Instanzenzug: (Verfahrensverlauf), , BVerfG 2 BvR 952/01
Verfahrensstand: Diese Entscheidung ist rechtskräftig
Gründe
I. Die Beteiligten streiten darüber, ob die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) im Streitjahr (1996) der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht unterlegen haben.
Die Kläger sind Eheleute, die überwiegend in Hongkong leben. Der Ehemann, ein Textilingenieur, hat die Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) nach Abschluss seiner Ausbildung im Jahr 1963 verlassen und sich in Hongkong eine berufliche Existenz aufgebaut. Seine seit 1965 mit ihm verheiratete Ehefrau ist in Shanghai (Volksrepublik China) geboren und in Hongkong aufgewachsen. Die Kläger besitzen zwei Häuser im Inland, nämlich die in F belegenen Objekte Haus I und Haus II.
Das Haus I, das der Kläger im Jahr 1978 erwarb, ist ein Mehrfamilienhaus. Es besteht aus einem fremdvermieteten Ladenlokal und zwei Wohnungen, von denen die eine im Streitjahr von den Eltern des Klägers bewohnt wurde. Die andere Wohnung diente dem Kläger und, sofern sie ihn begleitete, der Klägerin bei ihren Aufenthalten als Unterkunft. Bei Abwesenheit des Klägers wurde sie von den Eltern mitbenutzt. Diese Wohnung war teilmöbliert und enthielt alle für einen Aufenthalt notwendigen Utensilien wie Bett- und Tischwäsche, Handtücher, Toilettenartikel, Kleidung etc.
Bei Haus II handelt es sich um ein 1992 errichtetes Mehrfamilienhaus in gehobener Wohnlage. Von den insgesamt vier Wohnungen waren drei fremdvermietet; die vierte wurde von den Klägern selbst genutzt. Es handelt sich um eine 297 qm große Wohnung, die sich über drei Stockwerke erstreckt und zu der ein Garten und eine Garage gehören. Die Wohnung war voll möbliert und eingerichtet und stand den Klägern zur jederzeitigen Nutzung zur Verfügung. Sie verfügte über einen Telefonanschluss sowie über eine vollständig funktionsfähige Wasser- und Elektrizitätsversorgung. Während der Abwesenheit der Kläger waren die teilweise kostbaren Möbel mit Schutzbezügen überzogen. Die Wohnung wurde von einer Zugehfrau versorgt, die sie auf vorherigen Telefonanruf jeweils zur Nutzung durch die Kläger vorbereitete.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt —FA—) erließ für das Streitjahr einen Einkommensteuer-Vorauszahlungsbescheid, in dem er die Kläger als unbeschränkt Steuerpflichtige behandelte. Dabei wurden die Besteuerungsgrundlagen mangels Abgabe einer Steuererklärung geschätzt. Auf die Klage der Kläger hin hat das Finanzgericht (FG) diesen Bescheid mit der Begründung aufgehoben, dass die Kläger im Streitjahr nicht unbeschränkt einkommensteuerpflichtig gewesen seien. Das Urteil des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2000, 72 abgedruckt.
Mit seiner vom FG zugelassenen Revision rügt das FA eine Verletzung materiellen Rechts. Es beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und zur Abweisung der Klage. Das FA ist in dem angefochtenen Bescheid zu Recht davon ausgegangen, dass die Kläger im Streitjahr der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht unterlegen haben:
1. Nach § 1 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) sind natürliche Personen, die im Inland einen Wohnsitz haben, unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. Was ”Wohnsitz” im Sinne dieser Regelung ist, bestimmt sich nach § 8 der Abgabenordnung (AO 1977). Hiernach hat eine Person einen Wohnsitz dort, wo sie eine Wohnung unter Umständen innehat, die auf ein Beibehalten und Benutzen der Wohnung schließen lassen. Das FG hat zu Recht angenommen, dass im Streitfall (zumindest) die Wohnung der Kläger im Haus II als deren Wohnsitz anzusehen ist.
Denn nach den Feststellungen des FG, die nicht mit Revisionsrügen angegriffen wurden und an die der Senat deshalb gemäß § 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gebunden ist, handelte es sich hierbei um eine dem Kläger gehörende Wohnung. Diese Wohnung war vollständig eingerichtet, stand den Klägern zur jederzeitigen Nutzung zur Verfügung und wurde von ihnen im Streitjahr tatsächlich genutzt. Damit erfüllt sie diejenigen Anforderungen, die nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) an einen Wohnsitz zu stellen sind (vgl. hierzu , BStBl II 1989, 182; vom I R 69/96, BFHE 182, 296, BStBl II 1997, 447). In welchem zeitlichen Umfang die Kläger die Wohnung im Streitjahr genutzt haben, ist in diesem Zusammenhang unerheblich.
2. Der hiernach bestehende Wohnsitz im Inland führt auch dann zur unbeschränkten Einkommensteuerpflicht der Kläger, wenn diese dort nicht den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen hatten. Der abweichenden Ansicht der Kläger und des FG vermag der Senat nicht beizupflichten:
a) § 1 EStG setzt für die unbeschränkte Steuerpflicht das Bestehen ”eines” Wohnsitzes im Inland voraus. Hieraus folgt, dass es ausreicht, wenn eine natürliche Person mehrere Wohnsitze hat und sich nur ein einziger von ihnen im Inland befindet. Das ist in Rechtsprechung und Schrifttum unstreitig (z.B. , BFHE 83, 655, BStBl III 1965, 738; in BFHE 182, 296, BStBl II 1997, 447; FG Baden-Württemberg, Außensenate Stuttgart, Urteil vom IX K 96/88, EFG 1991, 102; Schmidt/Heinicke, Einkommensteuergesetz, 19. Aufl., § 1 Rz. 20).
b) Dem Wortlaut des § 1 EStG ist nicht zu entnehmen, dass nur derjenige Wohnsitz zur unbeschränkten Steuerpflicht führt, der zugleich den Mittelpunkt der Lebensinteressen der Person darstellt. Im Gegenteil geht die Vorschrift, indem sie ohne weitere Unterscheidung nur das Vorliegen ”eines” Wohnsitzes verlangt, erkennbar von der Gleichwertigkeit aller Wohnsitze einer bestimmten Person aus. Insbesondere enthält sie keinen Anknüpfungspunkt für eine Differenzierung zwischen ”Hauptwohnsitz” und ”Nebenwohnsitz”. Dasselbe gilt im Hinblick auf § 8 AO 1977 (Buciek in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 8 AO Rz. 10). Vor diesem Hintergrund verbietet sich die Annahme, dass nur ein —in welcher Weise auch immer— ”qualifizierter” Wohnsitz zur unbeschränkten Einkommensteuerpflicht führt.
Dementsprechend hat der Senat wiederholt entschieden, dass ein inländischer Wohnsitz auch dann zur unbeschränkten Einkommensteuerpflicht führt, wenn der Mittelpunkt der Lebensinteressen sich im Ausland befindet (Urteile in BFHE 83, 655, BStBl III 1965, 738, und in BFHE 182, 296, BStBl II 1997, 447, 448). Hiervon ist er auch in seiner sonstigen Rechtsprechung erkennbar ausgegangen (z.B. Urteil vom I R 40/97, BFHE 187, 544, BStBl II 1999, 207). Diese Handhabung ist in Rechtsprechung und Schrifttum ganz überwiegend auf Zustimmung gestoßen (z.B. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 8 AO Tz. 4, m.w.N.). Der Streitfall bietet keine Veranlassung, sie in Zweifel zu ziehen.
c) Zu einer abweichenden Beurteilung führt insbesondere nicht der Hinweis der Kläger und des FG, dass im Anwendungsbereich der Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) die Frage nach dem ”Mittelpunkt der Lebensinteressen” von wesentlicher Bedeutung sei. Denn dieser Gesichtspunkt kommt nur dann (und deshalb) zum Tragen, wenn (und weil) ein im Einzelfall anwendbares DBA an ihn bestimmte Rechtsfolgen knüpft. Daran fehlt es im Streitfall schon deshalb, weil kein DBA einschlägig ist.
Zu Unrecht berufen sich die Kläger in diesem Zusammenhang auf einen ”allgemeinen Grundsatz des internationalen Steuerrechts”, nach dem jede Person nur von demjenigen Staat als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt werden dürfe, in dem sich der Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen befindet. Einen solchen Grundsatz gibt es nicht. Im Gegenteil gehen gerade die DBA ersichtlich davon aus, dass eine Person kraft ihres Wohnsitzes auch dann in einem Staat unbeschränkt steuerpflichtig sein kann, wenn sie dort nicht ihren Lebensmittelpunkt und nicht einmal eine ständige Wohnstätte hat. Das zeigt sich daran, dass typischerweise die ”Ansässigkeit” im abkommensrechtlichen Sinne zunächst an eine solche Steuerpflicht anknüpft (vgl. Art. 4 Nr. 1 des OECD-Musterabkommens aus 1977 —OECD-MustAbk—) und die genannten weiteren Merkmale erst als zusätzliche und ergänzende Zuordnungskriterien zum Zuge kommen (vgl. Art. 4 Nr. 2 Buchst. a OECD-MustAbk). Eine solche Regelung kann nur auf der Vorstellung beruhen, dass eine zur Ansässigkeit führende Steuerpflicht auch dort begründet werden kann, wo sich nicht der Mittelpunkt der Lebensinteressen befindet; anderenfalls könnte die z.B. in Art. 4 Nr. 2 Buchst. a OECD-MustAbk angesprochene Situation (aus unbeschränkter Steuerpflicht folgende Ansässigkeit in beiden Staaten, Mittelpunkt der Lebensinteressen in nur einem Staat) schlechterdings nicht eintreten. Schon unter diesem Gesichtspunkt ist die Annahme verfehlt, dass unabhängig vom Eingreifen eines DBA nur der Mittelpunkt der Lebensinteressen als zur unbeschränkten Steuerpflicht führender Wohnsitz angesehen werden könne.
d) Dieser Einschätzung steht auch nicht der vom FG angeführte Gedanke entgegen, dass die unbeschränkte Steuerpflicht und der damit verbundene steuerliche Zugriff auf das Welteinkommen eine Art ”Gegenleistung” für die Gewährung staatlicher Leistungen sei. Es mag richtig sein, dass die Anknüpfung der unbeschränkten Steuerpflicht an den Wohnsitz auf Überlegungen dieser Art beruht. Auch mag die Erwägung der Kläger zutreffen, dass die Besteuerung des gesamten Einkommens einer Person einen gewissen Bezug dieser Person zu dem besteuernden Staat voraussetzt (vgl. hierzu , BFHE 79, 57, BStBl III 1964, 253; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 2. Aufl., Rz. 3.14, m.w.N.). Für den Streitfall kann hieraus jedoch kein für die Kläger günstiges Ergebnis abgeleitet werden.
Denn auch wenn die unbeschränkte Steuerpflicht auf dem Gedanken einer persönlichen Bindung zu dem besteuernden Staat aufbaut, hat der innerstaatliche Gesetzgeber darüber zu entscheiden, von welcher Art und Intensität dieser Bindung er die Anordnung einer umfassenden Besteuerung abhängig macht. Diese Entscheidung hat der deutsche Gesetzgeber in der Weise getroffen, dass hierfür nicht der Lebensmittelpunkt im Inland liegen muss, sondern schon ein (beliebiger) Wohnsitz im Inland ausreicht. Es ist nicht Sache der Gerichte, diese Wertung aus rechtspolitischen Gründen zu korrigieren. Sie könnte nur dann in Frage gestellt werden, wenn es einen allgemeinen Grundsatz des Völkerrechts (Art. 25 des Grundgesetzes —GG—) gäbe, der eine Anknüpfung der Welteinkommensbesteuerung an den ”schlichten” Wohnsitz verbietet. Einen solchen Grundsatz vermag der Senat indessen nicht zu erkennen; gerade die dargestellten Regelungen in den DBA zeigen im Gegenteil, dass er nicht existiert.
3. Ebenso kommt es für die unbeschränkte Steuerpflicht nicht darauf an, in welchem Umfang die Kläger über die Verfügbarkeit und die Nutzung der Wohnung hinaus weitere soziale Bindungen zum Inland hatten. Auf den diesbezüglichen Vortrag der Kläger in der mündlichen Verhandlung muss der Senat deshalb nicht näher eingehen.
4. Die hiernach gebotene Besteuerung der Kläger als unbeschränkt Steuerpflichtige ist nicht, wie das FG meint, unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitsgrundsatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) bedenklich. Nach Ansicht des FG würden die Kläger in verfassungswidriger Weise benachteiligt, wenn sie allein deshalb mit ihrem Welteinkommen zur Steuer herangezogen würden, weil sie nicht den Schutz eines DBA in Anspruch nehmen können. Dem vermag der Senat nicht zu folgen.
Denn zum einen verbietet Art. 3 Abs. 1 GG nur solche Differenzierungen, die nicht von einem sachlichen Grund getragen sind. Ob eine bestimmte Person den Schutz eines DBA genießt oder nicht, ist indessen ein sachlicher Grund in diesem Sinne. Jede andere Betrachtung müsste in letzter Konsequenz dazu führen, dass ein jeder unter Berufung auf den Gleichbehandlungsgrundsatz jedes beliebige DBA in Anspruch nehmen könnte. Das kann nicht richtig sein.
Zum anderen würde, selbst wenn im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und Hongkong ein DBA anwendbar wäre, dieses nicht zwangsläufig zu einer für die Kläger günstigeren deutschen Besteuerung führen. Die Rechtsfolgen eines solchen DBA hingen vielmehr von dessen konkreter Ausgestaltung ab. Es wäre z.B. nicht von vornherein ausgeschlossen, dass das Abkommen nur eine gegenseitige Anrechnung ausländischer Steuern vorsähe. Eine solche erhalten die Kläger jedoch schon nach § 34c EStG, so dass ein etwa bestehendes DBA ihre Rechtsstellung keineswegs zwingend verbessern würde. Richtig ist deshalb lediglich, dass die Kläger sich besser stünden, wenn das DBA mit Großbritannien sich auf Hongkong erstrecken würde. Das kann aber kein Anlass sein, dieses Abkommen aus Gleichbehandlungsgründen über den dort vorgesehenen Geltungsbereich hinaus anzuwenden. Im Ergebnis ist mithin die gesetzlich vorgesehene Besteuerung der Kläger auch in Ansehung des Gleichheitssatzes unbedenklich, so dass für die vom FG vorgenommene verfassungskonforme Auslegung des § 1 Abs. 1 EStG kein Bedürfnis besteht.
5. Dasselbe gilt schließlich auch insoweit, als die Kläger sich auf Art. 2 Abs. 1 GG berufen. Es kann offen bleiben, ob eine Anwendung dieser Norm nicht schon daran scheitert, dass die Belastung mit Steuern und Abgaben dem Anwendungsbereich des Art. 14 GG unterfällt und Art. 2 Abs. 1 GG insoweit verdrängt wird (vgl. hierzu Schmidt-Bleibtreu/Klein, Grundgesetz, 9. Aufl., Art. 2 Rz. 11; Leibholz/Rinck/Hesselberger, Grundgesetz, 7. Aufl., Art. 2 Rz. 17, jeweils m.w.N.). Denn jedenfalls wird die Entscheidung des Gesetzgebers, alle Personen mit Wohnsitz in der Bundesrepublik grundsätzlich der Besteuerung nach dem Welteinkommen zu unterwerfen, von dessen Gestaltungsspielraum (vgl. hierzu Beschlüsse des , BStBl II 1995, 655, 660; vom 2 BvR 1818/91, BVerfGE 99, 88, 95) umfasst. Die hierzu von den Klägern angestellten rechtspolitischen Erwägungen vermögen eine Verfassungswidrigkeit dieser Entscheidung nicht zu begründen. Soweit die gesetzlich vorgesehene Besteuerung speziell für die Kläger zu einer unangemessenen Belastung führen würde, könnte dem allenfalls durch eine Billigkeitsmaßnahme Rechnung getragen werden; über eine solche ist aber im vorliegenden Verfahren nicht zu entscheiden (Senatsurteil vom I R 69/89, BFHE 162, 263, BStBl II 1991, 38, 39).
6. Das FA hat die Kläger hiernach zu Recht mit ihrem gesamten (Welt-)Einkommen zur Einkommensteuer herangezogen. Dass es hierbei die Besteuerungsgrundlagen unzutreffend ermittelt hätte, ist weder von den Klägern geltend gemacht worden noch sonst ersichtlich. Im vorliegenden Verfahren erübrigt sich eine nähere Prüfung dieses Punktes zudem deshalb, weil der angefochtene Bescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung steht (§ 164 Abs. 1 Satz 2 AO 1977) und deshalb gemäß § 164 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 jederzeit geändert werden kann (vgl. hierzu , BFHE 143, 431, BStBl II 1985, 690; vom I R 145/87, BFHE 161, 387, BStBl II 1990, 1032, 1033 f.; Trzaskalik in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 164 AO Rz. 46, m.w.N.).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2001 S. 1402 Nr. 11
AAAAA-66710