Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) verlegte Anfang 1994 seinen Gewerbebetrieb, der das Feilbieten von Textilien und anderen Waren auf Märkten zum Gegenstand hatte, von Nordrhein-Westfalen nach Brandenburg. Ab führte er den Betrieb gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin, Frau A als Gesellschaft bürgerlichen Rechts.
Noch im Februar 1994 ging beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt —FA—) die steuerliche Anmeldung eines Unternehmens ”A und B” (GbR) ein. Der Beginn der betrieblichen Tätigkeit war mit dem , die Adresse mit X-Straße 55, Z und der Gegenstand des Unternehmens mit Textilverkauf angegeben. In der Anmeldung wurde auch darauf hingewiesen, dass ein bestehendes Unternehmen übernommen wurde. Die GbR erhielt eine Steuernummer und wurde im Veranlagungsbezirk 3 geführt.
Am wurde dem FA eine Durchschrift der Gewerbeummeldung des Klägers gegenüber der Stadtverwaltung Z vom übermittelt. Darin zeigte er die Verlegung seiner Betriebsstätte nach Z, X-Straße 55 an. Auf dieser Durchschrift findet sich der undatierte handschriftliche Vermerk: ”ist als GbR gelaufen”. Der Kläger erhielt eine Steuernummer und wurde im Veranlagungsbezirk 5 geführt.
Aus einem der Einkommensteuerakte vorgehefteten Änderungsnachweis, der vom datiert und die steuerlichen Grunddaten des Klägers enthält, geht u.a. hervor, dass der Kläger ab vierteljährlich und ab monatlich Umsatzsteuervoranmeldungen abzugeben hatte. Ab erfolgte keine Umsatzsteuerüberwachung mehr. Auf dem Änderungsnachweis findet sich der undatierte und nicht unterschriebene handschriftliche Vermerk ”gelöscht”.
Der Kläger gab nur für den Monat Januar des Streitjahres eine Umsatzsteuervoranmeldung ab (Umsatz: 2 779 DM; Vorsteuern: 554 DM). Für die Folgemonate wurden die Umsätze nicht geschätzt.
Im Sommer 1995 führte das FA eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung bei der GbR durch. Im Bericht vom wird ausgeführt, dass die GbR vom bis mit Textilien auf Märkten gehandelt und —unter Angabe der zutreffenden Steuernummer des Klägers— bei der Einbringung des Einzelunternehmens in die GbR Verbindlichkeiten aus Warenlieferungen übernommen habe.
Im Juli 1996 ging die Umsatzsteuererklärung für das Jahr 1993 beim FA ein (Umsatz: 188 750 DM; Vorsteuern: 26 802 DM). Für das Streitjahr gab der Kläger zunächst keine Erklärungen ab. Im August 1996 leitete das FA gegen ihn ein Strafverfahren wegen Nichtabgabe der Steuererklärungen und des damit verbundenen Verdachts der Steuerverkürzung ein. In seiner Vernehmung am wies der Kläger darauf hin, dass nach Auskunft seiner Beraterin die Umsatzsteuererklärungen für 1993 und 1994 dem FA vorlägen. Er habe zum mit seiner Lebensgefährtin eine GbR gegründet, die bis zum mit Textilien gehandelt habe. Möglicherweise habe er die beiden Steuernummern ”durcheinandergebracht”. Am Tag nach der Vernehmung ging beim FA eine Einnahme-Überschuss-Rechnung für das Jahr 1993 ein. Die Betriebseinnahmen stimmen mit den Angaben in der Umsatzsteuererklärung für das Jahr 1993 überein.
Noch im Oktober 1996 schätzte das FA die Besteuerungsgrundlagen des Einzelunternehmens des Klägers im Streitjahr —ausweislich eines handschriftlichen Vermerks— in Absprache mit der Beamtin, die die Vernehmung des Klägers am im Steuerstrafverfahren durchgeführt hatte. Der Gewinn wurde in Anlehnung an die Einnahme-Überschuss-Rechnung für das Jahr 1993 auf 48 000 DM geschätzt. Das FA wertete in der Steuerfestsetzung auch die Mitteilung der für die GbR zuständigen Veranlagungsstelle aus, die den Anteil des Klägers an den Einkünften der GbR auf 3 010 DM geschätzt hatte. Die Einkünfte aus Gewerbebetrieb betragen demnach im Einkommensteuerbescheid vom 51 010 DM, die festgesetzte Einkommensteuer 10 743 DM.
Am reichte der Kläger die Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1994 ein. Aus seiner Beteiligung an der GbR erklärte er einen Verlust in Höhe von 29 071 DM. Im Januar 1997 legte der Kläger Einspruch gegen die Einkommensteuerfestsetzung für das Jahr 1994 ein und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung führte er u.a. aus, er habe bereits im Jahr 1994 mehrmals dem FA mitgeteilt, dass sein Einzelunternehmen nicht mehr bestehe, sondern ab in die GbR eingebracht worden sei.
Im Juli 1997 erließ das FA einen geänderten Gewinnfeststellungsbescheid für das Jahr 1994, in dem der Anteil des Klägers am Verlust der GbR erklärungsgemäß mit 29 071 DM festgestellt wurde. Dies führte in der Folge zur Änderung des Einkommensteuerbescheids für das Streitjahr. Angesichts des Beteiligungsverlustes des Klägers wurden die Einkünfte des Klägers aus Gewerbebetrieb im Steuerbescheid vom auf 18 929 DM, die Einkommensteuer auf 2 238 DM herabgesetzt. Am selben Tag wurde der Einspruch des Klägers gegen den Einkommensteuerbescheid vom als unzulässig verworfen. Auch der Einspruch gegen den Änderungsbescheid vom blieb ohne Erfolg. Gegen die nach Erhebung der Klage gegen den Einkommensteuerbescheid vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom ergangene Einspruchsentscheidung ging der Kläger nicht vor.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Obgleich der Kläger gegen die zum Einkommensteuerbescheid vom ergangene Einspruchsentscheidung nicht vorgegangen sei, sei die Klage zulässig, da der Änderungsbescheid nichtig sei. Auch der Einkommensteuerbescheid vom sei nichtig. Für die Frage der Nichtigkeit eines Bescheids könne es nicht darauf ankommen, ob sich bei groben Schätzungsfehlern ein bewusstes Fehlverhalten des Sachbearbeiters feststellen lasse. Äußerlich sei eine bewusste Strafschätzung in der Regel nicht von einer nur auf Nachlässigkeit beruhenden weit überzogenen Schätzung zu unterscheiden. Im Streitfall sei den Steuerbescheiden für das Jahr 1994 ein Lebenssachverhalt zugrunde gelegt worden, der dem sich aufdrängenden und dem Inhalt der Steuerakten zu entnehmenden tatsächlichen Lebenssachverhalt entgegenstehe. Dies verletze die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden Anforderungen in so erheblichem Maße, dass von einem besonders schweren Fehler auszugehen sei, der die Nichtigkeit der Steuerbescheide zur Folge habe.
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung von § 125 der Abgabenordnung (AO 1977). Es beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidungen die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision ist unbegründet.
1. Die Klage war zulässig, obwohl der vor Klageerhebung am bekannt gegebene Einkommensteuerbescheid vom nicht auf Antrag des Klägers zum Gegenstand des Verfahrens wurde (§ 68 der Finanzgerichtsordnung —FGO— i.d.F. vor In-Kraft-Treten des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze —2.FGOÄndG— vom , BGBl I 2000, 1757). Der auf Abänderung des ursprünglichen Steuerbescheids vom gerichteten Klage fehlt nicht das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis, da die Gründe, die zur Nichtigkeit des Ausgangsbescheids führen (s.u. 2.), auch zur Unwirksamkeit des Änderungsbescheids vom führen und dieser somit keine Rechtswirkungen entfaltet.
2. Zu Recht hat das FG erkannt, dass der Einkommensteuerbescheid vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom nichtig ist, und der Klage stattgegeben.
a) Nach § 125 Abs. 1 AO 1977 ist ein Verwaltungsakt —und damit auch ein Steuerbescheid— nur dann nichtig, wenn er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies außerdem bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Diese Voraussetzungen sind nur ausnahmsweise gegeben; in der Regel ist ein rechtswidriger Verwaltungsakt lediglich anfechtbar. Um das Anfechtungserfordernis im Interesse der Rechtssicherheit nicht zu beeinträchtigen, hat die Rechtsprechung einen besonders schwerwiegenden Fehler nur angenommen, wenn er die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden Anforderungen in einem so hohen Maße verletzt, dass von niemandem erwartet werden kann, den ergangenen Verwaltungsakt als verbindlich anzuerkennen. Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, muss anhand der jeweiligen für das Verhalten der Behörde maßgebenden Rechtsvorschrift beurteilt werden (, BFHE 194, 1, BStBl II 2001, 381, m.w.N.).
b) Eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen, zu der die Finanzbehörden insbesondere bei Verletzung von Mitwirkungspflichten berechtigt und verpflichtet sind, verlangt die Berücksichtigung aller für die anzuwendende Steuerrechtsnorm einschlägigen Umstände. Die Vorschriften über die Schätzung erlauben es, Tatsachenfeststellungen mit einem geringeren Grad an Überzeugung zu treffen, als dies in der Regel (nach § 88 AO 1977) geboten ist (sog. Reduzierung des Beweismaßes; vgl. , BFHE 156, 38, BStBl II 1989, 462; vom X R 86/88, BFHE 165, 458, BStBl II 1992, 128). Der Grad der grundsätzlich erforderlichen Gewissheit (”Überzeugung”) reduziert sich in der Weise, dass der Sachverhalt aufgrund von Wahrscheinlichkeitserwägungen festgestellt werden darf. Dies bedeutet, dass sich das Gericht hinsichtlich nicht feststehender Tatsachen über gegebene Zweifel hinwegsetzen kann. Stets ist freilich vorauszusetzen, dass die Besteuerungsgrundlagen nicht ermittelt oder nicht berechnet werden können (§ 162 Abs. 1 AO 1977). Andererseits ist das gewonnene Schätzungsergebnis nur dann schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig (vgl. , BFH/NV 2001, 1217, m.w.N. der Rechtsprechung), wenn feststehende Tatsachen berücksichtigt werden.
c) Eine Schätzung erscheint nicht schon deswegen als rechtswidrig, weil sie von den tatsächlichen Verhältnissen abweicht; solche Abweichungen sind notwendig mit einer Schätzung verbunden, die in Unkenntnis der wahren Gegebenheiten erfolgt. Die Schätzung erweist sich vielmehr erst dann als rechtswidrig, wenn sie den durch die Umstände des Falles gezogenen Schätzungsrahmen verlässt. Wird die Schätzung erforderlich, weil der Steuerpflichtige —wie im Streitfall— seiner Erklärungspflicht nicht genügt, kann sich das FA an der oberen Grenze des Schätzungsrahmens orientieren, weil der Steuerpflichtige möglicherweise Einkünfte verheimlichen will (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 162 AO 1977 Rz. 79). Verlässt eine überzogene Schätzung diesen Rahmen, hat dies im Allgemeinen nur die Rechtswidrigkeit der Schätzung, nicht aber bereits ihre Nichtigkeit zur Folge. Nichtigkeit ist selbst bei groben Schätzungsfehlern, die auf der Verkennung der tatsächlichen Gegebenheiten oder der wirtschaftlichen Zusammenhänge beruhen, regelmäßig nicht anzunehmen (BFH-Urteil in BFHE 194, 1, BStBl II 2001, 381). Etwas anderes ist nach dieser Rechtsprechung, der der Senat folgt, zu erwägen, wenn sich das FA nicht nach dem Auftrag des § 162 Abs. 1 AO 1977 an den wahrscheinlichen Besteuerungsgrundlagen orientiert, sondern bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen geschätzt hat. Willkürmaßnahmen, die mit den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Verwaltung schlechterdings nicht zu vereinbaren sind, können einen besonders schweren Fehler i.S. von § 125 Abs. 1 AO 1977 abgeben (vgl. Tipke/ Kruse, a.a.O., Rz. 80; Trzaskalik in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 162 AO 1977 Rz. 42; Klein/Rüsken, Abgabenordnung, 7. Aufl. 2000, § 162 Rz. 50).
d) Willkürlich und damit nichtig i.S. von § 125 Abs. 1 AO 1977 ist ein Schätzungsbescheid nicht nur bei subjektiver Willkür des handelnden Bediensteten. Auch wenn das Schätzungsergebnis trotz vorhandener Möglichkeiten, den Sachverhalt aufzuklären und Schätzungsgrundlagen zu ermitteln, krass von den tatsächlichen Gegebenheiten abweicht und in keiner Weise erkennbar ist, dass überhaupt und ggf. welche Schätzungserwägungen angestellt wurden, wenn somit ein ”objektiv willkürlicher” Hoheitsakt vorliegt, ist Nichtigkeit i.S. von § 125 Abs. 1 AO 1977 gegeben. Es ist dann davon auszugehen, dass die Schätzung nicht mehr mit der Rechtsordnung und den diese Ordnung tragenden Prinzipien in Einklang steht, da das FA grundsätzlich gehalten ist, diejenigen Erkenntnismittel, deren Beschaffung und Verwertung ihm zumutbar und möglich gewesen wäre, auszuschöpfen (BFH-Urteil in BFHE 194, 1, BStBl II 2001, 381). Selbst wenn derartige Erkenntnismöglichkeiten und auch andere geeignete Anhaltspunkte für die Schätzung fehlen, muss es Ziel der Schätzung sein, die Besteuerungsgrundlagen annähernd zutreffend zu ermitteln. Die Schätzung darf nicht dazu verwendet werden, ”die Steuererklärungspflichtverletzung zu sanktionieren und den Kläger zur Abgabe der Erklärungen anzuhalten” (BFH in BFHE 194, 1, BStBl II 2001, 381); ”Strafschätzungen” eher enteignungsgleichen Charakters gilt es zu vermeiden.
e) Im Streitfall sind dem FA beim Erlass des Einkommensteuerbescheids vom grobe und auch i.S. von § 125 Abs. 1 AO 1977 offenkundige Schätzungsfehler unterlaufen, die im Steuerbescheid vom übernommen wurden und damit auch zur Nichtigkeit dieses Bescheids führen.
Obwohl der Kläger unstreitig nur im Januar 1994 als Einzelunternehmer tätig war, schätzte das FA den Gewinn des Einzelunternehmens für das gesamte Streitjahr. Dieser Schätzungsfehler beruht nach den vorstehenden Grundsätzen auf einem objektiv willkürlichen —seinerseits i.S. von § 125 AO 1977 offenkundig fehlerhaften— Verhalten des FA. Angesichts der den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des FG war dem für die GbR zuständigen Veranlagungsbezirk bekannt, dass der Kläger das Einzelunternehmen ab Februar 1994 nicht mehr fortführte, denn er und seine Mitgesellschafterin gaben bei der steuerlichen Anmeldung der GbR ausdrücklich an, dass das Einzelunternehmen durch die GbR übernommen worden sei. Zudem wurde dieser Sachverhalt in dem Prüfungsbericht der Umsatzsteuersonderprüfung ausdrücklich festgehalten. Auch ergibt sich aus den Steuerakten des Klägers, dass diese Informationen an den für die Besteuerung des Klägers zuständigen Veranlagungsbezirk weitergegeben wurden. Aus den steuerlichen Grunddaten geht hervor, dass der Kläger ab 1. Februar des Streitjahres keine Umsatzsteuer-Voranmeldungen mehr abzugeben hatte und keine Umsatzsteuerüberwachung mehr erfolgte. Da der Kläger ab Januar 1994 monatliche anstelle der vierteljährlichen Umsatzsteuer-Voranmeldungen abgeben musste, konnte daraus nur der Schluss gezogen werden, dass der Kläger seine Tätigkeit als Einzelunternehmer mit Wirkung zum eingestellt hatte. Darüber hinaus gab der Kläger im Streitjahr auch tatsächlich nur für den Monat Januar eine Umsatzsteuer-Voranmeldung ab und das FA schätzte die Besteuerungsgrundlagen dennoch nicht. Zugleich ergab sich aus der Mitteilung des für die GbR zuständigen Veranlagungsbezirks über die gesonderte und einheitliche Feststellung der Besteuerungsgrundlagen, dass der Kläger ab Februar 1994 an einer GbR beteiligt war, die Einkünfte aus Gewerbebetrieb erzielte und deren Sitz mit der Wohnanschrift des Klägers identisch war. Schließlich erfolgte die Schätzung in Abstimmung mit der Bearbeiterin der Bußgeld- und Strafsachenstelle, der gegenüber der Kläger bei seiner Vernehmung erklärte, dass nach Auskunft seiner Beraterin die Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr vorliege, er zusammen mit seiner Lebensgefährtin zum eine GbR gegründet und möglicherweise die Steuernummer ”durcheinandergebracht” habe.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2002 S. 1415 Nr. 11
KÖSDI 2003 S. 13572 Nr. 1
KAAAA-67881