Steuerhinterziehung: Unzureichender Zeitraum für die Durchführung des Selbstleseverfahrens
Gesetze: § 249 Abs 2 S 3 StPO, § 344 Abs 2 S 2 StPO
Instanzenzug: LG München I Az: 6 KLs 309 Js 130041/16
Tenor
Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts München I vom werden als unbegründet verworfen (§ 349 Abs. 2 StPO).
Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Ergänzend bemerkt der Senat zu einer Rüge des Angeklagten W. , mit der dieser die Art und Weise der Durchführung des Selbstleseverfahrens beanstandet:
1. Mit der auf die Verletzung von § 249 Abs. 2 StPO gerichteten Verfahrensrüge macht dieser Angeklagte geltend, den an der Entscheidungsfindung beteiligten Schöffinnen sei wegen der Anzahl der vom Selbstleseverfahren erfassten Urkunden und dem für die Lektüre zur Verfügung stehenden Zeitraum ein „letztlich unmögliches Selbststudium“ auferlegt worden. Der Beanstandung liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
Am , dem ersten Hauptverhandlungstag, verfügte die Vorsitzende die Durchführung des Selbstleseverfahrens hinsichtlich einer Vielzahl von der Revision durch Einrücken der Selbstleseliste näher bezeichneter Urkunden. Erklärungen zu dieser Verfügung wurden nicht abgegeben. Am zweiten Hauptverhandlungstag, dem , erging eine weitere Selbstleseverfügung der Vorsitzenden. Die davon betroffenen Urkunden hat die Revision ebenfalls durch Einrücken der diesbezüglichen Selbstleseliste bezeichnet.
Im Anschluss an die zweite Selbstleseverfügung widersprach dieser der Verteidiger des Angeklagten und beantragte gemäß § 238 Abs. 2 StPO eine gerichtliche Entscheidung. Dem lag das Vorbringen zugrunde, „nach dem derzeitigen Stand“ müssten etwa 12.000 Blatt selbst gelesen werden. Unter Berücksichtigung des insbesondere für die Schöffinnen für das Lesen zur Verfügung stehenden Zeitraums sei ein solches Selbstleseverfahren letztlich unmöglich. Am , dem vierten Hauptverhandlungstag, beschloss die Strafkammer den Umfang der ersten Selbstleseverfügung vom um näher bezeichnete Teile zu reduzieren. Im Übrigen wurden mit ausführlicher Begründung die Selbstleseverfügungen der Vorsitzenden bestätigt. Am , dem zehnten Hauptverhandlungstag, wurde festgestellt, dass „das Gericht und die Schöffen“ vom Wortlaut der von den Selbstleseverfügungen - bezüglich derjenigen vom im nachträglich durch den genannten Gerichtsbeschluss reduzierten Umfang - erfassten Urkunden und Schriftstücken Kenntnis genommen haben.
2. Die Rüge dringt im Ergebnis nicht durch.
a) Der Senat versteht ihre Angriffsrichtung dahin, dass im Hinblick auf die Anzahl vom Selbstleseverfahren erfasster Urkunden und Schriftstücke jedenfalls für die beteiligten Laienrichterinnen kein ausreichender Zeitraum zur Verfügung stand, um vom Inhalt Kenntnis zu nehmen. Damit wird die Art und Weise der Durchführung des Selbstleseverfahrens beanstandet (vgl. LR/Mosbacher, 26. Aufl., StPO, § 249 Rn. 105; SK-StPO/Frister, 5. Aufl., § 249 Rn. 117b). Die für die Zulässigkeit einer darauf gerichteten Rüge erforderliche gerichtliche Entscheidung gemäß § 238 Abs. 2 StPO (, NStZ 2011, 300, 301) ist herbeigeführt worden.
Es bedarf vorliegend keiner Entscheidung, ob eine derartige Rüge überhaupt zulässig erhoben werden kann, weil sie notwendig die Behauptung impliziert, dass die protokollierte Feststellung, Richter und Schöffen haben vom Inhalt der betroffenen Urkunden Kenntnis genommen, inhaltlich unrichtig ist (vgl. zu diesem Aspekt , NStZ 2012, 584, 585). Zwar wird durch den entsprechenden Passus in der Niederschrift lediglich die Protokollierung der Feststellung als solche, nicht aber bewiesen, dass tatsächlich gelesen worden ist (, NStZ-RR 2011, 20 f.; SK-StPO/Frister aaO § 249 Rn. 117b mwN). Ungeachtet dessen geht mit dem Vorwurf eines verfahrensfehlerhaft unangemessen kurzen Zeitraums für das Selbstleseverfahren (dazu näher LR/Mosbacher aaO § 249 Rn. 79 f.) die Behauptung einher, wegen der nicht ausreichenden Zeit sei auch tatsächlich nicht alles gelesen worden, was Gegenstand des Selbstleseverfahrens war. Deshalb bedarf es bei einer den unzureichenden Zeitraum des Selbstleseverfahrens beanstandenden Rüge Vortrags zu den konkreten tatsächlichen Umständen, aus denen sich das Unterbleiben der Selbstlesung oder die nicht ausreichende Zeit dafür ergeben kann (LR/Mosbacher aaO § 249 Rn. 111; SK-StPO/Frister aaO § 249 Rn. 117b und Rn. 118 jeweils mwN; vgl. auch , NStZ-RR 2011, 20, 21). Ob die Revision vor diesem Hintergrund den aus § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO resultierenden Anforderungen genügt, kann dahinstehen. Die pauschalen Angaben über den regelmäßigen Umfang des Inhalts von Leitzordnern und der sich daraus ergebenden Blattzahl reichen dafür jedenfalls nicht. Immerhin ermöglicht das Einrücken der Selbstleselisten, die Angaben zu den Blattzahlen der erfassten Schriftstücke enthalten, dem Senat, die Gesamtblattzahl grob selbst zu berechnen.
b) Die Beanstandung erzielt jedenfalls in der Sache keinen Erfolg. Der für das Selbstlesen den Schöffinnen zur Verfügung stehende Zeitraum selbst zwischen der zweiten Selbstleseverfügung am und dem Abschluss des Verfahrens am bei sieben dazwischen liegenden Verhandlungstagen eröffnet erst recht unter Berücksichtigung der Reduktion des Umfangs des ersten Selbstleseverfahrens am einen ausreichend langen Zeitraum, um die betroffenen Schriftstücke und Urkunden zu lesen. Ausweislich der von der Revision vorgelegten Selbstleselisten handelt es sich bei zahlreichen der Schriftstücke um listenmäßige Aufstellungen, auf die sich die von der Revision geltend gemachten durchschnittlichen Zeiten für das Erfassen einer Seite nicht ohne Weiteres übertragen lassen. In der Person der beiden Schöffinnen liegende konkrete tatsächliche Umstände, die dem Lesen der beiden Selbstlesekonvolute in dem genannten Gesamtzeitraum entgegengestanden haben könnten, teilt die Revision nicht mit.
Daher fehlt es an Anknüpfungstatsachen, die die Angemessenheit der Dauer des Selbstleseverfahrens in Frage stellen. Angesichts dessen war der Senat nicht veranlasst, freibeweislich zu klären, ob die protokollierte Feststellung über das erfolgte Lesen durch die Schöffinnen materiell zu Unrecht erfolgt ist.
Raum
Jäger
Radtke
Bär
Hohoff
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2017:091117B1STR554.16.0
Fundstelle(n):
AO-StB 2018 S. 282 Nr. 9
wistra 2018 S. 177 Nr. 4
NAAAG-81035