BGH Urteil v. - 4 StR 193/17

Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus im Straf- und Sicherungsverfahren: Maßgeblicher Zeitpunkt für die Gefährlichkeitsprognose und Beurteilungszeitraum; Bedeutung zwischenzeitlicher außerstrafrechtlicher Unterbringung sowie von Behandlungsmaßnahmen und einer Betreuungsanordnung

Gesetze: § 63 StGB, § 67b StGB, § 126a StPO, § 1896 BGB, §§ 1896ff BGB, PsychKG NW

Instanzenzug: LG Bochum Az: 7 KLs 11/16

Gründe

1Das Landgericht hat nach Verbindung eines Strafverfahrens und eines Sicherungsverfahrens gegen den Angeklagten bzw. Beschuldigten (im Folgenden: Beschuldigten) sowohl im Strafverfahren als auch im Sicherungsverfahren verhandelt. Es hat den Beschuldigten von dem mit der Anklageschrift vom erhobenen Vorwurf, eine andere Person mittels eines gefährlichen Werkzeugs misshandelt und tateinheitlich dazu versucht zu haben, einen anderen Menschen rechtswidrig mit Gewalt zu einer Handlung zu nötigen, wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen und den im Straf- und Sicherungsverfahren gestellten Antrag der Staatsanwaltschaft, den Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen, abgelehnt. Mit ihrer zu Ungunsten des Beschuldigten eingelegten, vom Generalbundesanwalt vertretenen Revision rügt die Staatsanwaltschaft die Verletzung sachlichen Rechts. Sie wendet sich dagegen, dass das Landgericht nicht die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet hat.

I.

2Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

31. Der Beschuldigte leidet spätestens seit dem Jahr 2005 an einer chronifizierten paranoid-halluzinatorischen Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis (ICD-10 F 20.0). Von Mitte Dezember 2007 bis zum war er erstmals in stationärer psychiatrischer Behandlung. Danach lebte er unauffällig, bevor im Jahr 2013 aufgrund seiner psychischen Erkrankung schwere Wahnvorstellungen auftraten. Er fühlte sich von Geistern, die in seiner Wohnung leben würden, bedroht, beschimpft und sexuell missbraucht. Seinen Verfolgungs- und Vergiftungswahn projizierte er auf seine Nachbarn in einem Mehrfamilienhaus, die die Geister zu ihm schickten bzw. selbst böse Geister seien. Am sagte er zu einer Nachbarin, die er für den schlechten Zustand seiner schimmelbefallenen Wohnung verantwortlich machte: „I will kill you“. Die herbeigerufenen Polizeibeamten bedrohte er mit einem 20 cm langen Fleischermesser und äußerte: „Ich bringe jeden um, der sich mir nähert“. Ab dem war der Beschuldigte für vier Wochen in stationärer psychiatrischer Behandlung, die zu einer deutlichen Verbesserung der Symptomatik führte.

4a) Im weiteren Verlauf kam es wieder zu ausgeprägten Krankheitserscheinungen und in der Folge zu der dem Beschuldigten mit Anklageschrift vom zur Last gelegten Tat:

5Am Ostersonntag, dem , klingelte der Beschuldigte bei seinem Wohnungsnachbarn V.      und beschimpfte ihn, weil jener – was zutraf – den Flur nicht geputzt hatte. Er fasste V.       an den Hals und schubste ihn zurück in die Wohnung, wobei er schrie, er sei „ein Schwein und eine Drecksau“ und müsse den Flur putzen. Mit einem mitgeführten, etwa vier cm dicken Stock schlug er V.        und traf ihn u.a. am Arm. Es kam zu einem Gerangel; V.        flüchtete auf die Straße. Der Beschuldigte, der völlig außer sich war und laut herumschrie, ließ ihn nicht wieder ins Haus. Die eintreffenden Polizeibeamten überwältigten den Beschuldigten mit Hilfe von Pfefferspray. Er wurde bis zum nach dem PsychKG untergebracht. Nach medikamentöser Behandlung war er nicht mehr fremdaggressiv, blieb aber krankheitsuneinsichtig, weshalb er seine Medikamente nach der Entlassung absetzte.

6b) Zu den dem Beschuldigten mit der Antragsschrift im Sicherungsverfahren vom vorgeworfenen Taten hat das Landgericht im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:

7Im September 2014 zog der aus Kenia stammende O.   in die frühere Wohnung des V.        . Am lehnte sich der Beschuldigte aus dem Fenster und drohte dem vorbeigehenden O.   , ihn zu töten. Auch als uniformierte Polizeibeamte erschienen, drohte er, O.   abzustechen, weil der ein böser Geist sei, der ihm nach dem Leben trachte. Der Beschuldigte wurde bis zum nach dem PsychKG untergebracht und medikamentös behandelt.

8Im März 2015 flammten seine Wahnvorstellungen wieder auf. Am klingelte der Beschuldigte gegen 23.30 Uhr an der Wohnungstür des O.  . Er sagte zu seinem Nachbarn, er solle hier warten, heute werde er ihn umbringen. Dann lief er in seine Wohnung und holte ein 34 cm langes Messer mit einer Klingenlänge von 20 cm. O.   lief in seine Wohnung zurück und verschloss die Tür. Der Beschuldigte versuchte, die Tür gewaltsam zu öffnen, was ihm nicht gelang. Die Polizei erschien mit einem Sondereinsatzkommando und nahm den Beschuldigten in seiner Wohnung fest. Nachfolgend war er vom 31. März bis zum nach dem PsychKG untergebracht. Seine psychische Erkrankung war danach zunächst nicht mehr floride.

9Ende 2015/Anfang 2016 kam es wieder zu Wahnvorstellungen. Am 20. Januar und am trat der Beschuldigte jeweils gegen die Wohnungstür des O.   und beschädigte sie dadurch.

10c) Das sachverständig beratene Landgericht hat hinsichtlich dieser festgestellten rechtswidrigen Taten die Schuldfähigkeit des Beschuldigten verneint, weil eine krankhafte seelische Störung im Sinne des § 20 StGB zu allen Tatzeitpunkten mit Sicherheit zum Ausschluss der Einsichtsfähigkeit geführt habe. Der Beschuldigte habe sich zu den Tatzeitpunkten seinem Wahnsystem entsprechend einer nicht beherrschbaren, von Nachbarn ausgehenden Gefahr ausgesetzt gewähnt und sich „zur Wehr gesetzt“.

11d) Nach den Anlasstaten schlug der Beschuldigte am mehrmals mit einer Axt gegen die Wohnungstür des O.   , weil er glaubte, O.    beeinflusse seine Träume und verabreiche ihm Sprays, „um ihn schwul zu machen“. Der Beschuldigte äußerte, wenn der Nachbar da gewesen wäre, wäre es gefährlich geworden. Nach diesem Vorfall wurde der Beschuldigte zunächst nach dem PsychKG und dann bis zur Urteilsverkündung einstweilig untergebracht.

122. Das Landgericht hat die Anlasstaten als gefährliche Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Nötigung (), Bedrohung (), Bedrohung in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung (30./) und Sachbeschädigung (20. Januar und ) gewertet. Die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus ist nicht angeordnet worden. Es fehle bereits ein ausreichend hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für die Begehung erheblicher rechtswidriger Taten gegen die körperliche Unversehrtheit oder das Leben beliebiger Nachbarn. Auch wäre die Anordnung nicht verhältnismäßig.

II.

131. Soweit sich die Staatsanwaltschaft in ihrer Revisionsbegründung in Bezug auf das Strafverfahren nicht gegen den Freispruch, sondern nur gegen die Nichtanordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus wendet, liegt eine wirksame Rechtsmittelbeschränkung auf die unterbliebene Maßregelanordnung nicht vor. Die Aufspaltung des Urteils in seinen freisprechenden Teil und die unterbliebene Maßregelanordnung ist hier nicht möglich, weil die Feststellungen zum Tatgeschehen und zur Motivation des Beschuldigten mit denjenigen zur Schuldunfähigkeit, die zugleich Unterbau des Freispruchs und Voraussetzung der Unterbringung nach § 63 StGB ist, in einem untrennbaren Zusammenhang stehen ().

142. Das Urteil hält materiell-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

15Die Ablehnung der Maßregelanordnung gemäß § 63 StGB begegnet durchgreifenden Bedenken.

16a) Das Landgericht ist zwar im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend davon ausgegangen, dass der maßgebliche Zeitpunkt für die Prognoseentscheidung des Tatrichters derjenige der Hauptverhandlung ist (vgl. , NJW 1978, 599; vom – 1 StR 437/03; vom – 2 StR 209/05, StraFo 2005, 472). Dies bedeutet aber nicht, dass die Gefährlichkeitsprognose nur bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung zu stellen ist; sie muss vielmehr einen längeren Zeitraum in den Blick nehmen. Daher muss auch in Fällen, in denen auf Grund einer zwischenzeitlichen Behandlung – etwa, wie hier, während der Unterbringung nach dem PsychKG und der einstweiligen Unterbringung – im Urteilszeitpunkt eine Stabilisierung des Krankheitsbildes eingetreten ist, im Interesse der öffentlichen Sicherheit bei der Prognoseentscheidung der Umstand in die Abwägung einbezogen werden, dass in späterer, aber absehbarer Zeit mit einer erneuten Verschlechterung des Gesundheitszustandes und der Wahrscheinlichkeit erneuter rechtswidriger Taten zu rechnen ist (, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 6).

17Dies hat das Landgericht verkannt und den Beurteilungszeitraum rechtsfehlerhaft verkürzt. Es hat die Gefährlichkeitsprognose allein deshalb verneint, weil bei dem jetzigen Gesundheitszustand des Beschuldigten, der bei (derzeit) ausreichender Medikation und entsprechender Betreuung eine retardierte, devote Haltung einnehme, keine überwiegende Wahrscheinlichkeit der Begehung von erheblichen Straftaten bestehe (UA S. 27). Hingegen hat es die gutachterliche Stellungnahme des Sachverständigen, die gegen eine längerfristige Stabilisierung der psychischen Erkrankung des Beschuldigten spricht, bei Beurteilung seiner Gefährlichkeit außer Acht gelassen.

18Der Sachverständige Dr. M.   , dem die Strafkammer aufgrund eigener Überzeugungsbildung gefolgt ist (UA S. 24, 26), hat zur Prognose ausgeführt, dass die aktuelle Gesundheitssituation des Beschuldigten nicht günstig sei, da sein Zustandsbild fortdauernd bestehe und er keine Mitwirkungsbereitschaft bei der Behandlung seiner Erkrankung zeige. So sei die Einnahme von Medikamenten nur im klinischen Umfeld erfolgt. Hinzu komme, dass der Beschuldigte auf die erforderliche Gabe wirksamer Neuroleptika stark reagiere. Sein Wahnsystem flaue unter Medikamentengabe zwar ab, es komme aber als Nebenwirkung zu einem roboterhaften Auftreten des Beschuldigten; sein gesamter Gedankenfluss sei verlangsamt und er könne sich nicht allein versorgen. Der Beschuldigte habe kein soziales Umfeld, insbesondere keine Wohnung mehr und werde in eine Obdachlosigkeit geraten. Seine Tabletten werde er ohne das beschützende Umfeld nicht weiter einnehmen. Deshalb sei es sicher, dass das Wahnsystem bald wieder anspringe. Da er bei florider Psychotik aggressiv sei, sei dann zu befürchten, dass es zu ähnlichen wie den hier verfahrensgegenständlichen Taten komme. In den letzten zwei Jahren zeige sich zudem eine deutliche Zunahme seiner Aggressivität und eine zunehmende Gefährlichkeit seiner Handlungen.

19Diese Ausführungen des Sachverständigen sind mit einer positiven Gefahrprognose nicht in Einklang zu bringen. Vielmehr besteht danach die naheliegende Gefahr, dass mit dem Abklingen des bisherigen Behandlungserfolgs– wie sich auch bereits nach früheren Unterbringungen nach dem PsychKG gezeigt hat – in absehbarer Zeit mit erneuten Wahnvorstellungen und damit verbunden rechtswidrigen Taten gerechnet werden muss. Dies hätte das Landgericht bei seiner Abwägung zur Gefahrprognose berücksichtigen müssen.

20b) Auch die Erwägungen, die das Landgericht zur Verhältnismäßigkeit der Anordnung der Maßregel angestellt hat, vermögen die Entscheidung nicht zu tragen. Außerstrafrechtliche Sicherungssysteme, um der Gefährlichkeit des Beschuldigten entgegenzuwirken, hier die vom Landgericht angeführten Maßnahmen der Betreuung mit den Möglichkeiten des Bürgerlichen Gesetzbuchs, der Depotgabe von Psychopharmaka und der Unterbringung in einem betreuten Wohnen, stehen der Anordnung der Maßregel nicht entgegen (, BGHR StGB § 63 Beweiswürdigung 1; vom – 4 StR 596/09, juris Rn. 16). Solche täterschonenden Mittel– ihre Wirksamkeit vorausgesetzt – erlangen Bedeutung erst für die Frage, ob die Vollstreckung der Unterbringung gemäß § 67b StGB zur Bewährung ausgesetzt werden kann (, juris Rn. 14; vom – 3 StR 469/08, NStZ 2009, 260 f.).

21c) Hinzu kommt hier, dass die Strafkammer die Wirksamkeit der von ihr aufgezeigten Möglichkeiten zu einer Reduzierung der Gefährlichkeit des Beschuldigten nicht mit Tatsachen belegt hat. Das Urteil verhält sich nicht zu der Frage, wie eine ausreichende Medikation des krankheitsuneinsichtigen Beschuldigten sichergestellt werden soll. Der Umstellung auf eine Depotmedikation könnten die anderen Erkrankungen des Beschuldigten entgegenstehen (UA S. 21). Bezüglich der Aufnahme des Beschuldigten in einem betreuten Wohnen war zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung nichts veranlasst. Dafür, dass allein die auf Anregung der Strafkammer erfolgte Einrichtung einer vorläufigen Betreuung die Gefährlichkeit des Beschuldigten ausräumen würde, ist nach den bisherigen Feststellungen nichts ersichtlich.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2017:030817U4STR193.17.0

Fundstelle(n):
NAAAG-59574