2 Abs. 1 des Übereinkommens vorgesehenen Betrag von 50 000 Euro in einem solchen Fall nicht an.
41 Überdies sind solche Fälle der Nichtabführung von Mehrwertsteuer, für die bereits eine Erklärung abgegeben wurde, nicht so schwerwiegend wie die Fälle von Mehrwertsteuerbetrug.
42 Ist der Steuerpflichtige seinen Erklärungspflichten ordnungsgemäß nachgekommen, verfügt die Finanzverwaltung bereits über alle für die Festsetzung der geschuldeten Mehrwertsteuer und die Feststellung ihrer etwaigen Nichtabführung erforderlichen Angaben.
43 Folglich sind strafrechtliche Sanktionen, auch wenn sie – wie in Rn. 35 des vorliegenden Urteils ausgeführt – unerlässlich sein können, um bestimmte Fälle des Mehrwertsteuerbetrugs wirksam und abschreckend zu bekämpfen, für die Bekämpfung der Nichtabführung der Mehrwertsteuer, für die bereits eine Erklärung abgegeben wurde, nicht in gleicher Höhe unerlässlich.
44 Dennoch stellen diese Fälle der Nichtabführung „rechtswidrige Handlungen” dar, durch die die finanziellen Interessen der Union im Sinne von Art. 325 Abs. 1 AEUV beeinträchtigt werden und auf die daher effektive und abschreckende Sanktionen anzuwenden sind; dies gilt insbesondere, wenn der Steuerpflichtige die den nicht abgeführten Beträgen entsprechenden Mittel zulasten der Staatskasse für seine eigenen Belange verwendet.
45 Diese Auslegung kann nicht durch das Vorbringen der deutschen und der niederländischen Regierung in Frage gestellt werden, wonach sich die Wendung „sonstige … rechtswidrige Handlungen” in Art. 325 Abs. 1 AEUV lediglich auf nach Art und Schwere betrugsähnliche Handlungen beziehe. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 68 und 69 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, werden mit den Worten „rechtswidrige Handlung” für gewöhnlich mit dem Gesetz unvereinbare Verhaltensweisen bezeichnet und die Verwendung des Adjektivs „jede” weist darauf hin, dass damit unterschiedslos alle Handlungen erfasst werden. Im Übrigen kann im Hinblick auf die Bedeutung, die dem Schutz der finanziellen Interessen der Union, einem ihrer Ziele (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Kommission/Rat, , EU:C:1999:559, Rn. 29), beizumessen ist, der Begriff „rechtswidrige Handlung” nicht eng ausgelegt werden.
46 Außerdem muss gemäß der in Rn. 28 des vorliegenden Urteils angeführten ständigen Rechtsprechung jeder Verstoß gegen das Unionsrecht, einschließlich solcher gegen die harmonisierten Vorschriften auf dem Gebiet des Mehrwertsteuerrechts, mit wirksamen, abschreckenden und verhältnismäßigen Sanktionen bewehrt sein.
47 Im vorliegenden Fall können, wie von allen Beteiligten vorgetragen wurde, die beim Gerichtshof Erklärungen eingereicht haben, Sanktionen wie die in Art. 13 Abs. 1 des Gesetzesdekrets Nr. 471/97 vorgesehenen angesichts des Ermessensspielraums der Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet als hinreichend effektiv und abschreckend angesehen werden.
48 Diese Sanktionen bestehen in Geldbußen, deren Höhe sich grundsätzlich auf 30 % der geschuldeten Steuer beläuft, wobei dem Steuerpflichtigen jedoch eine Herabsetzung dieser Geldbußen zugutekommen kann, die sich danach richtet, binnen welcher Frist er seinen Verpflichtungen nachkommt. Außerdem erhebt die Finanzverwaltung Verzugszinsen.
49 Berücksichtigt man ihren hohen Schweregrad (Urteil vom , Menci, , EU:C:2018:197, Rn. 33), können solche Geldbußen die Steuerpflichtigen veranlassen, von jeglicher verspäteten Zahlung oder Nichtabführung der Mehrwertsteuer abzusehen; sie haben somit abschreckende Wirkung. Im Übrigen werden die säumigen Steuerpflichtigen durch diese Geldbußen in Verbindung mit dem Mechanismus der Herabsetzung und den Verzugszinsen veranlasst, die geschuldete Steuer so rasch wie möglich zu entrichten, so dass diese Maßnahmen grundsätzlich als wirksam angesehen werden können (vgl. entsprechend Urteil vom , Rodopi-M 91, , EU:C:2013:414, Rn. 40).
50 Schließlich wird die in Rn. 47 des vorliegenden Urteils dargestellte Auslegung nicht dadurch in Frage gestellt, dass in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, bei der der Steuerpflichtige eine juristische Person ist, diese Sanktionen auf diese und nicht auf ihre Geschäftsführer angewandt werden.
51 Die Bestimmung der Adressaten solcher Sanktionen fällt nämlich auch hier unter die verfahrensrechtliche und institutionelle Autonomie der Mitgliedstaaten. Diesen steht es also frei, die Anwendung der Sanktionen auf den Steuerpflichtigen selbst oder, wenn es sich bei diesem um eine juristische Person handelt, auf deren Geschäftsführer oder aber sowohl auf den einen als auch auf den anderen anzuwenden, solange dadurch die wirksame Bekämpfung des in Rede stehenden Verstoßes gegen das Unionsrecht nicht gefährdet wird. Bei der Nichtabführung von Mehrwertsteuer, für die bereits eine Erklärung abgegeben wurde, verlieren Sanktionen wie die in Rn. 48 des vorliegenden Urteils dargestellten, wenn sie ausschließlich gegen die steuerpflichtige juristische Person verhängt werden, im Hinblick auf die Folgen, die sie für deren Vermögen und somit für deren wirtschaftliche Tätigkeit haben können, ersichtlich nicht ihre Wirksamkeit oder ihre abschreckende Wirkung.
52 Nach alledem ist festzustellen, dass der Grundsatz der Effektivität einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegensteht, nach der die Nichtabführung der gemäß der Jahressteuererklärung für ein bestimmtes Steuerjahr geschuldeten Mehrwertsteuer innerhalb der gesetzlich festgelegten Fristen nur dann eine mit einer Freiheitsstrafe bewehrte Straftat darstellt, wenn die Höhe der nicht entrichteten Mehrwertsteuer einen Schwellenwert von 250 000 Euro für die Strafbarkeit übersteigt.
Zum Äquivalenzgrundsatz
53 Wie aus den Rn. 25 bis 29 des vorliegenden Urteils hervorgeht, ist die Wahlfreiheit, über die die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer verfahrensrechtlichen und institutionellen Autonomie verfügen, um Verstöße gegen das Unionsrecht zu ahnden, durch ihre Verpflichtung beschränkt, diese Sanktionen so auszugestalten, dass sie den sachlichen und verfahrensrechtlichen Bedingungen entsprechen, die für nach Art und Schwere gleichartige Verstöße gegen das nationale Recht gelten.
54 Im vorliegenden Fall sieht die italienische Regelung vor, dass die Nichtabführung von an der Quelle einbehaltener Einkommensteuer ebenso wie die Nichtabführung von Mehrwertsteuer, für die bereits eine Erklärung abgegeben wurde, eine mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren bewehrte Straftat darstellt, sofern der nicht abgeführte Betrag einen bestimmten Schwellenwert für die Strafbarkeit übersteigt. Seit dem Inkrafttreten von Art. 10ter des Gesetzesdekrets Nr. 74/2000 in der durch das Gesetzesdekret Nr. 158/2015 geänderten Fassung beträgt dieser Schwellenwert für die Nichtabführung der Mehrwertsteuer 250 000 Euro, während er gemäß Art. 10bis des Gesetzesdekrets Nr. 74/2000 in der durch das Gesetzesdekret Nr. 158/2015 geänderten Fassung bei der Nichtabführung von an der Quelle einbehaltener Einkommensteuer nur 150 000 Euro beträgt.
55 Um zu beurteilen, ob ein Unterschied wie der zwischen den in den Art. 10bis und 10ter des Gesetzesdekrets Nr. 74/2000 in der durch das Gesetzesdekret Nr. 158/2015 geänderten Fassung festgelegten Schwellenwerten mit dem Grundsatz der Äquivalenz vereinbar ist, ist gemäß den in Rn. 53 des vorliegenden Urteils ausgeführten Erwägungen zu bestimmen, ob die Nichtabführung von an der Quelle einbehaltener Einkommensteuer als ein nach Art und Schwere gleichartiger Verstoß gegen das nationale Recht anzusehen ist wie die Nichtabführung von Mehrwertsteuer, für die bereits eine Erklärung abgegeben wurde.
56 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass für die Nichtabführung sowohl von Mehrwertsteuer als auch von an der Quelle einbehaltener Einkommensteuer zwar gleichermaßen kennzeichnend ist, dass die Verpflichtung, die erklärte Steuer innerhalb der gesetzlich festgelegten Fristen abzuführen, nicht eingehalten wurde. Aus dem Vorlagebeschluss geht auch hervor, dass der italienische Gesetzgeber dadurch, dass er diese Verhaltensweisen unter Strafe gestellt hat, jeweils denselben Zweck verfolgt hat, nämlich sicherzustellen, dass die Steuer fristgerecht in die Staatskasse fließt und damit die Integrität der Steuereinnahmen gewahrt wird.
57 Wie aber im vorliegenden Fall die italienische Regierung geltend macht, unterscheiden sich die in den Art. 10bis und 10ter des Gesetzesdekrets Nr. 74/2000 in der durch das Gesetzesdekret Nr. 158/2015 geänderten Fassung vorgesehenen und sanktionierten Straftaten sowohl in Bezug auf ihre Tatbestandsmerkmale als auch hinsichtlich der Schwierigkeit ihrer Aufdeckung.
58 Während der zweite Verstoß sich auf das Verhalten von Mehrwertsteuerpflichtigen bezieht, geht es beim ersten Verstoß nicht um das Verhalten von Einkommensteuerpflichtigen, sondern um das Verhalten einer Zahlstelle, die verpflichtet ist, die entsprechend einbehaltene Quellensteuer abzuführen. Außerdem geht aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten hervor, dass eine Zahlstelle nach dem italienischen Steuerrecht bei der Einbehaltung der Quellensteuer von Steuerpflichtigen diesen ein als „Bescheinigung” bezeichnetes Dokument ausstellt, anhand dessen die Steuerpflichtigen gegenüber der Finanzverwaltung selbst dann belegen können, dass die Quellensteuer einbehalten wurde und dass sie somit die geschuldete Steuer gezahlt haben, wenn die Zahlstelle diese Quellensteuer nachher nicht an die Staatskasse abführt. Unter diesen Umständen kann die Nichtabführung der einbehaltenen Quellensteuer durch die Zahlstelle an die Finanzverwaltung aufgrund der Ausstellung dieser Bescheinigung schwieriger aufzudecken sein als die Nichtabführung von Mehrwertsteuer, für die bereits eine Erklärung abgegeben wurde.
59 Aufgrund dessen kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese beiden Verstöße im Sinne der in Rn. 28 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung nach Art und Schwere gleichartig sind. Unterscheiden sich zwei Arten von Verstößen durch verschiedene Umstände, die sowohl die Tatbestandsmerkmale des Verstoßes als auch seine mehr oder weniger leichte Aufdeckung betreffen, so bringen es diese Unterschiede namentlich mit sich, dass der betreffende Mitgliedstaat nicht verpflichtet ist, beide Kategorien von Verstößen ein und derselben Regelung zu unterwerfen (Urteil vom , Drexl, 299/86, EU:C:1988:103, Rn. 22).
60 Folglich steht der Äquivalenzgrundsatz einem Unterschied wie dem zwischen den in Art. 10bis bzw. in Art. 10ter des Gesetzesdekrets Nr. 74/2000 in der durch das Gesetzesdekret Nr. 158/2015 geänderten Fassung festgelegten Schwellenwerten nicht entgegen.
61 Nach alledem ist auf die erste und die dritte Frage zu antworten, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 325 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der die Nichtabführung der gemäß der Jahressteuererklärung für ein bestimmtes Steuerjahr geschuldeten Mehrwertsteuer innerhalb der gesetzlich festgelegten Fristen nur dann eine mit einer Freiheitsstrafe bewehrte Straftat darstellt, wenn die Höhe der nicht entrichteten Mehrwertsteuer einen Schwellenwert von 250 000 Euro für die Strafbarkeit übersteigt, während für die Strafbarkeit der Nichtabführung von an der Quelle einbehaltener Einkommensteuer ein Schwellenwert von 150 000 Euro vorgesehen ist.
Zur zweiten Frage
62 Angesichts der Antwort auf die erste und die dritte Frage braucht die zweite Frage nicht mehr beantwortet zu werden.
Kosten
63 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 325 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der die Nichtabführung der gemäß der Jahressteuererklärung für ein bestimmtes Steuerjahr geschuldeten Mehrwertsteuer innerhalb der gesetzlich festgelegten Fristen nur dann eine mit einer Freiheitsstrafe bewehrte Straftat darstellt, wenn die Höhe der nicht entrichteten Mehrwertsteuer einen Schwellenwert von 250 000 Euro für die Strafbarkeit übersteigt, während für die Strafbarkeit der Nichtabführung von an der Quelle einbehaltener Einkommensteuer ein Schwellenwert von 150 000 Euro vorgesehen ist.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2018:295
Fundstelle(n):
IAAAG-83802