Begriff des "Familienangehörigen" im FreizügG/EU
Leitsatz
"Familienangehörige" im Sinne des § 1 FreizügG/EU sind nur die in § 3 Abs. 2 FreizügG/EU genannten Personen. Bei den in § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU benannten Personen fallen Anwendungsbereich (§ 1 FreizügG/EU) und das Recht auf Einreise und Aufenthalt (§ 2 Abs. 1 i.V.m. § 3 FreizügG/EU) insoweit zusammen.
Gesetze: Art 267 AEUV, § 1 Abs 2 Nr 1 AufenthG, § 50 AufenthG, § 59 AufenthG, § 1 FreizügG/EU, § 2 Abs 2 FreizügG/EU, § 2 Abs 1 FreizügG/EU, § 3 FreizügG/EU, § 4 FreizügG/EU, § 5 Abs 1 FreizügG/EU, § 5 Abs 2 FreizügG/EU, § 5 Abs 3 FreizügG/EU, § 5 Abs 4 FreizügG/EU, § 7 FreizügG/EU, § 11 FreizügG/EU, Art 1 EGRL 38/2004, Art 2 Nr 2 EGRL 38/2004, Art 27ff EGRL 38/2004, Art 27 EGRL 38/2004, Art 3 Abs 2 EGRL 38/2004
Instanzenzug: VG Aachen Az: 8 K 2191/14 Urteil
Tatbestand
1Die Beklagte wendet sich mit der Revision gegen die Aufhebung einer gegen den Kläger ergangenen Abschiebungsandrohung, die das Verwaltungsgericht darauf gestützt hatte, dass für den Kläger allein der Anwendungsbereich des Freizügigkeitsgesetzes/EU eröffnet sei und daher dem Kläger die Abschiebung nicht ohne vorherige Feststellung des Nichtbestehens einer Freizügigkeitsberechtigung hätte angedroht werden dürfen.
2Der 1970 geborene Kläger ist nigerianischer Staatsangehöriger. Er reiste erstmals am in die Bundesrepublik Deutschland ein und lebte sodann zunächst mit seiner Lebensgefährtin, die die spanische Staatsangehörigkeit besitzt, in einer gemeinsamen Wohnung. Er ist im Besitz eines bis zum gültigen spanischen Aufenthaltstitels nach der Richtlinie 2003/109/EG. Am beantragte der Kläger die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, um einen Arbeitsplatz zu suchen. Am erkannte der Kläger die Vaterschaft des noch ungeborenen Kindes seiner Lebensgefährtin an, das am geboren wurde und die spanische Staatsangehörigkeit besitzt. Nach Anhörung des Klägers lehnte die Beklagte mit Bescheid vom den Antrag des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab und drohte ihm die Abschiebung nach Spanien an. Zur Begründung führte sie aus, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht vorlägen. Am reiste der Kläger nach Spanien aus, um zu einem nicht näher bezeichneten Zeitpunkt zwischen dem und dem alsbald erneut in das Bundesgebiet einzureisen. Unter dem beantragte er vorsorglich erneut die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sowie die Erteilung einer Duldung.
3Zur Begründung seiner fristgerecht gegen den Bescheid vom erhobenen Klage macht der Kläger geltend, er könne ein Aufenthaltsrecht von seinem Sohn ableiten, weil er im Sinne des § 2 Abs. 2 Ziff. 6 i.V.m. § 3 Abs. 2 Ziff. 2 FreizügG/EU ein Familienangehöriger seines Sohnes sei.
4Das Verwaltungsgericht hat die in dem Bescheid vom enthaltene Abschiebungsandrohung aufgehoben und die Klage hinsichtlich des Begehrens auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abgewiesen. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt: Das auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gerichtete Begehren sei mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig, weil der Kläger zurzeit aufgrund des Freizügigkeitsgesetzes/EU zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt sei. Mithin habe er gegenwärtig auch deshalb keinen Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, weil sich seine Rechtsstellung nicht nach dem Aufenthaltsgesetz (AufenthG), sondern nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU beurteile. § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG schließe einen Ausländer aus dem Anwendungsbereich des Aufenthaltsgesetzes unabhängig vom Bestehen eines materiellen Aufenthaltsrechts bereits dann aus, wenn dessen Rechtsstellung vom Freizügigkeitsgesetz/EU (lediglich) geregelt werde. Auch bei einem Familienangehörigen eines Unionsbürgers, dessen Rechtsstellung vom Freizügigkeitsgesetz/EU (lediglich) geregelt werde, der nach den Vorgaben des Freizügigkeitsgesetzes/EU aber im Ergebnis nicht freizügigkeitsberechtigt sei, finde das Freizügigkeitsgesetz/EU so lange Anwendung, bis das Nichtbestehen oder der Verlust des Freizügigkeitsrechts festgestellt worden sei. Für Familienangehörige eines Unionsbürgers bestehe damit bis zur Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlustes des Freizügigkeitsrechts eine Freizügigkeitsvermutung. Für den Begriff des "Familienangehörigen" im Sinne des § 1 FreizügG/EU, der formell den Anwendungsbereich des Gesetzes regele, sei dabei nicht auf die Definition des § 3 Abs. 2 FreizügG/EU zurückzugreifen, welche materielle Kriterien für das Freizügigkeitsrecht aufstelle. Es bedürfe daher nicht der Klärung, ob auch die materiellen Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU vorlägen, was indes nicht der Fall sein dürfte, weil der erst im Oktober 2014 geborene spanische Sohn ersichtlich dem Kläger keinen Unterhalt gewähren könne. Für eine isolierte Anfechtung der Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis fehle dem Kläger das Rechtsschutzbedürfnis. Die Klage gegen die Abschiebungsandrohung sei bereits deswegen begründet, weil die Abschiebungsandrohung auf § 59 Abs. 1 und 2 AufenthG und damit eine Norm gestützt worden sei, die hier nicht anwendbar sei. Eine Umdeutung der getroffenen Entscheidung in eine Abschiebungsandrohung nach § 7 FreizügG/EU i.V.m. § 59 AufenthG sei schon deshalb nicht möglich, weil die Beklagte das Nichtbestehen bzw. den Verlust des Freizügigkeitsrechts bislang nicht festgestellt habe.
5Mit ihrer (von dem Verwaltungsgericht zugelassenen) Sprungrevision rügt die Beklagte eine Verletzung der § 1 Abs. 2 Nr. 1, § 59 AufenthG und des § 1 FreizügG/EU und macht geltend, für die Auslegung des Begriffs "Familienangehöriger" im Sinne des § 1 FreizügG/EU, der für den Anwendungsbereich des Freizügigkeitsgesetzes/EU maßgeblich sei, sei auf die Legaldefinition des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU zurückzugreifen; hiernach seien Verwandte in aufsteigender und in absteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 und 7 FreizügG/EU genannten Personen (nur) dann als Familienangehörige anzusehen, wenn ihnen durch den freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger Unterhalt gewährt werde. Dies sei hier in Bezug auf den Kläger nicht der Fall.
6Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil und hebt hervor, dass das Freizügigkeitsgesetz/EU systematisch zwischen dem Anwendungsbereich (§ 1) und der materiellen Freizügigkeitsberechtigung (§ 3) unterscheide; ohne eine von der materiellen Freizügigkeitsberechtigung abgelöste, erweiterte Einbeziehung Familienangehöriger in den Anwendungsbereich des Freizügigkeitsgesetzes/EU könne deren Aufenthaltsrecht beeinträchtigt werden und laufe das in § 11 Abs. 2 FreizügG/EU auch für Familienangehörige zwingend vorgeschriebene Feststellungsverfahren leer.
7Der Vertreter des Bundesinteresses hält die Revision für begründet und betont, das Freizügigkeitsgesetz/EU folge in der Systematik der Unionsbürgerrichtlinie und stelle schon für den Anwendungsbereich auf den in § 3 Abs. 2 FreizügG/EU definierten Begriff des "Familienangehörigen" ab. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts führe zu dem sinnwidrigen Ergebnis, dass dann Auslandsvertretungen angehalten sein könnten, Einreise-Visa nur aufgrund eines familienrechtlich vorliegenden Verwandtschaftsverhältnisses auszustellen, obwohl die Voraussetzungen für ein freizügigkeitsrechtliches Verwandtschaftsverhältnis tatsächlich nicht gegeben sind.
Gründe
8Die zulässige (Sprung-)Revision der Beklagten, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist begründet. Mit Bundesrecht unvereinbar (§ 137 Abs. 1 VwGO) ist die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, bei drittstaatsangehörigen Familienangehörigen von Unionsbürgern sei der Anwendungsbereich nach § 1 FreizügG/EU unabhängig davon eröffnet, ob der Drittstaatsangehörige auch im Sinne des § 3 Abs. 2 FreizügG/EU "Familienangehöriger" sei.
91. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist allein die Aufhebung der Abschiebungsandrohung in dem Bescheid der Beklagten vom durch das Verwaltungsgericht (Nr. 2 der Urteilsformel). Soweit das Verwaltungsgericht die Klage in Bezug auf die begehrte Aufenthaltserlaubnis mangels Rechtsschutzbedürfnisses abgewiesen hat (Nr. 2 der Urteilsformel), hat der Kläger dies nicht mit Rechtsmitteln angegriffen.
10Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei der nicht vollzogenen Abschiebungsandrohung grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz (stRspr, vgl. 1 C 16.14 - Buchholz 402.242 § 25 AufenthG Nr. 22 Rn. 14). Dabei sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Rechtsänderungen, die nach der Berufungsentscheidung eintreten, vom Revisionsgericht zu berücksichtigen, wenn sie das Berufungsgericht, wenn es jetzt entschiede, zu beachten hätte ( 1 C 27.14 - NVwZ 2016, 71). Maßgeblich sind hiernach das Aufenthaltsgesetz - AufenthG - i.d.F. der Bekanntmachung vom (BGBl. I S. 162), und das Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern = Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU - vom (BGBl. I S. 1950), beide zuletzt geändert durch das Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom (BGBl. I S. 2780).
112. Das Verwaltungsgericht hat die auf § 59 AufenthG gestützte Abschiebungsandrohung in dem Bescheid der Beklagten vom , deren Voraussetzungen im Übrigen zwischen den Beteiligten nicht im Streit stehen, zu Unrecht mit der Begründung aufgehoben, dass in Bezug auf den Kläger der Anwendungsbereich des Freizügigkeitsgesetzes/EU eröffnet sei und daher ohne eine - hier nicht erfolgte - Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlustes des Freizügigkeitsrechts eine Freizügigkeitsvermutung bestehe, welche einer Abschiebungsandrohung nach § 59 AufenthG entgegenstehe.
12Für die Abgrenzung der Anwendungsbereiche des Aufenthaltsgesetzes einerseits und des Freizügigkeitsgesetzes/EU andererseits hat das Verwaltungsgericht im rechtlichen Ansatz zwar zutreffend darauf abgestellt, dass das Aufenthaltsgesetz keine Anwendung auf Ausländer findet, deren Rechtsstellung von dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern geregelt ist, soweit nicht durch Gesetz etwas anderes geregelt ist (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG) und sich der Anwendungsbereich des § 1 FreizügG/EU nicht nur auf Unionsbürger erstreckt, sondern auch deren Familienangehörige erfasst. Entgegen der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts sind aber bereits für die Bestimmung des Anwendungsbereichs (§ 1 FreizügG/EU) "Familienangehörige" nur die von § 3 Abs. 2 FreizügG/EU erfassten Personen; bei den in § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU benannten Personen fallen Anwendungsbereich (§ 1 FreizügG/EU) und das Recht auf Einreise und Aufenthalt (§ 2 Abs. 1 i.V.m. § 3 FreizügG/EU) insoweit zusammen. Dies folgt nicht schon eindeutig aus dem Wortlaut (2.1), wohl aber aus der Systematik (2.2) des Gesetzes und seinem Sinn und Zweck (2.3); Gründe der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit im Verwaltungsvollzug stehen dieser Auslegung im Ergebnis nicht durchgreifend entgegen (2.4).
132.1 Der Wortlaut des § 1 FreizügG/EU stellt allein auf den Begriff des "Familienangehörigen" ab, ohne den hiervon erfassten Personenkreis eindeutig zu umschreiben. Einen klaren, eindeutigen Inhalt hat der Begriff "Familienangehöriger" weder im nationalen noch im Unionsrecht; Art. 4 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251 S. 12) - FamilienzusammenführungsRL - fasst den Personenkreis anders als etwa Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158 S. 77) - UnionsbürgerRL. Das Freizügigkeitsgesetz/EU unterscheidet auch zwischen dem Anwendungsbereich (§ 1 FreizügG/EU) und dem Recht auf Einreise und Aufenthalt (§ 2 FreizügG/EU) und schließt damit eine Auslegung nicht aus, nach der der vom Begriff des "Familienangehörigen" erfasste Personenkreis nach unterschiedlichen Grundsätzen zu bestimmen ist. Es liegt indes jedenfalls nicht nahe, dass der Gesetzgeber denselben Begriff in aufeinanderfolgenden Bestimmungen desselben Gesetzes mit unterschiedlichem Bedeutungsgehalt verwendet.
142.2 Bereits die Systematik des Freizügigkeitsgesetzes/EU ergibt, dass der Begriff des "Familienangehörigen" auch für den Anwendungsbereich (§ 1 FreizügG/EU) durch § 3 Abs. 2 FreizügG/EU legaldefiniert wird und mithin für diesen Personenkreis bereits der Anwendungsbereich die materielle Freizügigkeitsberechtigung (§ 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 3 Abs. 2 FreizügG/EU) voraussetzt.
15a) § 3 Abs. 2 FreizügG/EU definiert den Begriff des "Familienangehörigen". Diese Legaldefinition ist allerdings nicht ausdrücklich auch auf den Begriff des "Familienangehörigen" in § 1 FreizügG/EU bezogen ("Familienangehörige im Sinne dieses Gesetzes sind ...") und wählt auch sonst nicht die Regelungstechnik, einer Regelung über den Anwendungsbereich eine Reihe von Legaldefinitionen folgen zu lassen, die dann für das gesamte Gesetz gelten (s. etwa §§ 1, 2 AufenthG oder Art. 1, 2 UnionsbürgerRL); die systematische Stellung der Legaldefinition bei den Regelungen zum materiellen Recht auf Einreise und Aufenthalt oder ihr Wortlaut schließen nicht eindeutig aus, den Begriff des "Familienangehörigen" in § 1 FreizügG/EU anders und weiter zu fassen als in § 2 Abs. 1, § 3 Abs. 1 FreizügG/EU.
16Der Wortlaut des § 3 Abs. 2 FreizügG/EU enthält andererseits auch keine Einschränkung dahin, dass die dort vorgenommene Legaldefinition (nur) für die Anwendung der § 2 Abs. 1, § 3 FreizügG/EU gelten soll. Systematisch ist dann aber gerade bei einem auslegungsbedürftigen Rechtsbegriff wie dem des Familienangehörigen davon auszugehen, dass der Gesetzgeber den Begriff "Familienangehöriger" in § 1 und § 2 Abs. 1, § 3 FreizügG/EU mit jeweils demselben Bedeutungsgehalt verwendet, und zwar dem in § 3 Abs. 2 FreizügG/EU näher bestimmten Inhalt. Allein aus der Trennung von Anwendungsbereich und Freizügigkeitsberechtigung folgt kein Anhaltspunkt für eine abweichende Auslegung.
17b) Für einen Gleichklang der Auslegung des Begriffs des "Familienangehörigen" in § 1 und § 2 Abs. 1, § 3 Abs. 2 FreizügG/EU spricht systematisch mit erheblichem Gewicht Art. 2 Nr. 2 UnionsbürgerRL. Für die Zwecke der Sicherung des Freizügigkeitsrechts der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen definiert Art. 2 Nr. 2 UnionsbürgerRL den Begriff des Familienangehörigen für die Richtlinie insgesamt und damit auch für den Regelungsgegenstand, und zwar in einer Weise, die inzwischen im Wortlaut weitestgehend und in der Sache vollständig in § 3 Abs. 2 FreizügG/EU aufgegriffen ist. Ohne klare und gewichtige Gegengründe ist dann aber davon auszugehen, dass der nationale Gesetzgeber den Anwendungsbereich des zur Umsetzung der Unionsbürgerrichtlinie geschaffenen Gesetzes nicht auf Drittstaatsangehörige erweitert hat, die im Sinne der Richtlinie keine Familienangehörigen sind, und für den Anwendungsbereich den Begriff des "Familienangehörigen" in § 1 FreizügG/EU abweichend von Art. 2 Nr. 2 UnionsbürgerRL, § 3 Abs. 2 FreizügG/EU bestimmt hat.
18Allein der Umstand, dass dem nationalen Gesetzgeber unionsrechtlich nicht verwehrt sein mag, den Anwendungsbereich des nationalen Freizügigkeitsgesetzes weiter zu fassen und etwa auch auf solche Drittstaatsangehörige zu erstrecken, denen - ohne Familienangehörige im Sinne des Art. 2 Nr. 2 UnionsbürgerRL zu sein - nach Art. 3 Abs. 2 UnionsbürgerRL Einreise und Aufenthalt zu erleichtern ist, rechtfertigt hier keine andere Beurteilung. Denn für Drittstaatsangehörige, die von Art. 3 Abs. 2 UnionsbürgerRL erfasst, aber unionsrechtlich keine Familienangehörigen im Sinne des Art. 2 Nr. 2 UnionsbürgerRL sind, regelt das Freizügigkeitsgesetz/EU den Nachzug gerade nicht (s.a. Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 3 FreizügG/EU Rn. 28).
19c) Durchgreifend gegen einen Anwendungsbereich, der nicht an den Begriff des Familienangehörigen im Sinne des § 3 Abs. 2 FreizügG/EU anknüpft, spricht, dass bei einem nicht weiter bestimmten (und dadurch eingegrenzten) Begriff des Familienangehörigen Besserstellungen bei Einreise und Aufenthalt nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU (und partiell auch dem Visumrecht) in Betracht kommen, ohne dass für die Anwendung des Freizügigkeitsgesetzes/EU die materiellen Voraussetzungen in einem vorgelagerten Visumverfahren wirksam geprüft werden könnten. Nach § 2 Abs. 4 Satz 2 FreizügG/EU sind diese Erleichterungen für Familienangehörige, die nicht Unionsbürger sind, zwar insoweit eingeschränkt, als sie für die Einreise eines Visums nach den Bestimmungen für Ausländer bedürfen, für die das Aufenthaltsgesetz gilt. Hiervon wiederum ausgenommen sind indes drittstaatsangehörige Familienangehörige, die im Besitz eines anerkannten oder sonst zugelassenen Passes sind und die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen, für einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten (§ 2 Abs. 5 FreizügG/EU), ebenso drittstaatsangehörige Personen, die im Besitz einer gültigen Aufenthaltskarte (auch der eines anderen Mitgliedstaates der EU) sind (§ 2 Abs. 4 Satz 3 FreizügG/EU).
20d) Ein über Familienangehörige im Sinne des § 2 Abs. 1, § 3 Abs. 2 FreizügG/EU hinausreichender Anwendungsbereich des Gesetzes ergibt sich auch nicht im Umkehrschluss aus § 4a Abs. 1 FreizügG/EU (aa), § 11 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU (bb), § 7 Abs. 1 FreizügG/EU (cc) oder § 5 Abs. 1, 2 oder 4 FreizügG/EU (dd).
21aa) Die Regelungen zum Daueraufenthaltsrecht (auch) von Familienangehörigen, die nicht Unionsbürger sind (§ 4a Abs. 1 Satz 2 und 3 FreizügG/EU), setzen nicht voraus, dass alle Familienangehörigen unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU zumindest dem Anwendungsbereich des Freizügigkeitsgesetzes/EU unterfallen. Die Regelung hat einen beachtlichen Anwendungsbereich schon für Familienangehörige nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU, bei denen über die familiäre Nähebeziehung hinaus keine Unterhaltsvoraussetzungen zu erfüllen und festzustellen sind. Überdies stellt sie klar, dass das Daueraufenthaltsrecht unabhängig vom Fortbestand der Voraussetzungen der § 3 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU sein soll.
22bb) § 11 Abs. 1 FreizügG/EU bezieht sich ausdrücklich auf "Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die nach § 2 Abs. 1 das Recht auf Einreise und Aufenthalt haben", lässt also keine (direkten) Rückschlüsse auf Personen zu, bei denen dies gerade nicht der Fall ist.
23§ 11 Abs. 2 FreizügG/EU betrifft Fälle, in denen die Ausländerbehörde das Nichtbestehen oder den Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt hat und verweist insoweit auf das Aufenthaltsgesetz, soweit das Freizügigkeitsgesetz/EU keine besonderen Regelungen trifft. Soweit in Bezug auf Familienangehörige die Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlustes des Rechtes nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU zugleich Rückwirkungen auf die Anwendbarkeit dieses Gesetzes dem Grunde nach hat, wäre § 11 Abs. 2 FreizügG/EU lediglich eine deklaratorische Regelung. Ein relevanter Anwendungsbereich für eine Feststellung des (anfänglichen) Nichtbestehens eines Freizügigkeitsrechts bleibt auch bei Familienangehörigen in all den Fällen, in denen nicht die Stellung als Familienangehöriger im Sinne des § 3 Abs. 2 FreizügG/EU in Zweifel steht, sondern die Freizügigkeitsberechtigung des Unionsbürgers selbst, von dem das Recht auf Einreise und Aufenthalt abgeleitet wird.
24cc) § 7 Abs. 1 FreizügG/EU, nach dem Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen ausreisepflichtig sind, wenn die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht, erfasst von vornherein nicht Verwandte oder sonstige Drittstaatsangehörige, die im Rechtssinne (§ 3 Abs. 2 FreizügG/EU) keine Familienangehörigen sind.
25dd) Nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU kann in Fällen, in denen die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen sind oder diese nicht vorliegen, der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt und bei Familienangehörigen, die nicht Unionsbürger sind, die Aufenthaltskarte eingezogen werden. Dass diese Voraussetzungen "nicht" vorliegen, erfasst dem Wortlaut nach neben Fällen, in denen das Recht auf Einreise und Aufenthalt "nicht mehr" besteht, auch solche, in denen dieses Recht "von vornherein" nie bestanden hat. Hieraus folgt bereits in all den Fällen, in denen keine Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ausgestellt worden ist, aber - wie im vorliegenden Fall - feststeht, dass die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. §§ 3, 4 FreizügG/EU nicht vorliegen, schon keine umfassende Freizügigkeitsvermutung unabhängig vom Vorliegen eines materiellen Rechts auf Einreise und Aufenthalt. Der in § 5 Abs. 1 FreizügG/EU verwendete Begriff des "freizügigkeitsberechtigten" Familienangehörigen und die in § 5 Abs. 1 bis 3 FreizügG/EU geregelten Prüf- und Mitwirkungsrechte ergeben für den Anwendungsbereich keinen erweiterten Begriff des "Familienangehörigen". Denn sie beschränken sich im Kern auf eine punktuelle Regelung zur Ausstellung eines Nachweises für ein geltend gemachtes Recht auf Einreise und Aufenthalt und die Rückabwicklung der Ausstellung einer Aufenthaltskarte bei veränderter Sachlage. Sie sollen den durch die Aufenthaltskarte geschaffenen Rechtsschein materieller Aufenthaltsberechtigung und die materielle Rechtslage (Bestehen eines Aufenthaltsrechts) wieder in Einklang bringen.
262.3 Sinn und Zweck der Schaffung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und dessen Entstehungsgeschichte sprechen jedenfalls nicht positiv dafür, den Anwendungsbereich des Freizügigkeitsgesetzes/EU auf drittstaatsangehörige Personen zu erstrecken, die nicht im Sinne des § 3 Abs. 2 FreizügG/EU Familienangehörige sind.
27Das Freizügigkeitsgesetz/EU setzt die Unionsbürgerrichtlinie um, die ihrerseits darauf zielte, die seinerzeit jeweils in bereichsspezifischen, einzelnen Richtlinien ausgearbeiteten Ansätze des Freizügigkeitsrechts zusammenzufassen (BT-Drs. 15/420, 65, 101 s.a. BT-Drs. 16/5065, 1 ff., 208). Dies spricht eher für denn gegen einen Gleichlauf im Anwendungsbereich. Entsprechendes gilt für den durch die Abschaffung der Aufenthaltserlaubnispflicht für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen verfolgten Zweck, für die meisten Freizügigkeitsberechtigten ein nachhaltiges Zeichen fortschreitender Integration und Angleichung der Rechtsstellung der Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union in Deutschland zu setzen und so für Hunderttausende von Unionsbürgern zu einer spürbaren Verwaltungsvereinfachung beizutragen (BT-Drs. 15/420, 101); eine Erweiterung des Anwendungsbereichs auf Personen und damit der angestrebten Erleichterungen auf solche Drittstaatsangehörige, denen gerade kein Recht auf Einreise und Aufenthalt zugestanden wird, ist damit nicht verbunden.
28Aus den Gesetzmaterialien ergeben sich keine klaren Hinweise darauf, dass der nationale Gesetzgeber auch für die Familienangehörigen von Unionsbürgern, denen er nach § 2 Abs. 1, §§ 3 und 4 FreizügG/EU gerade kein Recht auf Einreise und Aufenthalt zugebilligt hat, über einen erweiterten Begriff des Familienangehörigen in § 1 FreizügG/EU eine umfassende Freizügigkeitsvermutung hätte begründen wollen. In der allgemeinen Begründung zur Neufassung des Aufenthaltsrechts der Unionsbürger in Deutschland ist ausgeführt, dass "Unionsbürger im Regelfall freizügigkeitsberechtigt sind, (...) bei Drittstaatsangehörigen keine Vermutung für eine Freizügigkeitsberechtigung (besteht), da sie in den meisten Fällen nicht freizügigkeitsberechtigt sind" (BT-Drs. 15/420, 101 f.). Soweit in der Einzelbegründung zu der Neufassung des § 11 FreizügG/EU ausgeführt ist, dass "für den in § 1 beschriebenen Personenkreis zunächst eine Vermutung der Freizügigkeit" gilt (BT-Drs. 15/420, 106), klärt dies nicht, unter welchen Voraussetzungen Verwandte freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger zu dem von § 1 FreizügG/EU erfassten Personenkreis gehören.
292.4 Diese Auslegung bewirkt auch für den Verwaltungsvollzug keine Rechtsunsicherheit oder Rechtsunklarheit, die bei materiell nicht zur Einreise berechtigten Familienangehörigen (§ 2 Abs. 1, § 3 Abs. 2 FreizügG/EU) eine erweiternde Auslegung des Anwendungsbereichs des Freizügigkeitsgesetzes/EU geböten.
30Eine erweiternde Auslegung begünstigte zwar Drittstaatsangehörige, weil sie für diesen Personenkreis eine Freizügigkeitsvermutung aufgrund eines Verwandtschaftsverhältnisses auch dann auslöste, wenn materiell (eindeutig) keine Freizügigkeitsberechtigung als Familienangehöriger besteht, und eine Ausreisepflicht nur und erst dann bestünde, wenn die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht. Bei Familienangehörigen, die materiell kein Freizügigkeitsrecht haben, besteht indes hierfür kein überzeugender Grund, zumal Verwandte nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU stets in den Anwendungsbereich des Gesetzes einbezogen sind und die Unionsbürgerrichtlinie der Wahrnehmung des Freizügigkeitsrechts durch Unionsbürger, nicht primär der Herstellung und Wahrung der Familieneinheit dient.
31Demgegenüber gewährleistet die Beschränkung bereits des Anwendungsbereichs des Freizügigkeitsgesetzes/EU eine effektivere ausländerbehördliche Kontrolle, ob ein drittstaatsangehöriger Familienangehöriger im Sinne des § 2 Abs. 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt ist. Dies entlastet die Ausländerbehörde von der förmlichen Ermessensentscheidung zur Verlustfeststellung (§ 5 Abs. 4 FreizügG/EU). Die schutzwürdigen Belange des Drittstaatsangehörigen bleiben dadurch gewahrt, dass er sich gegenüber ausländerbehördlichen Maßnahmen, welche sich allein auf das Aufenthaltsgesetz stützen, auf ein etwa bestehendes Recht auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1, §§ 3 und 4 FreizügG/EU berufen kann. In Fällen, in denen sich die tatsächlichen Voraussetzungen für ein solches Recht auf Einreise und Aufenthalt (etwa die Gewährung von Unterhalt) im Zeitverlauf immer wieder wandeln und bewirken, dass der Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen nach unterschiedlichen Rechtsgrundlagen zu beurteilen ist, bleibt es der Ausländerbehörde unbenommen, zur Rechtsklarheit aufenthaltsrechtliche Anordnungen vorsorglich auch mit der ausdrücklichen Feststellung zu verbinden, dass ein Recht auf Einreise und Aufenthalt nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU nicht besteht.
323. Gründe, den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 der konsolidierten Fassung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union in der Fassung von 2008 (ABl. C 115 S. 47) - AEUV - anzurufen, bestehen nicht. Die Abgrenzung der Anwendungsbereiche von Aufenthaltsgesetz und Freizügigkeitsgesetz/EU berührt allein Fragen des nationalen Rechts und ist unionsrechtlich weder durch die materiellrechtlichen Regelungen zum Freizügigkeitsrecht von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, das durch die hier nach nationalem Recht aufgeworfenen Abgrenzungsfragen unberührt bleibt, vorgeprägt noch werden Zweifelsfragen zu den Verfahrensgarantien und Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts (Art. 27 ff. Unionsbürgerrichtlinie) aufgeworfen.
334. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2017:251017U1C34.16.0
Fundstelle(n):
JAAAG-70862