BVerwG Urteil v. - 3 C 3/16

Voraussetzungen für die hypothetische Einbeziehung politisch Verfolgter in ein Zusatzversorgungssystem der DDR

Leitsatz

In der DDR politisch Verfolgte können die Feststellung ihrer hypothetischen Zugehörigkeit zu einem Zusatzversorgungssystem der DDR (hier: AVItech) nach § 22 Abs. 1 Nr. 6 Buchst. c BerRehaG nicht aufgrund einer fingierten Versorgungsanwartschaft nach § 1 AAÜG beanspruchen, wenn sie vor dem nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts maßgeblichen Stichtag () aus der DDR ausgereist sind.

Gesetze: § 13 Abs 3 BerRehaG, § 22 Abs 1 Nr 6 Buchst c BerRehaG, § 1 Abs 1 AAÜG

Instanzenzug: Az: 11 K 4205/13 Urteil

Tatbestand

1Der Kläger begehrt im Wege der beruflichen Rehabilitierung die Anerkennung einer Zugehörigkeit zum Zusatzversorgungssystem der technischen Intelligenz der DDR (AVItech).

2Der Kläger war bis zum als Diplom-Ingenieur beim VEB H. Frankfurt/Oder beschäftigt. Dieses Beschäftigungsverhältnis musste er nach der Stellung eines Ausreiseantrags kündigen. Bis zu seiner Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland am war er als Hausmeister tätig. In der Bundesrepublik wurde er mit Rehabilitierungsbescheid vom als Verfolgter im Sinne des Beruflichen Rehabilitierungsgesetzes anerkannt. Für die festgesetzte Verfolgungszeit ( bis ) wird er in der Rentenversicherung der Angestellten als Diplom-Ingenieur, Qualifikationsgruppe 1 (Hochschulabsolventen) im Bereich 7 (Elektrotechnik/Elektronik/Gerätebau) geführt.

3Am beantragte der Kläger unter Berufung auf Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz zusätzlich die Feststellung seiner Zugehörigkeit zum Zusatzversorgungssystem der technischen Intelligenz für die Verfolgungszeit. Der Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom ab. Der Kläger begehre ein Wiederaufgreifen des Rehabilitierungsverfahrens, für das Gründe nach § 51 Abs. 1 VwVfG nicht vorlägen. Belege für eine Zugehörigkeit zu einem Zusatzversorgungssystem habe er nicht vorgelegt. Die zitierte Rechtsprechung des ) zum Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz sei nicht einschlägig. Die Voraussetzungen der vom Bundessozialgericht entwickelten so genannten fingierten Versorgungszusage seien nicht erfüllt.

4Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit dem Antrag, die Rehabilitierungsbescheinigung unter Wiederaufgreifen des Verfahrens um die Feststellung zu ergänzen, dass der Kläger für den Zeitraum vom bis fiktiv in das Zusatzversorgungssystem der technischen Intelligenz einzubeziehen sei, mit Urteil vom abgewiesen. Der Kläger sei zu keinem Zeitpunkt tatsächlich in das Zusatzversorgungssystem einbezogen worden. Er habe nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts auch keinen Anspruch auf eine fiktive Einbeziehung, das Rehabilitierungsrecht gebe keine weitergehenden Ansprüche.

5Mit der vom Bundesverwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, er habe in der DDR eine Beschäftigung ausgeübt, die vom Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz erfasst werde. Auf die tatsächliche Ausübung dieser Beschäftigung (auch) am komme es nicht an, denn sie werde durch das Berufliche Rehabilitierungsgesetz als kausale Folge seiner politischen Verfolgung fingiert. Die Bestandskraft der Rehabilitierungsbescheinigung stehe der Feststellung seiner Zugehörigkeit nicht entgegen, weil die Bescheinigung keine Entscheidung über seine Zugehörigkeit zu einem Zusatz- oder Sonderversorgungssystem enthalte. Dass sich die einschlägige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu seinen Gunsten geändert habe, habe er erst nach Erlass der Rehabilitierungsbescheinigung im Juli 2009 erfahren.

6Der Kläger beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Potsdam vom zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom zu verpflichten, das Verfahren wiederaufzugreifen und die Rehabilitierungsbescheinigung des Beklagten vom um die Feststellung der Zugehörigkeit des Klägers zum Zusatzversorgungssystem der technischen Intelligenz der DDR für den Zeitraum vom bis zu ergänzen.

7Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

8Er verteidigt das klageabweisende Urteil. Die Zugehörigkeit zum Zusatzversorgungssystem werde im Falle des Klägers nicht fingiert, weil er keine Versorgungszusage gehabt habe und auch ohne die Verfolgung nicht in ein Zusatzversorgungssystem übernommen worden wäre. Am maßgeblichen Stichtag seien nicht alle Tatbestandsvoraussetzungen der Versorgungsordnung erfüllt gewesen.

9Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich am Verfahren und unterstützt das Vorbringen des Beklagten. Die vom Bundessozialgericht gestellten Anforderungen an die Anwendbarkeit des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes bei fehlender Versorgungszusage seien beim Kläger nicht gegeben, weil dieser die versorgungsberechtigte Beschäftigung bereits vor dem Stichtag nicht mehr ausgeübt habe. Die fehlende Voraussetzung werde auch nicht durch das Berufliche Rehabilitierungsgesetz ersetzt. Dazu sei eine Bescheinigung erforderlich, in der gemäß § 22 Abs. 1 Nr. 6 Buchst. c BerRehaG die tatsächliche oder ohne die Verfolgung gegebene Zugehörigkeit zu einem Zusatz- oder Sonderversorgungssystem für die festgestellten Verfolgungszeiten nach § 2 BerRehaG enthalten sei. Eine fiktive Einbeziehung setze voraus, dass dem Kläger in der DDR zum Stichtag ein Anspruch auf Einbeziehung zugestanden habe, der ihm verfolgungsbedingt verwehrt worden sei. Dies sei wegen der Übersiedlung des Klägers vor dem Stichtag nicht der Fall gewesen. Das Gesetz verschaffe aber keinen nachträglichen Zugang zu einem Zusatzversorgungssystem, das den Beschäftigten unabhängig von einer politischen Verfolgung aufgrund der restriktiven Einbeziehungspraxis der DDR vorenthalten worden sei. Es diene nicht dem Ausgleich systembedingter beruflicher Benachteiligungen in der DDR.

Gründe

10Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat im Ergebnis ohne Bundesrechtsverstoß entschieden, dass der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung einer Zugehörigkeit zu dem Zusatzversorgungssystem AVItech hat.

111. Nach § 17 i.V.m. § 22 Abs. 1 Nr. 6 Buchst. c BerRehaG hat die Rehabilitierungsbescheinigung Angaben zu enthalten "über die tatsächliche oder ohne die Verfolgung gegebene Zugehörigkeit [des Verfolgten] zu einem zu benennenden Zusatz- oder Sonderversorgungssystem". Dieser Vorschrift sind zugleich - über § 1 BerRehaG hinausgehend - die Voraussetzungen für die Aufnahme der entsprechenden Zugehörigkeitsfeststellung zu entnehmen.

12a) Der Kläger war zu keinem Zeitpunkt tatsächlich in das Zusatzversorgungssystem AVItech einbezogen. Ob die Einbeziehung erfolgt war, richtet sich nach dem Rentenrecht der DDR. Die Einbeziehung in das AVItech richtete sich nach der Verordnung über die zusätzliche Altersversorgung der technischen Intelligenz in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben - VO-AVItech - vom (GBl. DDR S. 844) und der hierzu erlassenen Zweiten Durchführungsbestimmung - 2. DB - vom (GBl. DDR S. 487). Danach wurden Versorgungsberechtigte aus dem Kreis der technischen Intelligenz entweder auf Grund eines Einzelvertrags (§ 1 Abs. 3 der 2. DB) oder durch eine Versorgungszusage (§ 3 Abs. 5 der 2. DB) in die AVItech einbezogen (vgl. - juris Rn. 17 m.w.N.).

13Der Kläger ist nicht in dieser Weise einbezogen worden. Das hat das Verwaltungsgericht verbindlich festgestellt (§ 137 Abs. 2 VwGO) und ist zwischen den Beteiligten nicht streitig. Damit erübrigt sich die Prüfung, ob er wegen einer Verfolgungsmaßnahme aus diesem Zusatzversorgungssystem ausgeschieden ist, die Zugehörigkeitsfeststellung mithin auf den Verfolgungszeitraum erstreckt werden muss (vgl. § 13 Abs. 3 Satz 1 BerRehaG).

14b) Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger ohne die Verfolgung zu einem bestimmten Zeitpunkt in das AVItech einbezogen worden wäre. Wie die Formulierung des § 22 Abs. 1 Nr. 6 Buchst. c BerRehaG zeigt, ist der Begriff der Zugehörigkeit zu einem Versorgungssystem weit zu verstehen. Die Zugehörigkeit kann daher auch für Verfolgungszeiten festgestellt werden, in denen ein Einbezogener verfolgungsbedingt aus einem Versorgungssystem wieder ausgeschieden ist (vgl. § 13 Abs. 3 Satz 1 BerRehaG) oder ein Verfolgter wegen einer Verfolgungsmaßnahme nicht in ein Versorgungssystem einbezogen war (ebenso Diel, in: Hauck/Noftz, SGB VI, Band 4, § 259b Rn. 163 ff.). Zu der Feststellung der Zugehörigkeit bedarf es nach den Grundsätzen, die der Senat zu § 1 Abs. 1 BerRehaG entwickelt hat, jedoch einer bereits hinreichend verfestigten Aussicht auf Einbeziehung (Anwartschaft), die ihrem Inhaber durch eine Maßnahme nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 BerRehaG wieder genommen worden ist (vgl. 3 C 12.14 [ECLI:DE:BVerwG:2015:280515U3C12.14.0] - Buchholz 428.8 § 1 BerRehaG Nr. 6 Rn. 10).

15Eine derartige Aussicht auf künftige Zugehörigkeit zur AVItech hatte der Kläger bei Einsetzen der Verfolgung am nicht. Dafür hat er selbst nichts geltend gemacht. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht festgestellt, dass in der DDR nur 3 % der Ingenieure, nämlich die Spitzenleistungsträger der technischen Entwicklung, eine Versorgungszusage erhalten haben. Zu diesem Kreis gehörte der Kläger nicht.

162. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung entsprechend den Regelungen des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes (AAÜG).

17a) Das Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz dient der Überführung von Ansprüchen und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen im Beitrittsgebiet in die bundesdeutsche Rentenversicherung (vgl. § 1 Abs. 1 AAÜG). Diese Regelungen können dem Begehren des Klägers nicht zum Erfolg verhelfen, soweit sie tatsächlich erworbene Ansprüche oder Anwartschaften voraussetzen. Solche standen dem Kläger, wie bereits gezeigt, nach den tatsächlichen Verhältnissen in der DDR nicht zu.

18b) Allerdings ist der bundesrechtliche Begriff der Zugehörigkeit im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 AAÜG nach den Zielsetzungen dieses Gesetzes in einem weiten Sinne zu verstehen. Er geht über die - nur durch DDR-Akt mögliche - Einbeziehung in ein Versorgungssystem hinaus. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (dazu Berchtold, SGb 2018, 7 <9 ff.>) können Versorgungsanwartschaften auch dann als durch "Zugehörigkeit" im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 AAÜG erworben angesehen werden, wenn aufgrund der am bestehenden Sachlage nach der am (Inkrafttreten des AAÜG) gegebenen bundesrechtlichen Rechtslage ein Anspruch auf Versorgungszusage bestanden hätte ( - juris Rn. 22 m.w.N.).

19c) Auf die Rechtsprechung zu dieser so genannten fingierten Versorgungsanwartschaft kann sich der Kläger im Zusammenhang mit § 22 Abs. 1 Nr. 6 Buchst. c BerRehaG nicht mit Erfolg berufen. Am Stichtag , den das Bundesverfassungsgericht als willkürfrei gebilligt hat ( u.a. [ECLI:DE:BVerfG:2005:rk20051026.1bvr192104] - NVwZ 2006, 449 <450 f.>), hielt sich der Kläger nicht mehr in der DDR auf. Hierüber hinwegzusehen, weil sich der Kläger mit der Ausreise politischer Verfolgung entzogen hat, bietet das Berufliche Rehabilitierungsgesetz keine Grundlage. Zwar spricht manches dafür, den Begriff der "Zugehörigkeit" zu einem Versorgungssystem im Beruflichen Rehabilitierungsgesetz genau so zu verstehen wie im Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz. Die Parallelität der Begriffe wird jedoch begrenzt durch die unterschiedlichen Zielrichtungen der Gesetze. Das Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz ist Teil einer bundesdeutschen Regelung zur Rentenüberleitung: Die von der DDR geregelten Versorgungsansprüche und -anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen, die mit dem Untergang der DDR erloschen waren, werden neu begründet und in das bundesdeutsche Rentensystem überführt. Dazu werden die ehemaligen Ansprüche und Anwartschaften nach einem eigenen bundesrechtlichen Maßstab anerkannt, der nur partiell an Gegebenheiten in der DDR anknüpft (vgl. - SozR 3-8570 § 5 AAÜG Nr. 6 und Berchtold, SGb 2018, 7 ff.). Demgegenüber bezweckt das Berufliche Rehabilitierungsgesetz, in der DDR erlittene verfolgungsbedingte Nachteile auszugleichen (vgl. § 1 Abs. 1 BerRehaG). Dazu werden Leistungen in der Rentenversicherung erbracht, und zwar in Ergänzung der allgemein anzuwendenden rentenrechtlichen Vorschriften (§ 10 Satz 1 BerRehaG), zu denen auch das Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz gehört (vgl. Gesetzentwurf eines Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes, BT-Drucks 12/4994 S. 47 <zu § 9>). Ein verfolgungsbedingter Nachteil in der Rentenversicherung liegt nur vor, wenn eine Nachzeichnung der beruflichen Tätigkeit des Verfolgten ausgehend von den rentenrechtlichen Regelungen der DDR und ihrer tatsächlichen Handhabung ergibt, dass er ohne die Verfolgung weitergehende Versorgungsanwartschaften im Rentensystem der DDR erworben hätte, als er tatsächlich erworben hat.

20Danach hat der Kläger keinen verfolgungsbedingten Nachteil im Rentensystem der DDR erlitten. Der Kläger wäre - wie dargelegt - auch ohne die Verfolgung von den Stellen der DDR nicht in das Zusatzversorgungssystem der technischen Intelligenz einbezogen worden. Der geltend gemachte Nachteil ergibt sich daraus, dass ihm die auf das Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz und damit bundesdeutsches Rentenrecht gestützte Anerkennung einer nur fingierten Zugehörigkeit zu einem Zusatzversorgungssystem in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts wegen der Stichtagsregelung nicht zugutekommt. Dieser Nachteil geht nicht auf eine Verfolgungsmaßnahme in der DDR zurück, sondern auf die Ausgestaltung des bundesdeutschen Überleitungsrechts. Eine erweiternde Auslegung des § 22 Abs. 1 Nr. 6 Buchst. c BerRehaG widerspräche dem - wie dargelegt - begrenzten Zweck der beruflichen Rehabilitierung.

21Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2018:250118U3C3.16.0

Fundstelle(n):
WAAAG-80650