Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - Aufklärungsrüge - Sachverständigengutachten - vermeintlicher weiterer Erläuterungs- bzw Aufklärungsbedarf
Gesetze: § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 62 SGG, § 103 SGG, § 116 S 2 SGG, § 118 Abs 1 S 1 SGG, § 397 ZPO, § 402 ZPO, § 411 Abs 3 ZPO, § 411 Abs 4 ZPO, Art 103 Abs 1 GG
Instanzenzug: Az: S 6 R 694/10 Urteilvorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Az: L 2 R 229/14 Urteil
Gründe
1I. Das LSG Niedersachsen-Bremen hat mit Urteil vom einen Anspruch des Klägers auf Rente wegen Erwerbsminderung verneint. Der Kläger verfüge noch über ein mindestens sechsstündiges Leistungsvermögen für körperlich leichte (bis selten mittelschwere) Tätigkeiten in überwiegend sitzender Position oder wechselnder Körperhaltung mit weiteren qualitativen Leistungseinschränkungen. Bei seiner Leistungsbeurteilung hat sich das LSG im Wesentlichen auf die Gutachten des Facharztes für Orthopädie, Unfallchirurgie und Rheumatologie Dr. O. vom und des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. Sch. vom gestützt. Ein Anlass, den Anträgen des Klägers zu einer ergänzenden Befragung des Sachverständigen Dr. Sch. nachzugehen, bestehe nicht.
2Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt. Er rügt eine Verletzung der Aufklärungspflicht des LSG nach §§ 103, 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 411 Abs 3 ZPO, hilfsweise eine Verletzung seines Fragerechts nach § 116 S 2, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO und damit seines rechtlichen Gehörs nach Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG.
3II. Die Beschwerde des Klägers ist unzulässig. Seine Begründung vom genügt nicht der gesetzlich vorgeschriebenen Form. Der Kläger hat keinen Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG in der erforderlichen Weise bezeichnet (§ 160 Abs 2 Nr 3 iVm § 160a Abs 2 S 3 SGG).
4Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne, müssen zur ordnungsgemäßen Bezeichnung (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) die den Verfahrensfehler (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
51. Sofern der Kläger eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht nach §§ 103, 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 411 Abs 3 ZPO darin sieht, dass das LSG seinem Antrag, den Sachverständigen Dr. Sch. zur Erläuterung seines Gutachtens zum Termin zu laden (S 1 der Beschwerdebegründung), zu Unrecht nicht nachgegangen sei, weist er zwar zu Recht darauf hin, dass die von ihm ausdrücklich gerügte Nicht-Ladung eines Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens in der mündlichen Verhandlung auch ein Aufklärungsmangel des LSG sein kann (vgl P. Becker, SGb 2007, 328, 334). Sein Vortrag erfüllt aber nicht die Anforderungen an eine diesbezügliche Sachaufklärungsrüge.
6a) Nach § 411 Abs 3 ZPO kann das Gericht das Erscheinen des Sachverständigen anordnen, damit er das schriftliche Gutachten erläutere.
7Grundsätzlich steht es im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, ob es einen Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung seines Gutachtens laden will (vgl BVerfG <Kammer> Beschluss vom - 2 BvR 175/95 - Juris RdNr 29). Die Ermessensentscheidung unterliegt jedoch revisionsrechtlicher Überprüfung dahin, ob das Berufungsgericht von seinem Ermessen rechtsfehlerhaft Gebrauch gemacht hat (stRspr, zB - Juris RdNr 4; - Juris RdNr 7).
8Zwar wird mit § 411 Abs 3 ZPO die Befugnis des Prozessgerichts statuiert, von sich aus, "von Amts wegen", also ohne Anregung oder Antrag eines Beteiligten den Sachverständigen zum Termin zu laden und dort zu hören, um fehlerhafte tatsächliche Annahmen, Lücken oder Widersprüche im Gutachten in Gegenwart der Beteiligten mündlich zu erörtern und nach Möglichkeit auszuräumen ( 4b RV 27/85 - SozR 1750 § 411 Nr 2 S 2; vgl auch - Juris RdNr 4). Allerdings ist ein Prozessbeteiligter nicht gehindert, ein Tätigwerden des Prozessgerichts vom Amts wegen nach § 411 Abs 3 ZPO anzuregen. Diese Anregung ("Antrag") muss aber bestimmten Anforderungen entsprechen: Sie muss Ausführungen enthalten, aufgrund derer sich das Gericht schlüssig werden kann, ob es überhaupt Anlass hat, den Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung seines schriftlichen Gutachtens zum Termin zu laden; die Anregung muss zumindest bei einem anwaltlich vertretenen Kläger im Rahmen seiner Mitwirkungsobliegenheit regelmäßig so rechtzeitig nach Erstattung des schriftlichen Gutachtens beim Prozessgericht eingebracht werden, dass dieses entsprechend der Konzentrationsmaxime (vgl § 106 Abs 2 SGG) in der Lage ist, den Sachverständigen noch zum nächsten Termin zu laden und die Streitsache in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen (vgl 4b RV 27/85 - SozR 1750 § 411 Nr 2 S 2 f). Hinsichtlich der "Rechtzeitigkeit" und der "Begründungstiefe" der Anregung mag dann etwas anderes gelten, wenn das LSG einem Beteiligten erst in der mündlichen Verhandlung eröffnet hat, dass es der für ihn günstigen Beurteilung eines Sachverständigen nicht folgen wolle (vgl - Juris RdNr 8). Dass diese besondere Fallkonstellation hier vorliegt, behauptet der Kläger aber nicht.
9Einen Antrag, der den vorgenannten Anforderungen nicht genügt, kann das Prozessgericht ablehnen, ohne dass es das ihm durch § 411 Abs 3 ZPO eingeräumte Ermessen überschreitet (vgl 4b RV 27/85 - SozR 1750 § 411 Nr 2 S 3).
10b) Der Kläger hat die Voraussetzungen, unter denen das LSG nur ermessenswidrig von einer Ladung des Dr. Sch. zur Erläuterung seines Gutachtens hätte Abstand nehmen können, nicht schlüssig dargetan. Es mangelt bereits daran, dass er nicht dargelegt hat, dass und wann er dem LSG welche Gesichtspunkte mitgeteilt hat, die das Gericht im Rahmen seiner Ermessensprüfung hätte berücksichtigen müssen.
11aa) Soweit der Kläger sich auf seine Schriftsätze vom 14.7. und bezieht, mit denen er jeweils beantragt habe, den Sachverständigen Dr. Sch. zur mündlichen Erläuterung seines Gutachtens zum Termin zu laden, hat er schon nicht aufgezeigt, welche konkreten Gesichtspunkte ausgehend von der Rechtsauffassung des LSG noch "erläuterungsbedürftig" sein sollten. Dass er im Schriftsatz vom überhaupt Gründe für eine weitere Aufklärung durch den Sachverständigen formuliert oder zumindest umschrieben hat, ergibt sich aus der Beschwerdebegründung nicht. Sofern der Kläger auf seinen Schriftsatz vom verweist, in dem er beantragt habe, dem Gutachter in der mündlichen Verhandlung "die Beweisfragen gemäß Beweisbeschluss vom zu Ziffer IV ausschließlich Ziffer 1-6 sowie Ziffer V, 1, VIII, IX, X" zu stellen, behauptet er nicht, dass sich der Sachverständige überhaupt nicht oder ungenügend zu diesen ihm bereits vom LSG in der vorgenannten Beweisanordnung vorgelegten Beweisfragen geäußert habe. Dies ist jedoch erforderlich, denn eine nochmalige mündliche Befragung des Sachverständigen zu bereits schriftlich im Rahmen der Gutachtenerstattung vorgelegten und beantworteten Fragen muss im Rahmen einer auf §§ 103, 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 411 Abs 3 ZPO gestützten Aufklärungsrüge nicht schon deshalb erfolgen, weil der Kläger subjektiv noch weiteren Erläuterungs- bzw Aufklärungsbedarf zu bereits beantworteten Fragen gesehen haben mag (vgl BVerfG Beschluss <Kammer> vom - 1 BvR 1522/12 - JurisRdNr 2). Aufzuzeigen ist insoweit vielmehr, dass der erkannte weitereAufklärungsbedarf in Auseinandersetzung mit dem (bzw den) bereits vorliegenden Gutachten näher erläutert und auf noch konkret erläuterungsbedürftige Punkte, die das LSG in seine Ermessensprüfung hätte einbeziehen müssen, hingewiesen wurde (vgl BVerfG Beschluss <Kammer> vom - 2 BvR 175/95 - Juris RdNr 29). Auch hieran fehlt es.
12bb) Soweit der Kläger sich auf die auf S 15 f der Beschwerdebegründung unter 1. bis 9. wiedergegebenen Fragen beruft, hat er nicht - anders als erforderlich - dargelegt, dass er dem LSG gegenüber in inhaltlicher Auseinandersetzung mit dem bereits vorliegenden Gutachten schlüssig aufgezeigt habe, dass und warum die von seiner Prozessbevollmächtigten erstmals in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll gereichten Fragen an den Sachverständigen Dr. Sch. nicht bereits von diesem im Rahmen der vom Berufungsgericht mit der Beweisanordnung vorgegebenen Fragestellungen hinreichend (mit-)beantwortet seien und inwiefern das LSG von einer erneuten Äußerung des Sachverständigen neue Erkenntnisse hätte erwarten können. Es reicht bei einer Sachaufklärungsrüge nach §§ 103, 118 Abs 1 S 1 SGG iVm § 411 Abs 3 ZPO nicht aus, entsprechende Ausführungen erst im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren "nachzuholen".
132. Sofern der Kläger - "hilfsweise" (S 1 und 42 der Beschwerdebegründung) - die gleichzeitig mögliche Rüge der Verletzung des Fragerechts nach § 116 S 2, § 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO erhebt (vgl P. Becker, SGb 2007, 328, 335), erfüllt die Beschwerdebegründung auch deren Darlegungsanforderungen nicht. Da das Fragerecht an den Sachverständigen der Verwirklichung des rechtlichen Gehörs dient, muss eine entsprechende Rüge aufzeigen, dass der Beteiligte alles getan hat, um die Anhörung des Sachverständigen zu erreichen. Hierzu gehört ua auch, dass in der Beschwerdebegründung dargelegt wird, dass er einen hierauf gerichteten Antrag mit objektiv sachdienlichen Fragen - wobei es hier im Gegensatz zur Aufklärungsrüge nicht allein auf den Rechtsstandpunkt des LSG ankommt (vgl Senatsbeschluss vom - B 13 R 119/14 B - Juris RdNr 12 f; P. Becker, SGb 2007, 328, 335) - innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach Erstattung des Gutachtens und hier insbesondere rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung gestellt hat (zu diesem und zu den weiteren Darlegungsanforderungen an eine Rüge der Verletzung des Fragerechts vgl zB Senatsbeschlüsse vom - B 13 R 333/12 B - Juris RdNr 8; vom - B 13 R 71/12 B - Juris RdNr 17; vom - B 13 R 439/13 B - Juris RdNr 10 und vom - B 13 R 201/15 B - Juris RdNr 7; - Juris RdNr 20; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 118 RdNr 12e). Dies hat der Kläger aber gerade nicht getan. Er zeigt keine Gründe dafür auf, warum seine Prozessbevollmächtigte dem Berufungsgericht den an den Sachverständigen Dr. Sch. zu richtenden Fragenkatalog trotz des bereits unter dem erstatteten Gutachtens erst in der mündlichen Verhandlung am vorlegen konnte und ihr dies nicht schon früher möglich gewesen war.
143. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
154. Die Verwerfung der Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
165. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2017:190417BB13R33916B0
Fundstelle(n):
HAAAG-46823