BFH Beschluss v. - V B 100/01

Instanzenzug:

Gründe

I. Die Antragstellerin und Beschwerdegegnerin (Antragstellerin) verpflichtete sich in einem Rahmenvertrag und in daraufhin geschlossenen Einzelwerkverträgen, für Banken Computerprogramme zu entwickeln und daran das Recht zur Nutzung, Weiterentwicklung und Vervielfältigung an die Auftraggeber zu übertragen.

In den Voranmeldungen von Januar bis Dezember 1998 meldete sie diese Umsätze zum ermäßigten Steuersatz nach § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. c des Umsatzsteuergesetzes (UStG) 1993 an. Der Antragsgegner und Beschwerdeführer (das Finanzamt —FA—) setzte die Umsatzsteuer —davon abweichend— in Umsatzsteuervorauszahlungsbescheiden für Januar bis Dezember 1998 nach dem allgemeinen Steuersatz fest, weil bei den Leistungen der Antragstellerin die Entwicklung und Verbesserung der Software für ihre Auftraggeber und nicht die Übertragung urheberrechtlicher Nutzungsrechte im Vordergrund gestanden habe. Die Vollziehung der bezeichneten Bescheide in Höhe der sich nunmehr ergebenden höheren Vorauszahlungen setzte das FA aus.

In dem Umsatzsteuerbescheid für das Jahr 1998 hielt das FA an der geschilderten Rechtsauffassung fest. Es wies den dagegen eingelegten Einspruch zurück. Die zuvor unter dem Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs verfügte Aussetzung der Vollziehung (AdV) des Umsatzsteuerbescheids für 1998 in Höhe der Abschlusszahlung (im Umfang der festgesetzten, aber noch nicht geleisteten Vorauszahlungen) hatte sie inzwischen widerrufen.

Entsprechend unterwarf das FA die geschilderten Umsätze der Antragstellerin in Vorauszahlungsbescheiden für Januar bis September 1999 und in dem Umsatzsteuerbescheid für das Kalenderjahr 1999 dem allgemeinen Steuersatz. Dadurch ergab sich jeweils eine Abschlusszahlung. Die Antragstellerin hatte diese Umsätze zum ermäßigten Steuersatz angemeldet. Das FA wies den gegen die Umsatzsteuerfestsetzung für 1999 eingelegten Einspruch zurück und lehnte es ab, die Vollziehung des Umsatzsteuerbescheids 1999 (in Höhe der vorhandenen Zahllast wegen der nicht geleisteten Vorauszahlungen) auszusetzen.

Gegen die Steuerfestsetzungen für 1998 und 1999 hat die Antragstellerin Klage erhoben, über die noch nicht entschieden worden ist.

Das Finanzgericht (FG) gab ihrem Antrag auf AdV der Umsatzsteuerbescheide für 1998 und 1999 statt (§ 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Es war der Auffassung, die Rechtmäßigkeit dieser Bescheide sei bei summarischer Prüfung ernstlich zweifelhalft.

Der AdV stehe auch § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO nicht entgegen. Zwar ergebe sich bei wortgetreuer Anwendung der Vorschrift kein auszusetzender Betrag, weil die Höhe der festgesetzten Jahresumsatzsteuer genau der Höhe der monatlichen Vorauszahlungen entspreche. Die AdV sei auch nicht zur Abwehr wesentlicher Nachteile von der Antragstellerin erforderlich, wenn damit nur unmittelbare und ausschließliche Bedrohungen der wirtschaftlichen oder persönlichen Existenz abgewehrt werden sollten. Gleichwohl sei der Antragstellerin vorläufiger Rechtsschutz einzuräumen, weil § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO verfassungskonform (Art. 19 Abs. 4 des GrundgesetzesGG—) so ausgelegt werden müsse, dass wesentliche Nachteile auch schon bei erheblichen begründeten Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts gegeben seien. Diese Auslegung sei erforderlich, um einer grundrechtsrelevanten Gefährdung durch eine rechtswidrige Steuerfestsetzung zum Schutz der Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG durch AdV zu begegnen. Dies treffe im Fall der Antragstellerin zu, weil zu erwarten sei, dass das FA auf die streitbefangenen Umsätze in den folgenden Jahren den allgemeinen Steuersatz anwende und die Klärung der umstrittenen Rechtsfrage nicht in kurzer Zeit erfolgen werde.

Mit der Beschwerde legt das FA dar, dass die Vorentscheidung mit der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zu § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO unvereinbar sei. In den Beschlüssen vom I B 49/99 (BFHE 190, 59, BStBl II 2000, 57) und vom X B 99/99 (BFHE 192, 197, BStBl II 2000, 559) habe der BFH die in § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO enthaltenen Beschränkungen, denen die AdV unterliege, für mit dem GG vereinbar angesehen.

Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Anträge auf AdV abzulehnen.

Die Antragstellerin ist der Beschwerde entgegengetreten.

II. Die Beschwerde ist begründet. Die Vorentscheidung ist mit § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO unvereinbar und wird aufgehoben. Die Anträge der Antragstellerin auf AdV der Umsatzsteuerfestsetzungen für 1998 und 1999 sind abzulehnen.

1. Einer AdV der mit der Klage angefochtenen Umsatzsteuerbescheide für 1998 und 1999 steht im Streitfall § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO entgegen, selbst wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzungen bestünden.

Nach § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO i.d.F. des Jahressteuergesetzes 1997 (JStG 1997) sind bei Steuerbescheiden sowohl die Aussetzung als auch die Aufhebung der Vollziehung auf die festgesetzte Steuer, vermindert um die anzurechnenden Steuerabzugsbeträge, um die anzurechnende Körperschaftsteuer und ”um die festgesetzten Vorauszahlungen”, beschränkt; dies gilt nicht, wenn die Aussetzung oder Aufhebung der Vollziehung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Diese Neuregelung ist am in Kraft getreten (Art. 32 Abs. 1 JStG 1997) und ist deshalb im Streitfall anwendbar (Art. 97 § 1 Abs. 6 des Einführungsgesetzes zur AbgabenordnungEGAO 1977— i.d.F. des JStG 1997, BGBl I 1996, 2075 ff.).

2. Die Voraussetzungen für die Beschränkung der AdV nach § 69 Abs. 2 Satz 8 Halbsatz 1 FGO liegen im Streitfall vor. Hiervon ist —hinsichtlich des Wortlauts der Vorschrift— auch das FG ausgegangen. Es hat indes die AdV der angefochtenen Umsatzsteuerbescheide für 1998 und 1999 zur Abwendung wesentlicher Nachteile für nötig erachtet (§ 69 Abs. 2 Satz 8 Halbsatz 2 FGO). Die Voraussetzungen dafür sind jedoch nicht gegeben.

a) Wesentliche Nachteile i.S. von § 69 Abs. 2 Satz 8 Halbsatz 2 FGO sind nur gegeben, wenn durch die Vollziehung der angefochtenen Steuerbescheide die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Steuerpflichtigen unmittelbar und ausschließlich bedroht sein würde (vgl. dazu Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 69 FGO Rz. 621, mit Nachweisen auf die Rechtsprechung des BFH). Diese Voraussetzungen hat die Antragstellerin weder substantiiert vorgetragen noch glaubhaft gemacht. Allein der Umstand, dass die Antragstellerin einstweilen nicht über die von ihr verlangten Mittel verfügen kann und Zahlungen im Wege der Kreditaufnahme finanzieren muss, ist kein wesentlicher Nachteil i.S. des § 69 Abs. 2 Satz 8 Halbsatz 2 FGO.

b) Für die vom FG vorgenommene verfassungskonforme Auslegung von § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO, nach der die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes abzuwägen sind, so dass bei einem Überwiegen der Erfolgsaussichten eine AdV zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint, bietet die Vorschrift keinen Anlass.

Sie grenzt eindeutig ab, dass einstweiliger Rechtsschutz bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit nur in den Grenzen von § 69 Abs. 2 Satz 8 Halbsatz 1 FGO und ohne diese Begrenzung nur gewährt wird, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 69 Abs. 2 Satz 8 Halbsatz 2 FGO). In diesem Rahmen garantiert Art. 19 Abs. 4 GG einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz. Die Ausgestaltung dieses Rechtsschutzes obliegt dem Gesetzgeber. Dieser muss hierbei lediglich sicherstellen, dass nicht aufgrund einer zu engen Begrenzung der Rechtsschutzmöglichkeiten zum Nachteil des Bürgers irreparable Folgen entstehen können. In dem so gezogenen Rahmen hat er jedoch einen Gestaltungsspielraum, den er mit § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO ausgefüllt hat.

c) Der Gesetzgeber konnte die AdV auf die Abwehr irreparabler Folgen (§ 69 Abs. 2 Satz 8 Halbsatz 2 FGO) in Fällen begrenzen, in denen der Steuerpflichtige —wie im Streitfall— festgesetzte Vorauszahlungen noch nicht geleistet hat. Auch wenn durch die Bekanntgabe der Umsatzsteuerbescheide für 1998 und 1999 die Vorauszahlungsbescheide und die dafür (1998) verfügte AdV gegenstandslos wurde, bleibt ein effektiver einstweiliger Rechtsschutz in dem geschilderten Umfang ausreichend gewährleistet. In diesem Fall ist es sachgerecht, Steuerpflichtige, die Vorauszahlungen geleistet haben und andere, die Vorauszahlungen nicht oder nicht vollständig geleistet haben, hinsichtlich des einstweiligen Rechtsschutzes gleich zu behandeln.

Im Übrigen schließt sich der erkennende Senat den Ausführungen in den erwähnten Beschlüssen in BFHE 190, 59, BStBl II 2000, 57 und in BFHE 192, 197, BStBl II 2000, 559 an. Das bedeutet, dass § 69 Abs. 2 Satz 8 Halbsatz 1 FGO der AdV eines Jahresumsatzsteuerbescheides trotz ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit im Umfang der festgesetzten Vorauszahlungen entgegensteht.

d) Der Senat hat im Urteil vom V R 42/99 entschieden, dass die entgeltliche Überlassung von urheberrechtlich geschützten Computerprogrammen nach § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. c UStG 1993 dem ermäßigten Steuersatz nur dann unterliegt, wenn der Urheber oder Nutzungsberechtigte dem Leistungsempfänger die in § 69c Satz 1 Nr. 1 bis 3 des Urheberrechtsgesetzes bezeichneten Rechte auf Vervielfältigung und Verbreitung nicht nur als Nebenfolge einräumt. Wenn der wirtschaftliche Gehalt des Vorgangs dagegen nicht auf die Verbreitung des Computerprogramms, sondern wirtschaftlich überwiegend auf seine Anwendung für die Bedürfnisse des Leistungsempfängers gerichtet ist, unterliegt der Umsatz dem regelmäßigen Steuersatz. Dadurch entfallen im Streitfall die ursprünglich vorhanden gewesenen ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Steuerbescheide.

3. Das FG ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Seine Entscheidung erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als im Ergebnis zutreffend, so dass der angefochtene Beschluss aufzuheben und der Antrag auf AdV abzulehnen ist.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



Fundstelle(n):
BFH/NV 2002 S. 519 Nr. 4
CAAAA-68390