Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren - vorläufige Entscheidung über Leistungen nach dem SGB 2 - Folgen einer abschließenden Entscheidung für ein laufendes Widerspruchsverfahren
Leitsatz
Eine abschließende Entscheidung über Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ersetzt und erledigt eine vorläufige Entscheidung und wird Gegenstand des gegen diese laufenden Widerspruchsverfahrens.
Gesetze: § 86 SGG, § 96 Abs 1 SGG, § 39 Abs 2 SGB 10, SGB 2
Instanzenzug: SG Neubrandenburg Az: S 12 AS 568/14 Urteil
Tatbestand
1Die Beteiligten streiten über die Statthaftigkeit eines Widerspruchs gegen die eine vorläufige Entscheidung ersetzende abschließende Entscheidung für Januar 2014.
2Das beklagte Jobcenter bewilligte dem Kläger unter Verweis auf den insoweit noch offenen Heizkostenabschlag für Januar 2014 Alg II zunächst vorläufig vom bis (Bescheid vom ). Den gegen diesen Bescheid insgesamt vom Kläger eingelegten Widerspruch erfasste der Beklagte als Widerspruchsverfahren W 1247/13. Während dieses Widerspruchsverfahrens bewilligte er dem Kläger für Januar 2014 höheres Alg II und berücksichtigte hierdurch die Regelbedarfserhöhung ab (Änderungsbescheid vom ). Anschließend bewilligte der Beklagte dem Kläger während dieses Widerspruchsverfahrens für Januar 2014 höheres Alg II als zuletzt durch den Bescheid vom bewilligt, den er insoweit aufhob, und berücksichtigte hierbei neben der Regelbedarfserhöhung den neuen Heizkostenabschlag (Änderungsbescheid vom ). In dem das Widerspruchsverfahren W 1247/13 beendenden Widerspruchsbescheid vom stellte der Beklagte ua fest, "dass sich der Widerspruch gegen die vorläufige Bewilligung in dem Bescheid vom nach Erteilung des Änderungsbescheides vom für den Monat Januar 2014 erledigt hat". Zur Begründung verwies er darauf, dass durch den Bescheid vom die Leistungen des Klägers für Januar 2014 endgültig festgesetzt worden seien, wodurch sich die vorläufige Bewilligung durch Bescheid vom erledigt habe, weshalb insoweit eine Entscheidung in der Sache nicht mehr ergehen könne. Die Klage gegen diesen - auch andere Zeiträume betreffenden - Widerspruchsbescheid ist noch am SG anhängig (S 12 AS 59/14).
3Den gegen den Bescheid vom eingelegten Widerspruch erfasste der Beklagte als Widerspruchsverfahren W 105/14 und verwarf ihn als unzulässig, weil verfristet (Widerspruchsbescheid vom ). Der Widerspruch sei zwar statthaft, wahre aber die Monatsfrist des § 84 SGG nicht.
4Die Klage gegen den Bescheid vom in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom mit dem Begehren nach höherem Alg II für Januar 2014 hat das SG unter Zulassung der Berufung abgewiesen (Urteil vom ): Die Verwerfung des Widerspruchs als unzulässig sei im Ergebnis zu Recht erfolgt, weil die abschließende Entscheidung über Alg II für Januar 2014 durch Bescheid vom nach § 86 SGG Gegenstand des Widerspruchsverfahrens gegen die vorläufige Entscheidung durch Bescheid vom geworden und darüber durch den hierauf ergangenen Widerspruchsbescheid vom entschieden worden sei. Auf Antrag des Klägers und mit Zustimmung des Beklagten ließ das SG die Sprungrevision gegen sein Urteil zu (Beschluss vom ).
5Mit seiner Sprungrevision rügt der Kläger eine Verletzung von § 86 SGG. Der Bescheid vom sei nicht Gegenstand des Widerspruchsverfahrens gegen den Bescheid vom geworden, denn der endgültige Leistungsbescheid vom sei ein neuer, ersetzender Verwaltungsakt und ändere den vorläufigen Leistungsbescheid vom nicht nur iS des § 86 SGG ab. § 86 SGG erfasse indes, anders als § 96 SGG, nach seinem Wortlaut nur Verwaltungsakte, die im Widerspruchsverfahren streitige Verwaltungsakte abänderten. Der danach statthafte Widerspruch sei auch nicht verfristet gewesen.
6Der Kläger beantragt,das Urteil des Sozialgerichts Neubrandenburg vom aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheids vom und Aufhebung des Widerspruchsbescheids vom zu verurteilen, ihm für Januar 2014 höheres Arbeitslosengeld II zu zahlen.
7Der Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.
8Er schließt sich dem Revisionsvorbringen zur Statthaftigkeit des Widerspruchs an, hält den Widerspruch indes für verfristet.
Gründe
9Die Sprungrevision des Klägers ist zulässig, aber unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Das SG hat zu Recht seine Klage gegen den Bescheid vom in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom abgewiesen, weil auf diese nicht über die Höhe des Anspruchs des Klägers auf Alg II im Januar 2014 zu entscheiden war.
101. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind neben dem Urteil des SG der Bescheid des Beklagten vom und der Widerspruchsbescheid vom , durch den der Widerspruch des Klägers als unzulässig, weil verfristet verworfen worden war. Der Kläger verfolgt in der Revisionsinstanz sein Begehren nach höherem Alg II für Januar 2014 weiter.
112. Die Sprungrevision ist zulässig. Nach § 161 Abs 1 Satz 1 SGG steht den Beteiligten die Revision unter Übergehung der Berufungsinstanz zu, wenn der Gegner schriftlich zustimmt und wenn sie vom SG im Urteil oder auf Antrag durch Beschluss zugelassen wird. Das SG hat auf Antrag des Klägers die Sprungrevision durch Beschluss vom zugelassen. Hieran ist der Senat gebunden (§ 161 Abs 2 Satz 2 SGG).
123. Über das vom Kläger verfolgte Begehren nach höherem Alg II für Januar 2014 ist dem Senat eine Sachentscheidung verwehrt, weil dieses Begehren nicht in zulässiger Weise im vorliegenden Verfahren eingeklagt werden konnte.
13Zwar hat der Beklagte durch den angefochtenen Bescheid vom über den Leistungsanspruch des Klägers im Januar 2014 eine abschließende Entscheidung getroffen, nachdem er zunächst durch Bescheid vom ua für Januar 2014 eine vorläufige Entscheidung getroffen hatte (dazu a). Der Bescheid vom war indes kraft Gesetzes Gegenstand des gegen den Bescheid vom geführten Widerspruchsverfahrens W 1247/13 geworden, weshalb das spätere, dem vorliegenden Verfahren vorangegangene Widerspruchsverfahren W 105/14, das durch den Widerspruchsbescheid vom endete, unstatthaft und in ihm eine Sachentscheidung über das Leistungsbegehren des Klägers nicht zu treffen war (dazu b). Auf die zwischen den Beteiligten umstrittene Frage der Fristgemäßheit dieses unstatthaften Widerspruchs kommt es nicht an.
14a) Der Bescheid vom enthält ungeachtet seiner Bezeichnung als Änderungsbescheid eine abschließende Entscheidung über den Leistungsanspruch des Klägers im Januar 2014 (zu den Anforderungen an die Auslegung eines Änderungsbescheids als eine "abschließende Entscheidung" vgl - SozR 4-4200 § 40 Nr 9 RdNr 26; zur Bescheidauslegung, die auch dem Revisionsgericht obliegt, vgl - BSGE 67, 104, 110 = SozR 3-1300 § 32 Nr 2 S 11). Denn der Bescheid knüpft an den im Bescheid vom genannten Vorläufigkeitsgrund an, bewilligt höhere Leistungen und setzt deren Höhe insgesamt fest.
15Diese abschließende Entscheidung durch Bescheid vom ersetzte und erledigte mit ihrem Erlass iS des § 39 Abs 2 SGB X die vorläufige Entscheidung über den Leistungsanspruch des Klägers im Januar 2014 durch Bescheid vom (vgl § 40 SGB II iVm § 328 SGB III; seit : § 41a SGB II), ohne dass es einer Aufhebung oder Änderung dieser vorläufigen Entscheidung bedurft hätte (stRspr; vgl nur - SozR 4-4200 § 22 Nr 64 RdNr 12; - SozR 4-4225 § 1 Nr 3 RdNr 14).
16b) Dieser Bescheid vom war kraft Gesetzes Gegenstand des gegen den Bescheid vom geführten Widerspruchsverfahrens W 1247/13 geworden.
17Gegen die vorläufige Entscheidung durch Bescheid vom hatte der Kläger Widerspruch eingelegt, über den der Beklagte bei Erlass seiner abschließenden Entscheidung durch Bescheid vom noch nicht entschieden hatte. Die vorläufige Entscheidung über Leistungen für Januar 2014 war aufgrund ihrer Erledigung durch die abschließende Entscheidung nicht mehr Gegenstand des Widerspruchsverfahrens. Doch war aufgrund von § 86 SGG der den Bescheid vom insoweit ersetzende und erledigende Bescheid vom Gegenstand des laufenden, gegen den Bescheid vom geführten Widerspruchsverfahrens geworden, das durch den Widerspruchsbescheid vom endete.
18Nach seinem Wortlaut erfasst § 86 SGG zwar nur Bescheide, durch die während des Widerspruchsverfahrens der angefochtene Verwaltungsakt abgeändert wird, und bestimmt, dass auch der neue Bescheid Gegenstand des Widerspruchsverfahrens wird. Dies unterscheidet den für das Widerspruchsverfahren geltenden § 86 SGG von dem für das gerichtliche Verfahren geltenden § 96 Abs 1 SGG, der nach seinem Wortlaut nach Erlass des Widerspruchsbescheids ergangene Bescheide erfasst, durch die der angefochtene Verwaltungsakt abgeändert oder ersetzt wird, und bestimmt, dass nach Klageerhebung der neue Bescheid Gegenstand des Klageverfahrens wird.
19Dies steht indes der Einbeziehung des Bescheids vom in das laufende Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid vom nicht entgegen. Denn eine Abänderung iS des § 86 SGG ist auch die Ersetzung eines mit Widerspruch angefochtenen Bescheids - wie hier die Ersetzung der vorläufigen durch die abschließende Entscheidung über Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für Januar 2014. Die für das Widerspruchsverfahren geltende Vorschrift des § 86 SGG ist insoweit in Entsprechung zu der für das gerichtliche Verfahren geltenden Vorschrift des § 96 Abs 1 SGG dahin auszulegen, dass jene ebenso wie diese nicht nur abändernde, sondern auch ersetzende Verwaltungsakte in das laufende Verfahren einbezieht.
20Diese Auslegung ist mit dem aufgezeigten Wortlautunterschied vereinbar, weil sich zum einen unter einer Abänderung eines Bescheids auch dessen Ersetzung verstehen lässt (vgl zum Ersetzen als "radikalste Form" des Abänderns Bayerisches ER - juris RdNr 34). Dafür, § 86 SGG so zu verstehen, wie § 96 Abs 1 SGG formuliert ist, streitet zum anderen und entscheidend der Sinn und Zweck, der prägend sowohl für das Verhältnis von vorläufiger und abschließender Entscheidung als auch für §§ 86 und 96 SGG ist, nämlich den Beteiligten in verfahrens- und prozessökonomischer Weise eine möglichst baldige und endgültige Klärung ihrer Rechtsbeziehung zu verschaffen (vgl - BSGE 119, 265 = SozR 4-4200 § 22 Nr 86, RdNr 16; zur Effektivierung des Rechtsschutzes und Prozessökonomie vgl B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 86 RdNr 2, § 96 RdNr 1a).
21Vor diesem Hintergrund ist prägend für die Auslegung des § 86 SGG nicht, ob und ggf wie sich die Bedeutung der Wörter "abändern" und "ersetzen" voneinander abgrenzen lässt, sondern dessen Ziel der Verfahrensökonomie: Wird zu der mit einem Widerspruch angefochtenen Regelung - hier die Bewilligung von Leistungen für Januar 2014 - im laufenden Widerspruchsverfahren eine weitere Regelung getroffen - ob abändernd, ändernd, anpassend, aufhebend oder ersetzend -, ist im laufenden Widerspruchsverfahren auch über diese weitere Regelung zu entscheiden, wenn sie die Beschwer nicht beseitigt. Zu diesem Ziel stände es in Widerspruch, wenn ein gegen eine vorläufige Entscheidung über Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts geführtes Widerspruchsverfahren durch den Erlass der abschließenden Entscheidung unzulässig würde und ein neues Widerspruchsverfahren gegen die abschließende Entscheidung über diese Leistungen eingeleitet werden müsste, obwohl im bereits laufenden Widerspruchsverfahren zwischen denselben Beteiligten für denselben Zeitraum über den Anspruch auf Leistungen gestritten wird und das Jobcenter ohne Weiteres alle in diesem Rechtsverhältnis bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids ergangenen Entscheidungen über Leistungen überprüfen kann und muss (vgl hierzu - juris, RdNr 10; - juris, RdNr 11).
22Die Anwendung des § 86 SGG auf nicht nur abändernde, sondern auch auf ersetzende Verwaltungsakte insoweit in Entsprechung zu § 96 Abs 1 SGG ist danach angezeigt, weil die Abänderung und Ersetzung eines Bescheids nicht nur sprachlich, sondern vor dem Hintergrund des Regelungsziels auch in der Sache vergleichbar sind (vgl - juris, RdNr 10; - SozR 4-2600 § 307b Nr 10 RdNr 12; - juris, RdNr 11 <insoweit in BSGE 108, 123 = SozR 4-3500 § 82 Nr 7 nicht abgedruckt>; - BSGE 115, 158 = SozR 4-2500 § 186 Nr 4, RdNr 9; - juris, RdNr 11 <dort auch zum Unterschied von § 86 SGG zum 2008 geänderten § 96 SGG>; - juris RdNr 7; SG Neubrandenburg vom - S 6 SO 1/13 - juris RdNr 12 ff; J. Becker in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 86 RdNr 11; Behrend in Hennig, SGG, § 86 RdNr 1, 6, Stand Oktober 2013; Binder in Lüdtke/Berchtold, SGG, 5. Aufl 2017, § 86 RdNr 2; Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl 2014, § 86 RdNr 3; B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 86 RdNr 3; aA - juris RdNr 35, 37; - juris RdNr 24 ff; strenger auch SG Dresden vom - S 48 AS 1942/13 - juris RdNr 22 ff; Hintz in BeckOK-SGG, § 86 vor RdNr 1, RdNr 1, Stand März 2017, der indes in RdNr 3 eine Ersetzung als Änderung versteht). Diese entsprechende Anwendung ist zudem für die Ersetzung vorläufiger durch abschließende Entscheidungen über Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts aus Gründen der Verfahrensökonomie auch sachlich geboten (vgl - juris RdNr 18 ff; NZB - juris RdNr 19; - juris RdNr 44 ff; zur Anwendbarkeit des § 86 SGG in diesen Fällen vgl auch Aubel in jurisPK-SGB II, 4. Aufl 2015, § 40 RdNr 75.2; Hengelhaupt in Hauck/Noftz, SGB II, K § 40 RdNr 377, Stand Juni 2012; Wehrhahn in Estelmann, SGB II, § 40 RdNr 108, Stand Dezember 2011).
234. Damit war über den die Höhe des Leistungsanspruchs des Klägers im Januar 2014 regelnden Bescheid vom in dem Widerspruchsverfahren zu entscheiden, das durch den Widerspruchsbescheid vom endete. Nicht dieser ist indes vorliegend mit der Klage angefochten, sondern der Widerspruchsbescheid vom . Der Widerspruchsbescheid vom ist Gegenstand eines noch am SG anhängigen Klageverfahrens.
245. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG. Die hälftige Kostenerstattungspflicht des Beklagten berücksichtigt, dass er durch seine unzutreffende Rechtsbehelfsbelehrung im Bescheid vom - Widerspruch - und seine Verfahrensweise - Feststellung der Erledigung des Widerspruchs für Januar 2014 im Widerspruchsbescheid vom - das vorliegende Verfahren mit veranlasst hat. Denn der Beklagte hat es unterlassen, den Kläger auf die Erledigung der vorläufigen durch die abschließende Entscheidung während des gegen die vorläufige Entscheidung geführten Widerspruchsverfahrens und auf die Einbeziehung der abschließenden Entscheidung in das laufende Widerspruchsverfahren kraft Gesetzes nach § 86 SGG vor der Entscheidung über den Widerspruch hinzuweisen, um diesem im Sinne der bezweckten Verfahrensökonomie Gelegenheit zur sachgerechten Fortführung des Widerspruchsverfahrens zu geben.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2017:050717UB14AS3616R0
Fundstelle(n):
YAAAG-56011