BFH Urteil v. - VIII R 68/00

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

Streitig ist, ob dem Kläger und Revisionskläger (Kläger) für seinen Sohn S rückwirkend Kindergeld zu zahlen ist. Der Kläger beantragte am bei der Familienkasse des Arbeitsamts B die Festsetzung des Kindergelds für seinen Sohn S (geb. am ... September 1978) für den Zeitraum Januar 1996 bis September 1996. Nach der Ausbildungsbescheinigung vom befand sich der Sohn ab bis in Berufsausbildung zum Industriemechaniker in B. Die monatliche Ausbildungsvergütung lt. Ausbildungsbescheinigung betrug ab : 970 DM, ab : 1 057 DM und ab : 1 175 DM. Bis einschließlich September 1994 hatte die Ehefrau des Klägers das Kindergeld für den Sohn S bezogen. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Beklagter) lehnte den Antrag mit Bescheid vom ab, da bei einer Antragstellung nach dem rückwirkend längstens ab Juli 1997 Kindergeld gezahlt werden könne (§ 52 Abs. 32 b des EinkommensteuergesetzesEStG— 1998). Für weiter zurückliegende Monate bestehe kein Anspruch auf Kindergeld.

Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg. Das klageabweisende Urteil des Finanzgerichts (FG) ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2000, 953, veröffentlicht.

Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Die Antragsfrist von nur sechs Monaten sei verfassungswidrig. Sie treffe —unter Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG)— nur Eltern, bei denen wegen ihres geringen Einkommens der Kinderfreibetrag zu keiner steuerlichen Entlastung führe. Dagegen könnten sich Eltern mit einem entsprechend hohen Einkommen, bei denen das Existenzminimum des Kindes durch den Kinderfreibetrag von der Einkommensteuer freigestellt werde, mit der Abgabe ihrer Einkommensteuererklärung Zeit lassen. Da das Kindergeld nach dem Willen des Gesetzgebers der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums des Kindes diene, bestünden darüber hinaus grundsätzliche Bedenken gegen die Antragsgebundenheit des Kindergeldes. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) sei das Existenzminimum der Familie von Gesetzes wegen zu gewährleisten.

Im Übrigen betreffe § 66 Abs. 3 EStG a.F. nach zutreffender Ansicht des , EFG 1999, 35) nur Erstanträge. Der Kläger bzw. seine Ehefrau hätten aber für dasselbe Kind bereits vorher Kindergeld bezogen.

Der Kläger beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil, den Ablehnungsbescheid vom sowie die Einspruchsentscheidung vom aufzuheben und den Beklagten zur Zahlung eines Kindergeldes für die Monate Januar bis September 1996 zu verpflichten.

Der Beklagte beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Die Revision ist nicht begründet. Sie war deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der FinanzgerichtsordnungFGO—).

Das FG hat zu Recht entschieden, dass dem Kläger für den Zeitraum von Januar bis September 1996 kein Anspruch auf Kindergeld für seinen Sohn S nach §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 3 EStG zusteht.

1. Der Kindergeldanspruch des Klägers für die Monate Januar bis September 1996 ist durch § 66 Abs. 3 EStG a.F. ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift wird das Kindergeld rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats gezahlt, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Für weiter zurückliegende Zeiträume ist das Kindergeld demgemäß auch dann nicht zu zahlen, wenn die Anspruchsvoraussetzungen im Übrigen vorliegen. Der Gesetzgeber hat § 66 Abs. 3 EStG zwar mit Wirkung ab aufgehoben; die Vorschrift ist jedoch nach § 52 Abs. 32 b EStG 1998 letztmals für das Kalenderjahr 1997 anzuwenden, so dass Kindergeld auf einen nach dem gestellten Antrag rückwirkend längstens bis einschließlich Juli 1997 gezahlt werden kann. Durch diese Vorschrift wollte der Gesetzgeber sicherstellen, dass die Geltung des § 66 Abs. 3 EStG für die Jahre 1996 und 1997 nicht durch einen nach dem gestellten Antrag umgangen werden kann (BTDrucks 13/8994, 76). Da der Kläger den Antrag auf rückwirkende Bewilligung von Kindergeld für die Monate Januar bis September 1996 erst im Februar 1998 gestellt hat, ist sein Anspruch auf Kindergeld für diesen Zeitraum ausgeschlossen.

2. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 der AbgabenordnungAO 1977—) kommt wegen der Versäumung der Frist des § 66 Abs. 3 EStG a.F. nicht in Betracht. Bei der in § 66 Abs. 3 EStG a.F. genannten Antragsfrist von sechs Monaten handelt es sich nicht um eine gesetzliche Frist i.S. des § 110 AO 1977, sondern um eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist. Der Senat folgt insoweit der Entscheidung des (BFHE 193, 361, BStBl II 2001, 109) und nimmt wegen der Begründung auf die Ausführungen in diesem Urteil Bezug.

3. Der Anwendung des § 66 Abs. 3 EStG a.F. steht nicht entgegen, dass die Ehefrau des Klägers für den Sohn S bis zum Kindergeld nach den Vorschriften des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) bezogen hat. Die Bewilligung des Kindergeldes an die Ehefrau des Klägers ist durch Bescheid vom aufgehoben worden. Zur Geltendmachung des für den Zeitraum vom 1. Januar bis bestehenden Anspruchs auf Kindergeld nach den Vorschriften des EStG war deshalb ein erneuter Antrag erforderlich (§ 67 EStG). Nach § 78 EStG a.F. galt Kindergeld zum nur dann als nach den Vorschriften des EStG festgesetzt, wenn es bis zu diesem Zeitpunkt nach sozialrechtlichen Vorschriften gewährt worden war (, BFH/NV 2001, 775, m.w.N.). Das war hier nicht der Fall. Entgegen der Ansicht des Klägers ist die Anwendung des § 66 Abs. 3 EStG a.F. nicht auf die Fälle beschränkt, in denen für ein Kind erstmals Kindergeld beantragt wird. Eine restriktive Auslegung der Vorschrift in dem Sinne, dass sie nur Erstanträge erfasst, wird weder durch den Wortlaut noch durch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift gestützt. Der Kläger kann sich für seine Auffassung nicht auf das Urteil des FG Hamburg in EFG 1999, 35, berufen. In dem dort entschiedenen Fall hatte der Berechtigte für denselben Zeitraum erneut einen Antrag auf Kindergeld gestellt, nachdem die Behörde den Bescheid über die Bewilligung des Kindergeldes für diesen Zeitraum rückwirkend aufgehoben hatte. Nur für diesen —hier offensichtlich nicht gegebenen— Fall eines erneuten Antrags für denselben Bewilligungszeitraum hat das FG Hamburg in EFG 1999, 35 die Anwendung des § 66 Abs. 3 EStG a.F. abgelehnt.

4. Die Antragsfrist des § 66 Abs. 3 EStG a.F. (§ 52 Abs. 32 b EStG 1998) ist mit der Verfassung vereinbar.

a) Sie verletzt im Regelfall nicht den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Eltern, bei denen die Freistellung des Existenzminimums durch das Kindergeld bewirkt wird, werden im Vergleich zu Eltern, bei denen wegen der Höhe ihres Einkommens das Existenzminimum des Kindes durch den Kinderfreibetrag von der Einkommensteuer freigestellt wird, nicht willkürlich schlechter gestellt. Zwar trifft es zu, dass der Kinderfreibetrag bis zum Ablauf der für die Einkommensteuerveranlagung maßgeblichen vierjährigen Festsetzungsfrist (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO 1977) berücksichtigt werden kann, während der Anspruch auf Zahlung von Kindergeld für zurückliegende Monate nach § 66 Abs. 3 EStG a.F. erlischt, wenn er nicht spätestens innerhalb von sechs Monaten bei der zuständigen Behörde geltend gemacht wird (§ 47 AO 1977). Diese unterschiedliche Regelung ist jedoch mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. Der Gesetzgeber hat seinen Gestaltungsspielraum damit nicht überschritten. Es ist nicht evident sachwidrig, wenn für einen Antrag auf Kindergeld andere Fristen gelten als für eine Einkommensteuerveranlagung (, EFG 1999, 181). Zwischen beiden Verfahren bestehen erhebliche Unterschiede, die es rechtfertigen, ihre Durchführung von der Beachtung unterschiedlicher Fristen abhängig zu machen. Das Kindergeld wird als Steuervergütung ohne Rücksicht auf die steuerlichen Verhältnisse des Antragstellers gewährt, während für eine Einkommensteuerveranlagung alle einkommensteuerrechtlich relevanten Verhältnisse des Steuerpflichtigen für den betreffenden Veranlagungszeitraum zu ermitteln sind. Für die Festsetzung der Einkommensteuer ist deshalb eine längere Frist erforderlich als für den Antrag auf Kindergeld. Das Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung des Kindergeldes kann im Allgemeinen ohne besonderen Aufwand festgestellt werden. Der Kindergeldberechtigte ist im Regelfall auch nicht gehindert, den Antrag innerhalb der Frist von sechs Monaten bei der Behörde einzureichen. Ob eine längere Antragsfrist zweckmäßiger gewesen wäre, hat der Senat nicht zu prüfen. Der Gleichheitssatz verpflichtet den Gesetzgeber nicht, bei der Regelung eines bestimmten Sachverhalts die zweckmäßigste und gerechteste Lösung zu wählen. Sein Gestaltungsspielraum ist erst dann überschritten, wenn ein sachlicher Grund für die gesetzliche Differenzierung fehlt.

b) Die Anwendung des § 66 Abs. 3 EStG a.F. kann allerdings in Ausnahmefällen zu sachwidrigen Ergebnissen führen, wenn Kindergeld für ein über 18 Jahre altes Kind beantragt wird und sich erst in der zweiten Jahreshälfte herausstellt, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes —entgegen der Prognose zu Beginn des Jahres— den in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG genannten Grenzbetrag (1996: 12 000 DM) unterschreiten. In einem solchen —hier offensichtlich nicht gegebenen— Härtefall kommt eine Billigkeitsmaßnahme nach § 163 i.V.m. § 155 Abs. 4 AO 1977 in Betracht, ohne dass die Verfassungsmäßigkeit des § 66 Abs. 3 EStG a.F. durch die unbilligen Auswirkungen in einem atypischen Fall in Frage gestellt würde (vgl. , BStBl II 1995, 671, 672; BFH-Urteil in BFHE 193, 361, BStBl II 2001, 109).

c) § 66 Abs. 3 EStG a.F. verstößt auch nicht gegen Art. 6 Abs. 1 GG, der Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt. Der Gesetzgeber kann im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit bestimmen, auf welche Weise er dieses Gebot, das u.a. die steuerrechtliche Freistellung des Existenzminimums aller Familienangehörigen umfasst, verwirklichen will. Nach geltendem Recht wird das Existenzminimum von Kindern durch den Kinderfreibetrag (§ 32 EStG) oder das Kindergeld (§§ 62 ff. EStG) von der Einkommensteuer freigestellt. Bei der näheren Ausgestaltung dieser Ansprüche bleibt es dem Gesetzgeber unbenommen, ihre Realisierung an die Beachtung von Fristen, auch von materiell-rechtlichen Ausschlussfristen, zu knüpfen. Schon im Interesse einer verlässlichen Haushaltsplanung muss es dem Gesetzgeber erlaubt sein, das Erlöschen von Ansprüchen innerhalb angemessener Frist vorzusehen (Seewald/Felix, Kindergeldrecht, § 66 EStG Rz. 26; , EFG 1998, 1341; Schleswig-Holsteinisches FG in EFG 1999, 181). Soweit die Antragsfrist des § 66 Abs. 3 EStG a.F. im konkreten Einzelfall zu objektiv unbilligen Ergebnissen führt (vgl. dazu 4 b), kann das Kindergeld aus Billigkeitsgründen rückwirkend gewährt werden.

5. Dem Ablauf der Frist des § 66 Abs. 3 EStG a.F. kommt ausnahmsweise dann keine ausschließende Wirkung zu, wenn die Berufung der Behörde auf diese Vorschrift gegen Treu und Glauben verstößt (BFH-Urteil in BFHE 193, 361, BStBl II 2001, 109, m.w.N.; Felix in Kirchhof/Söhn, Einkommensteuergesetz, § 66 Rdnr. D 14).

Im Streitfall ergeben sich weder aus den Feststellungen des finanzgerichtlichen Urteils noch aus dem Vorbringen des Klägers im Revisionsverfahren Anhaltspunkte für eine unzulässige Rechtsausübung der Behörde. Der Beklagte war nicht verpflichtet, den Kläger darauf hinzuweisen, dass er nach der geänderten Rechtslage aufgrund des Jahressteuergesetzes 1996 (JStG 1996) vom (BGBl I 1995, 1250, BStBl I 1995, 438) für die Monate Januar bis September 1996 Kindergeld für den Sohn S beanspruchen konnte, weil dieser das 18. Lebensjahr erst am vollendet hatte. Eine solche Pflicht lässt sich insbesondere nicht aus § 89 Satz 1 AO 1977 herleiten. Danach soll die Behörde u.a. die Stellung von Anträgen anregen, wenn diese offensichtlich nur versehentlich oder aus Unkenntnis unterblieben sind. Daraus ergibt sich für den Beklagten jedoch keine allgemeine Pflicht zur Überprüfung aller Kindergeldakten. § 89 Satz 1 AO 1977 setzt ein laufendes, noch nicht abgeschlossenes Verwaltungsverfahren voraus; vor Beginn und nach Beendigung eines Verfahrens besteht keine Beratungspflicht der Behörde (, BFHE 174, 197, BStBl II 1994, 552; in BFHE 193, 361, BStBl II 2001, 109; Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 89 AO Rz. 7).

6. Der Senat entscheidet im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 121 i.V.m. § 90 Abs. 2 FGO).

Fundstelle(n):
BFH/NV 2002 S. 1293 Nr. 10
EAAAA-68894