Nichtzulassungsbeschwerde - sozialgerichtliches Verfahren - Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - Fristversäumung - Anforderung an eine Unterschrift - rechtliches Gehör
Gesetze: § 160a Abs 1 S 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 SGG, § 67 Abs 1 SGG, § 73 Abs 4 SGG, § 124 Abs 1 SGG, § 124 Abs 2 SGG, Art 103 Abs 1 GG
Instanzenzug: SG Freiburg (Breisgau) Az: S 19 R 4303/13 Gerichtsbescheidvorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg Az: L 9 R 2664/14 Urteil
Gründe
1I. Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin Rente wegen Erwerbsminderung gewähren muss.
2Im Verwaltungsverfahren zog die Beklagte ein Gutachten des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. Z. bei und lehnte den Rentenantrag der Klägerin ab, weil sie nach dem Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme nicht erwerbsgemindert sei (Bescheid vom und Widerspruchsbescheid vom ). Das SG Freiburg hat die Klage nach Beiziehung von Befundberichten abgewiesen (Gerichtsbescheid vom ).
3Im Berufungsverfahren hat die Klägerseite am einer "Entscheidung nur nach Aktenlage" zugestimmt und sich mit Schriftsatz vom für die Ausführungen im Richterbrief vom bedankt, wonach das Gericht ihre Erklärung "als Zustimmung zu einer Entscheidung des Rechtstreits im schriftlichen Verfahren, also ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung" werte. Am ist beim LSG die angeforderte Akte des SG Freiburg aus dem Schwerbehindertenverfahren S 16 SB 4076/13 eingegangen. Das LSG hat eine Kopie des dort eingeholten Gerichtsgutachtens des niedergelassenen Neurologen und Psychiaters Dr. B. aus K. vom zur Gerichtsakte genommen und gleichzeitig dessen "schriftliche Vernehmung als sachverständiger Zeuge über die … im Laufe der Behandlung d. Kläg. getroffenen Feststellungen" angeordnet. Nachdem Dr. B. darauf hingewiesen hatte, dass er die Klägerin nicht behandelt, sondern nur begutachtet habe, die Beklagte einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren ohne mündliche Verhandlung telefonisch zugestimmt und eine beratungsärztliche Stellungnahme des Sozialmediziners Dr. S. vom vorgelegt hatte, hat das LSG die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des SG Freiburg durch Urteil vom ohne mündliche Verhandlung zurückgewiesen und die Revision nicht zugelassen.
6Die Klägerin beantragt,die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom zuzulassen.
7Die Beklagte, die keinen Antrag gestellt hat, weist darauf hin, dass die Unterschriften auf der Berufungsschrift und auf der Vollmacht vom nicht derselben Person zuzuordnen seien, so dass unklar sei, "ob die Berufung ordnungsgemäß erhoben wurde".
9II. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im ist zulässig (1.) und begründet (2.).
101. Sie ist - nach Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - fristgerecht eingelegt und begründet und auch im Übrigen zulässig.
11Gemäß § 160a Abs 1 S 3 und Abs 2 SGG ist die Beschwerde schriftlich einzulegen und zu begründen; in der Begründung muss der geltend gemachte Verfahrensmangel bezeichnet werden (§ 160a Abs 2 S 3 SGG). Um das Schriftformerfordernis zu erfüllen, müssen sowohl Beschwerdeeinlegungs- als auch -begründungsschrift von einem beim BSG nach § 73 Abs 4 SGG zugelassenen Prozessbevollmächtigten eigenhändig unterschrieben sein. Weder die Beschwerdeschrift vom noch die Beschwerdebegründungsschrift vom schließen jedoch mit einer Unterschrift ab (nachfolgend a). Die von dem beigeordneten Rechtsanwalt W. ordnungsgemäß unterzeichnete Beschwerdeeinlegungs- und -begründungsschrift vom ist dagegen erst nach Ablauf der einmonatigen Beschwerdefrist und der verlängerten Beschwerdebegründungsfrist eingereicht worden (nachfolgend b). In beide versäumten Fristen ist der Klägerin jedoch gemäß § 67 Abs 1 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (nachfolgend c). Schließlich ist die Verletzung des Grundsatzes der Mündlichkeit (§ 124 Abs 1 und 2 SGG) iVm dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) hinreichend bezeichnet (nachfolgend d).
12a) Mit dem Begriff der Unterschrift verbindet der Sprachgebrauch ein Gebilde aus Buchstaben einer üblichen Schrift, dh einen Schriftzug, der sich - ohne lesbar sein zu müssen- als Wiedergabe eines Namens darstellt und die Absicht einer vollen Unterschriftsleistung erkennen lässt ( 7/2 RU 35/68 - SozR Nr 12 zu § 151 SGG - Juris RdNr 16; - BAGE 151, 66 RdNr 19 mwN). Erforderlich, aber auch genügend ist das Vorliegen eines die Identität des Unterschreibenden ausreichend kennzeichnenden Schriftzuges, der individuelle und entsprechend charakteristische Merkmale aufweist, die die Nachahmung erschweren, selbst wenn er nur flüchtig niedergelegt und von einem starken Abschleifungsprozess gekennzeichnet ist (BGH Beschlüsse vom - VIII ZB 105/04 - NJW 2005, 3775 und vom - VIII ZB 62/12 - NJW-RR 2013, 1395, 1396). Die Mängel dürfen jedoch nicht so weit gehen, dass der "Schriftzug" nicht mehr als solcher angesprochen werden kann, weil seine Entstehung aus der ursprünglichen Schrift in Buchstaben nicht einmal andeutungsweise zu erkennen ist. Es muss ein Mindestmaß an Ähnlichkeit mit dieser Schrift in dem Sinn erhalten geblieben sein, dass ein Dritter, der den Namen des Unterzeichnenden kennt, diesen Namen aus dem Schriftbild noch herauslesen kann, der Unterzeichnende also erkennbar bleibt (BSG SozR Nr 12 zu § 151 SGG - Juris RdNr 16 und Urteil vom - 11 RA 189/74 - SozR 1500 § 151 Nr 3). Allein aus den hakenförmigen Linienführungen unterhalb der Beschwerdeschrift vom und der Beschwerdebegründungsschrift vom , die keine individuell-charakteristische Merkmale aufweisen, keine Buchstaben erkennen lassen und damit die (fälschende) Nachahmung geradezu erleichtern, können neutrale Dritte den Namen von Rechtsanwalt "G." selbst dann nicht herauslesen, wenn sie den Namen kennen. Dass der beigeordnete Rechtsanwalt W. oder sonstige Kanzleiangehörige aus der Linienführung sofort auf den Unterzeichner schließen (können), genügt insofern nicht. Dass die hakenförmige Linienführung weder seinen Namen wiedergibt noch die Absicht erkennen lässt, eine volle Unterschrift zu leisten, räumt Rechtsanwalt G. mit seiner Unterschrift auf der eidesstattlichen Versicherung vom unausgesprochen selbst ein. Denn die dortige Signatur enthält die deutlich lesbaren Buchstaben "G.", ein stilisiertes "" sowie im Schlussschwung ein angedeutetes "" und erfüllt damit - anders als die Linienführungen unterhalb der Beschwerdeeinlegungs- und -begründungsschrift - die og Anforderungen an eine Unterschrift. Ob es sich bei der hakenförmigen Linienführung, die Rechtsanwalt G. unter der eidesstattlichen Versicherung rechts neben der Unterschrift noch einmal wiederholt, überhaupt schon um eine Paraphe handelt, kann offenbleiben, weil die bloße Paraphierung bestimmender Schriftsätze die volle Unterschriftsleistung keinesfalls ersetzt (BSG SozR 1500 § 151 Nr 3; BSG SozR Nr 12 zu § 151 SGG; - NJW 1996, 3164 f; - BFHE 188, 528; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 6. Aufl 2011, Kap IX, RdNr 142). Denn die Paraphierung deutet auf ein flüchtiges Abzeichnen, nicht aber auf die Übernahme der vollen Verantwortung für den Inhalt eines bestimmenden Schriftsatzes hin (BAG NJW 1996, 3164 f). Eine der Unterschrift vergleichbare Gewähr für die Urheberschaft von Rechtsanwalt G. und dessen Willen, die Schriftsätze vom 11.2. und in den Rechtsverkehr zu bringen, bietet schließlich auch nicht die Verwendung des Briefbogens seiner Kanzlei und deren Faxkennung in der Kopfzeile (vgl dazu BAGE 151, 66 RdNr 23).
13b) Die Beschwerde und ihre Begründung vom sind indes verfristet. Wie sich aus dem Schreiben des Senatsvorsitzenden vom an den beigeordneten Rechtsanwalt ergibt, war die Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde innerhalb der Monatsfrist des § 67 Abs 2 SGG nachzuholen und die Beschwerdebegründung innerhalb der Zwei-Monats-Frist entsprechend § 160a Abs 2 S 1 SGG - mit einmaliger Verlängerungsmöglichkeit um höchstens einen Monat (§ 160a Abs 2 S 2 SGG entsprechend) - jeweils nach Zustellung des Senatsbeschlusses vom einzureichen. Da der Senatsbeschluss der Klägerin am wirksam zugestellt worden ist, begannen beide Fristen am (§ 64 Abs 1 SGG) und liefen am Montag, den (§ 64 Abs 2 S 1 und Abs 3 SGG) bzw - nach antragsgemäßer Verlängerung - am ab, so dass die Beschwerde und ihre Begründung am verspätetet beim BSG eingingen.
14c) Auf ihren Antrag ist der Klägerin jedoch gemäß § 67 Abs 1 SGG Wiedereinsetzung in die versäumten Fristen zur Einlegung und Begründung der Beschwerde zu gewähren. Denn sie war ohne Verschulden verhindert, diese gesetzlichen Verfahrensfristen einzuhalten, und sie hat den Wiedereinsetzungsantrag nach Hinweis des Senats vom binnen eines Monats am gestellt sowie die versäumten Rechtshandlungen (Beschwerdeeinlegung und -begründung) nachgeholt (§ 67 Abs 1, Abs 2 S 1 und 3 SGG). Schuldlos handelt, wer diejenige Sorgfalt beachtet, die einem gewissenhaften Prozessführenden, der seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnimmt, nach den Gesamtumständen des konkreten Falles zuzumuten ist (Senatsbeschluss vom - B 5a R 340/07 B - SozR 4-1500 § 67 Nr 7 RdNr 14 und - Juris RdNr 7). Weder der Klägerin selbst noch ihren Prozessbevollmächtigten, deren Verschulden sie sich gemäß § 73 Abs 6 S 6 SGG iVm § 85 Abs 2 ZPO zurechnen lassen müsste (Senatsurteil vom - B 5 RJ 10/01 R - SozR 3-1500 § 67 Nr 21 S 60 mwN; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 67 RdNr 3e), ist wegen der Versäumung der Beschwerdeeinlegungs- und -begründungsfrist ein Schuldvorwurf zu machen. Zwar hat sich ein Rechtsanwalt über den Stand der Rechtsprechung zu unterrichten (BGH Beschlüsse vom - VII ZB 43/12 - NJW 2013, 1966 f; vom - II ZB 19/98 - NJW 1999, 60 und vom - IV ZB 115/78 - NJW 1979, 877). Rechtsanwalt G. mussten daher auch die höchstrichterlichen Anforderungen an eine ordnungsgemäße Unterzeichnung bestimmender Schriftsätze bekannt sein. Auf der anderen Seite haben die Verfahrensbeteiligten und ihre Bevollmächtigten ein (Grund-)Recht auf faire Verfahrensgestaltung, das sich verfassungsrechtlich aus Art 1 Abs 1, Art 2 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG und aus Art 19 Abs 4 GG (BVerfG Beschlüsse vom - 2 BvR 747/73 - BVerfGE 38, 105, 111; vom - 2 BvR 215/81 - BVerfGE 57, 250, 275; vom - 1 BvR 669/87 ua - NJW 1988, 2787; vom - 1 BvR 901/03 - NVwZ 2004, 334 sowie Nichtannahmebeschluss der 2. Kammer des 1. Senats vom - 1 BvR 2147/00 - NJW 2001, 1343 und Kammerbeschluss der 3. Kammer des 1. Senats vom - 1 BvR 622/98 - NJW 2004, 2149, 2150; Senatsbeschlüsse vom - B 5 R 196/12 B - SozR 4-1500 § 67 Nr 10 RdNr 8 und B 5 R 168/12 B - SozR 4-1500 § 73a Nr 9 RdNr 7) sowie einfachrechtlich aus Art 6 Abs 1 S 1 EMRK ( - Juris RdNr 4) herleitet. Danach darf sich das Gericht nicht widersprüchlich verhalten ( - BVerfGE 69, 381, 387), darf aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten (BVerfG Beschlüsse vom - 1 BvR 1077/77 - BVerfGE 51, 188, 192; vom - 1 BvR 1379/80 - BVerfGE 60, 1, 6 und vom - 1 BvR 162/84 - BVerfGE 75, 183, 190) und ist allgemein zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (BVerfGE 38, 105, 111 ff; BVerfG Beschlüsse vom - 2 BvR 1074/74 - BVerfGE 40, 95, 98 f und vom - 2 BvR 462/77 - BVerfGE 46, 202, 210). Deshalb dürfen aus Formvorschriften ohne Vorwarnung keine nachteiligen Folgen für den Bürger abgeleitet werden, falls derselbe Spruchkörper die von ihm bereits (stillschweigend) gebilligte Form einer Unterschrift nicht mehr hinnehmen möchte (, 1 BvR 686/87, 1 BvR 687/87 - BVerfGE 78, 123, 126; - Juris RdNr 20). Vorliegend ist zu berücksichtigen, dass Rechtsanwalt G. die Anträge auf Akteneinsicht vom (vgl Bl 29 BSG-Akte; die Abschrift dieses Schriftsatzes ist in der Unterschriftszeile mit dem Stempelaufdruck "gez. G." versehen) und auf Verlängerung der Beschwerdebegründungsfrist vom ebenso unterzeichnet hat wie die hier in Rede stehenden Beschwerdeeinlegungs- und -begründungsschriften und ihm daraufhin Akteneinsicht und Fristverlängerung gewährt worden ist, ohne dass die Unterschrift beanstandet worden wäre. Schon deshalb durfte Rechtsanwalt G. darauf vertrauen, dass seine Linienführung den in der Rechtsprechung anerkannten Anforderungen entsprach (zum verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutz vgl BVerfG Beschluss der 2. Kammer des 1. Senats vom - 1 BvR 1023/96 - NJW 1988, 1853). Folglich kommt die Verwerfung der Beschwerde als unzulässig unter dem Gesichtspunkt der fairen Verfahrensgestaltung nicht in Betracht (vgl BVerfGE 78. 123, 126 f; BGH Beschlüsse vom - I ZB 6/90 - NJW-RR 1991, 511 und vom , aaO).
15d) Im Übrigen genügt die Beschwerdebegründung den Darlegungserfordernissen des § 160a Abs 2 S 3 SGG. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der ausdrücklich gerügte Verfahrensmangel einer Verletzung des Grundsatzes der Mündlichkeit (§ 124 Abs 1 und 2 SGG) iVm dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) ergibt. Die Klägerin behauptet, das LSG habe ihre Berufung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zurückgewiesen, obwohl es nach Zugang ihrer diesbezüglichen Einverständniserklärung vom am noch das Gutachten des Sachverständigen Dr. B. aus dem Schwerbehindertenverfahren S 16 SB 4976/13 beigezogen und die Beklagte eine beratungsärztliche Stellungnahme vom vorgelegt habe. In dieser Situation sei es ermessensfehlerhaft gewesen, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden. Vertiefte Ausführungen dazu, dass die angefochtene Entscheidung auf dem gerügten Verfahrensmangel beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG), waren wegen der besonderen Wertigkeit der mündlichen Verhandlung als Kernstück des sozialgerichtlichen Verfahrens ausnahmsweise entbehrlich. Stattdessen genügt es, wenn dem Beschwerdevortrag - wie hier - noch hinreichend deutlich zu entnehmen ist, dass eine andere Entscheidung nicht auszuschließen ist, wenn der Betroffene Gelegenheit gehabt hätte, in der mündlichen Verhandlung vorzutragen ( - BSGE 44, 292 = SozR 1500 § 124 Nr 2 sowie Beschlüsse vom - B 1 KR 112/09 B - und vom - B 1 KR 144/10 B - Juris RdNr 5; vgl auch Keller, aaO, § 62 RdNr 11c).
162. Die Beschwerde ist auch begründet. Das angegriffene Urteil des Berufungsgerichts ist verfahrensfehlerhaft ergangen, weil im Zeitpunkt der Entscheidung keine wirksame Einverständniserklärung vorlag und deshalb nicht ohne mündliche Verhandlung entschieden werden durfte. Infolgedessen braucht auf die Sachaufklärungsrüge (§ 103, § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 403 ZPO), auf die geltend gemachte Verletzung gegen das "Gebot des fairen und effektiven Rechtsschutzes" (Art 1 Abs 1, Art 2 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG; Art 19 Abs 4 GG; Art 6 Abs 1 S 1 EMRK) und die angeblich unter Verstoß gegen das Prinzip der Rechtschutzgleichheit (Art 3 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG) unterbliebene Bescheidung eines Prozesskostenhilfegesuchs nicht weiter eingegangen zu werden.
17Das Gericht entscheidet nach § 124 Abs 1 SGG, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz der Mündlichkeit enthält § 124 Abs 2 SGG. Danach kann das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden. Als Prozesshandlung muss die Einverständniserklärung klar, eindeutig und vorbehaltlos sein (Senatsbeschluss vom - B 5 R 306/07 B - Juris RdNr 10; BSGE 44, 292, 294 = SozR 1500 § 124 Nr 2 S 4). Die Zustimmung der Klägerin zu einer "Entscheidung nur nach Aktenlage" war jedoch mehrdeutig, weil sie - wortgetreu - auch als Antrag gemäß § 126 SGG aufgefasst werden konnte, nach Aktenlage zu entscheiden. Diese Mehrdeutigkeit war dem LSG auch bewusst, wie der Richterbrief vom belegt, wonach das Gericht die Erklärung der Klägerin "als Zustimmung zu einer Entscheidung des Rechtsstreits im schriftlichen Verfahren, also ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung" werte. Indem sich die Klägerin mit Schriftsatz vom für den Richterbrief vom bedankte, beseitigte sie weder die Mehrdeutigkeit ihrer ursprünglichen Erklärung noch stimmte sie einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung iS von § 124 Abs 2 SGG klar und vor allem eindeutig zu. Folglich lag von vornherein keine Einverständniserklärung vor.
18Aber selbst wenn man mit dem LSG und den Beteiligten vom Vorliegen einer Einverständniserklärung ausginge (vgl dazu auch Keller, aaO, § 124 RdNr 3c: "Die Erklärung ist eindeutig, wenn zB 'Einverständnis mit einer Entscheidung nach Lage der Akten' erklärt wird"), wäre sie im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung am jedenfalls nicht mehr wirksam gewesen. Eine Einverständniserklärung iS des § 124 Abs 2 SGG verliert ihre Wirksamkeit, wenn sich nach ihrer Abgabe die bisherige Tatsachen- oder Rechtsgrundlage und damit die Prozesssituation wesentlich ändert (BSG Beschlüsse vom - B 9 SB 45/10 B - Juris RdNr 14 und vom - B 2 U 132/15 B - Juris RdNr 8). Das ist zB der Fall, wenn Zeugen vernommen (BSGE 44, 292 = SozR 1500 § 124 Nr 2), Beteiligte angehört ( - Juris RdNr 18), Auskünfte eingeholt ( - SozR 1500 § 124 Nr 3) oder Akten beigezogen werden ( III C 83.67 - NJW 1969, 252). Dasselbe wird für den Fall angenommen, dass ein Schriftsatz des Rechtsmittelgegners mit erheblichem neuen Vorbringen oder neuen Beweismitteln oder Anträgen eingereicht wird (vgl dazu und zum Ganzen: - SozR 3-1500 § 124 Nr 4 S 8). Da die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 124 Abs 1 SGG der prozessrechtliche Regelfall ist und die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung die Ausnahme darstellt, muss das Gericht im Entscheidungszeitpunkt von Amts wegen das Bestehen eines wirksamen Einverständnisses nach § 124 Abs 2 SGG prüfen ( - Juris RdNr 14 und vom - B 2 U 359/12 B - Juris RdNr 10). Die Beteiligten sind daher bei Eintritt einer wesentlichen Änderung der Prozesslage nicht gehalten, das Gericht darauf hinzuweisen, dass ihre Einverständniserklärung unwirksam geworden ist, oder gar ihre Einverständniserklärung dem Gericht gegenüber ausdrücklich zu widerrufen ( aaO).
19Vergleicht man die jeweiligen Verhältnisse in den Zeitpunkten der Einverständniserklärung am und der Berufungsentscheidung am , so hat sich die Tatsachengrundlage bereits dadurch wesentlich geändert, dass das LSG die Gerichtsakte aus dem Schwerbehindertenverfahren S 16 SB 4076/13 angefordert und das dortige Gerichtsgutachten des niedergelassenen Neurologen und Psychiaters Dr. B. beigezogen hatte. Schon dies hätte eine neue Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 SGG erfordert. Dasselbe gilt für die Vorlage der beratungsärztlichen Stellungnahme des Sozialmediziners Dr. S. vom , die rechtlich als qualifiziertes Beteiligtenvorbringen der Beklagten zu werten ist ( - USK 8999). Derartiges Beteiligtenvorbringen hat das Gericht bei seiner freien Überzeugungsbildung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG) zu berücksichtigen ( - SozR Nr 68 zu § 128 SGG; vom - 2/9b RU 66/87 - HV-Info 1989, 410 ff und vom - 2 RU 55/88 - USK 8999) und kann sogar alleinige Entscheidungsgrundlage sein ( sowie vom und , aaO). Es führt deshalb ebenfalls zwingend zur Änderung der bisherigen Tatsachengrundlage. In dieser Situation braucht auf den aktenkundigen Umstand, dass die Stellungnahme des Dr. S. der Klägerin erst am , dh einen Tag nach der Entscheidung des LSG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung übersandt worden ist, nicht weiter eingegangen zu werden.
20Eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren, für die keine wirksame Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 SGG vorliegt, verletzt regelmäßig zugleich den Anspruch des Beteiligten auf rechtliches Gehör gemäß § 62 SGG (BSG Beschlüsse vom - B 2 U 135/04 B - SozR 4-1500 § 124 Nr 1 RdNr 12 und vom - B 2 U 359/12 B - Juris RdNr 12). Gerade die in Art 6 Abs 1 EMRK grundsätzlich vorgeschriebene mündliche Verhandlung bietet eine besondere Gewähr zur Wahrung des rechtlichen Gehörs. Es ist indes nicht auszuschließen, dass das LSG zu einem für die Klägerin günstigeren Ergebnis gekommen wäre, wenn sie in der mündlichen Verhandlung Gelegenheit gehabt hätte, zum Gutachten des Dr. B. und zur beratungsärztlichen Stellungnahme des Dr. S. Anträge und Ergänzungsfragen erstmals zu stellen bzw zu wiederholen oder sonstige Einwendungen zu erheben.
21Soweit die Beklagte unter Hinweis auf die unterschiedlichen Unterschriften auf der Berufungsschrift und auf der Vollmacht vom die formgerechte Berufungseinlegung (§ 151 Abs 1 SGG) in Frage stellt, sind entsprechende Zweifel unberechtigt. Denn bereits im Prozesskostenhilfeverfahren ist auf Nachfrage des Senats klargestellt worden, dass die Berufungsschrift von der Schwester der Klägerin, Frau A. Ö., befugterweise (§ 73 Abs 2 S 2 Nr 2 SGG) unterschrieben worden ist und die Klägerin sie dazu bevollmächtigt hatte.
22Liegen - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vor, kann das BSG auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen (§ 160a Abs 5 SGG). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
23Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2016:061016BB5R4516B0
Fundstelle(n):
DAAAG-56702