Sozialgerichtliches Verfahren - Versäumung der Revisionseinlegungsfrist - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - Rechtsanwaltsverschulden - Organisationsverschulden - durch Bürokraft versäumte Eintragung der Frist in Handakte und Fristenkalender - Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses ohne ausreichende Vorkehrungen zur Vermeidung der Fristversäumnis
Gesetze: § 164 Abs 1 S 1 SGG, § 67 Abs 1 SGG, § 73 Abs 6 S 7 SGG, § 85 Abs 2 ZPO
Instanzenzug: SG Altenburg Az: S 40 AS 3578/12 Urteilvorgehend Thüringer Landessozialgericht Az: L 7 AS 1600/14 Urteil
Gründe
1I. Der Kläger wendet sich gegen die Aufhebung und Erstattung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum vom bis in Höhe von 2158,93 Euro durch das beklagte Jobcenter (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ). Während er mit seiner Klage hiergegen vor dem SG erfolgreich war (Urteil vom ), hat das LSG die Klage unter Aufhebung des Urteils des SG abgewiesen und dem Kläger wegen Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung Kosten in Höhe von 600 Euro auferlegt (Urteil vom ). Nach Zulassung der Revision durch Beschluss des Senats vom hat der Kläger am Revision eingelegt und zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt, nachdem seine Prozessbevollmächtigte das Empfangsbekenntnis über die Zustellung des Zulassungsbeschlusses am unterschrieben und am selben Tag an das BSG zurückgegeben hatte.
2Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags hat der Kläger ua angeführt, der Beschluss vom sei seiner Prozessbevollmächtigten noch während der Öffnung der Post am zur Einsichtnahme vorgelegt und sodann mit der weiteren Post auf den noch zu bearbeitenden Poststapel im Sekretariat zurückgelegt worden. Da die Dienstanweisung zur Fristeneintragung und -überwachung unmissverständlich sei, habe sich die Prozessbevollmächtigte darauf verlassen dürfen, dass die damit befasste und stets zuverlässig arbeitende Rechtsanwaltsfachangestellte die Fristen ordnungsgemäß in den Fristenkalender eintragen würde. Das sei jedoch offenbar ebenso unterblieben wie die Vorlage der Handakten mit dem entsprechenden Posteingang an die Prozessbevollmächtigte, da die Rechtsanwaltsfachangestellte davon ausgegangen sei, dass dieser der Inhalt des Beschlusses bekannt gewesen sei.
3II. Die nicht in der gesetzlichen Frist eingelegte Revision ist durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter als unzulässig zu verwerfen (§ 169 Satz 2 und 3 SGG).
4Die Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils oder des Beschlusses über die Zulassung der Revision schriftlich einzulegen (§ 164 Abs 1 Satz 1 SGG). Der Kläger hätte mithin auf den Beschluss über die Zulassung der Revision vom , welcher ihm am mit zutreffender Rechtsmittelbelehrung zugestellt wurde, Revision gegen das Urteil des LSG bis zum Ablauf des einlegen müssen (§ 64 Abs 2 SGG). Dem genügt die erst am beim BSG eingegangene Revisionsschrift nicht.
5Dem Kläger ist auch nicht antragsgemäß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Revisionseinlegungsfrist zu gewähren (§ 67 Abs 1 SGG). Die Voraussetzung hierfür, nämlich dass der Kläger ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, ist nicht erfüllt. Der Kläger hat schuldhaft die Revisionseinlegungsfrist versäumt, da er sich das Verschulden seiner Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen muss (§ 73 Abs 4 Satz 1 und Abs 6 Satz 7 SGG iVm § 85 Abs 1 ZPO). Ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten selbst ist der Prozesspartei stets zuzurechnen. Kein Verschulden des Prozessbevollmächtigten liegt dagegen vor, wenn er darlegen kann, dass ein Büroversehen vorliegt und er alle Vorkehrungen getroffen hat, die nach vernünftigem Ermessen die Nichtbeachtung von Fristen auszuschließen geeignet sind, und dass er durch regelmäßige Belehrung und Überwachung seiner Bürokräfte für die Einhaltung seiner Anordnungen Sorge getragen hat (vgl nur - juris RdNr 10).
6Ein dem Kläger zuzurechnendes Organisationsverschulden seiner Prozessbevollmächtigten ist gegeben, wenn die Nichteinhaltung der Frist darauf beruht, dass sie es versäumt hat, durch eine zweckmäßige Büroorganisation, insbesondere hinsichtlich der Fristen- und Terminüberwachung und der Erledigungs- und Ausgangskontrolle, ausreichende Vorkehrungen zur Vermeidung von Fristversäumnissen zu treffen (stRspr des BSG; 9b RU 8/86 - BSGE 61, 213, 215 = SozR 1500 § 67 Nr 18 S 43; - juris RdNr 8). Grundsätzlich darf ein Rechtsanwalt darauf vertrauen, dass eine Büroangestellte, die sich bisher als zuverlässig erwiesen hat, eine konkrete Einzelanweisung befolgt; er ist deshalb im Allgemeinen nicht verpflichtet, sich anschließend über die Ausführung zu vergewissern (vgl etwa - NJW 2008, 2589 mwN; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 67 RdNr 8d mwN).
7Delegierbar sind grundsätzlich nur Routineangelegenheiten. Die Berechnung von Fristen, die nicht zu den Routinefristen gehören, muss der Rechtsanwalt selbst übernehmen ( B 11a AL 93/05 B). Die Führung von Revisionsverfahren ist für Rechtsanwälte typischerweise keine Routineangelegenheit; diese Vertretungen kommen bei ihnen im Allgemeinen nur selten vor (vgl - SozR 3-1500 § 67 Nr 15 S 43). Selbst wenn hier der Bürokraft gleichwohl die Berechnung der Frist zur Einlegung der Revision überlassen werden durfte, darf der Rechtsanwalt das Empfangsbekenntnis über eine Urteilszustellung nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung aber nur unterzeichnen und zurückgeben, wenn sichergestellt ist, dass in den Handakten die Rechtsmittelfrist festgehalten und vermerkt ist, dass die Frist im Fristenkalender notiert worden ist (vgl nur - juris RdNr 6; und VI ZB 2/96 - VersR 1996, 1390; - juris RdNr 6; - juris RdNr 17; - juris RdNr 6 mwN). Bescheinigt der Rechtsanwalt - wie nach dem Vorbringen auch hier - den Empfang eines ohne Handakten vorgelegten Urteils, so erhöht sich damit die Gefahr, dass die Fristnotierung unterbleibt und dies erst nach Fristablauf bemerkt wird.
8Um dieses Risiko auszuschließen, muss der Anwalt, falls er nicht selbst unverzüglich die notwendigen Eintragungen in der Handakte und im Fristenkalender vornimmt, durch eine besondere Einzelanweisung die erforderlichen Eintragungen veranlassen. Auf allgemeine Anordnungen darf er sich in einem solchen Fall nicht verlassen (vgl - VersR 1992, 1536; - VersR 1994, 371). Weist er seine Bürokraft im Einzelfall mündlich an, die Rechtsmittelfrist einzutragen, müssen ausreichende organisatorische Vorkehrungen dafür getroffen sein, dass diese Anweisung nicht in Vergessenheit gerät und die Fristeintragung - etwa im Drange der übrigen Geschäfte - unterbleibt ( - NJW 2012, 1591 mwN; - NJW-RR 2013, 179; - juris RdNr 13 mwN; - BAGE 78, 184; - NZA 1996, 555). In einem solchen Fall bedeutet das Fehlen jeder Sicherung einen entscheidenden Organisationsmangel ( aaO, mwN). Welche organisatorischen Vorkehrungen in der Kanzlei der Bevollmächtigten des Klägers getroffen wurden, um trotz der Rückgabe des Empfangsbekenntnisses ohne Vorlage der Handakte und vor Eintragung der Rechtsmittelfrist zu verhindern, dass die Fristeintragung in Vergessenheit gerät, hat der Kläger indes nicht vorgetragen und glaubhaft gemacht (vgl hierzu - juris RdNr 8; - juris RdNr 13).
9PKH gemäß § 73a SGG iVm § 114 ZPO ist nicht zu bewilligen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung nach den obigen Ausführungen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Der Antrag auf Beiordnung eines Rechtsanwaltes (§ 73a SGG iVm § 121 ZPO) ist abzulehnen, weil kein Anspruch auf PKH besteht.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2017:011117BB14AS2617R0
Fundstelle(n):
AAAAG-71020