Sozialgerichtliches Verfahren - Unzulässigkeit der Klage - Aufhebung eines Dauerverwaltungsakts - Einbeziehung des Bescheids in ein früheres Klageverfahren - prozessuale Sperrwirkung - Wegfall der anderweitigen Rechtshängigkeit durch Berufungsrücknahme - Bestandskraft
Gesetze: § 96 Abs 1 SGG, § 77 SGG, § 94 SGG, § 156 Abs 1 SGG, § 202 S 1 SGG, § 17 Abs 1 S 2 GVG, § 48 Abs 1 S 1 SGB 10
Instanzenzug: Az: S 21 SO 546/10 Urteilvorgehend Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Az: L 20 SO 484/11 Urteil
Tatbestand
1Im Streit ist die Aufhebung der Bewilligung von Auslandssozialhilfe nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) ab .
2Die Kläger sind deutsche Staatsangehörige. Der 1947 in Düsseldorf geborene Kläger zu 1 und die 1973 geborene Klägerin zu 2 sind miteinander verheiratet; sie sind die Eltern der 2002 geborenen Klägerin zu 3. Seit leben die Kläger in Spanien.
3Der Beklagte gewährte ihnen seit Januar 2007 Sozialhilfe (Bescheide vom , 27.1., 16.3. und , 3.3. und ; Widerspruchsbescheide vom , und ). Gegen den Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom haben die Kläger am (S 21 SO 190/09), gegen die Bescheide vom 3.3. und in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom am (S 21 SO 284/10) Klagen beim Sozialgericht (SG) Köln erhoben, mit der sie jeweils höhere Leistungen begehrt haben. Das SG hat in beiden Verfahren die Klagen abgewiesen (Urteile vom ). In den dagegen beim Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen eingelegten Berufungen haben die Kläger am "die Verfahren L 20 SO 482/11 und L 20 SO 483/11 für erledigt" erklärt.
4Zwischenzeitlich hatte der Beklagte für die Zeit ab seine Leistungsbewilligung, gestützt auf § 48 Abs 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X), aufgehoben (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ).
5Das SG hat (auch) die dagegen gerichteten Klagen abgewiesen (Urteil vom ), das LSG die Berufungen der Kläger zurückgewiesen (Urteil vom ). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, in der Sache sei eine wesentliche Änderung iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X eingetreten, weil die Kläger (spätestens) zum mit überwiegender Wahrscheinlichkeit dem Grunde nach die Voraussetzungen für den Bezug von "spanischer Sozialhilfe" erfüllt hätten und damit kein Anspruch mehr auf deutsche Sozialhilfe bestehe.
6Mit ihren Revisionen rügen die Kläger eine Verletzung des § 24 Abs 2 SGB XII und Verfahrensfehler. Die Klagen seien trotz der früheren Gerichtsverfahren über die Leistungshöhe zulässig.
7Die Kläger beantragen,die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom aufzuheben.
8Der Beklagte beantragt,die Revisionen zurückzuweisen.
9Er hält die angefochtene Entscheidung des LSG für zutreffend.
Gründe
10Die zulässigen Revisionen sind aus anderen Gründen als vom LSG angenommen unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).
11Im Ergebnis zu Recht hat das LSG die Berufungen zurückgewiesen; denn die Klagen waren und sind unzulässig. Gegenstand der Klagen ist der Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom (§ 95 SGG), den die Kläger mit ihren Anfechtungsklagen angreifen und mit dem der Beklagte seine Bewilligung von Auslandssozialhilfe ab aufgehoben hat. Dieser Bescheid ist rechtlich gemäß § 96 Abs 1 SGG vollumfänglich Gegenstand des früheren Klageverfahrens gegen den Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom (§ 95 SGG) geworden. Auch nachdem die Kläger die Berufungen gegen das - fehlerhaft nur Teile der Klagen (faktische Nichteinbeziehung der Folgebescheide) - abweisende Urteil des SG zurückgenommen haben, bleiben die Klagen unzulässig, weil der hier streitgegenständliche Aufhebungsbescheid mit der Rücknahme der Berufungen bestandskräftig geworden ist.
12Die Klagen waren zunächst wegen anderweitiger Rechtshängigkeit unzulässig (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 17 Abs 1 Satz 2 Gerichtsverfassungsgesetz <GVG>). Der Bescheid vom ist nämlich mit seiner Bekanntgabe am Gegenstand des zu diesem Zeitpunkt bereits anhängigen Klageverfahrens (S 21 SO 190/09) gegen den Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom geworden. Nach § 96 Abs 1 SGG (in der Fassung, die die Norm durch das Gesetz zur Änderung des SGG und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom - BGBl I 444 - erhalten hat) wird nach Klageerhebung ein neuer Verwaltungsakt dann Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheids ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Geändert oder ersetzt wird ein Bescheid immer, wenn er denselben Streitgegenstand wie der Ursprungsbescheid betrifft, bzw wenn in dessen Regelung eingegriffen und damit die Beschwer des Betroffenen vermehrt oder vermindert wird (vgl nur Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 96 RdNr 4 ff mwN). Ergeht auf einen zeitlich nicht beschränkten Dauerverwaltungsakt ein Aufhebungsbescheid, durch den die streitgegenständlichen Leistungen entzogen werden, wird dieser Bescheid in (direkter) Anwendung von § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Verfahrens (BSGE 77, 175, 176 = SozR 3-4100 § 105 Nr 2 S 8 f).
13So ist es hier. Der Beklagte hat im Bescheid vom Sozialhilfe zeitlich unbegrenzt bewilligt. Streitgegenstand des zunächst anhängigen Klageverfahrens gegen diesen Bescheid (S 21 SO 190/09) war dabei die Höhe dieser Leistungen ab . Hiergegen haben sich die Kläger ohne zeitliche Begrenzung des Klagegegenstands gewandt. Auch in der Sache haben die Kläger ihr Klagebegehren nicht auf einzelne abtrennbare Regelungen des Bescheids begrenzt.
14Durch Bescheide vom 3.3. und hat der Beklagte die Leistungen - erneut zeitlich unbegrenzt - der Höhe nach für die Zeit ab neu festgesetzt. Auch diese Bescheide sind - als Änderungsbescheide - nach § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des früheren Klageverfahrens geworden, ohne dass hierdurch der Streitgegenstand begrenzt worden wäre. Der hier streitgegenständliche Bescheid vom hat sodann (gestützt auf § 48 SGB X) den Bescheid vom aufgehoben. Für den Zeitraum ab ist er gemäß § 96 Abs 1 SGG vollständig an die Stelle des seinerseits nach § 96 Abs 1 SGG streitbefangenen Bescheids vom getreten. Da die Kläger den Streitgegenstand nicht begrenzt haben (s zuvor), kommt es nicht darauf an, welche Rechtsfolgen sich hieraus für das vorliegende Verfahren ergäben.
15Die prozessuale Sperrwirkung des § 17 Abs 1 Satz 2 GVG endet zwar mit Abschluss des früheren Verfahrens; die Klagen bleiben aber dennoch unzulässig. Zwar steht ihrer Zulässigkeit nicht die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung entgegen (vgl zur Unzulässigkeit der Klage bei eingetretener Rechtskraft ). Das SG hat nämlich - in Verkennung der Einbeziehung der Änderungsbescheide vom 3.3. und 10.3. sowie des Aufhebungsbescheids vom - mit seinem klageabweisenden Urteil nur über einen Teil des Streitgegenstands, nämlich über den im Einleitungssatz des Tatbestands bezeichneten Zeitraum vom bis , entschieden. Einen Antrag auf Ergänzung des Urteils (vgl § 140 SGG) haben die Kläger nicht gestellt; es ist deshalb nicht entscheidungserheblich, dass ein solcher Antrag (aufgrund bewusster - wenn auch falscher - Entscheidung des SG) ohnehin unzulässig gewesen wäre (vgl nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 140 RdNr 2c mwN). Auch im Berufungsverfahren ist eine den Fehler des SG korrigierende gerichtliche Entscheidung betreffend den Zeitraum ab nicht ergangen. Zwar hätte der übergangene Anspruch Gegenstand einer Entscheidung im Berufungsverfahren werden können (vgl nur Keller, aaO, § 140 RdNr 2a mwN). Die Kläger haben jedoch ihre Berufungen gegen das die Klagen abweisende Urteil in der nichtöffentlichen Sitzung vom zurückgenommen, indem sie (ua) das "Verfahren L 20 SO 482/11 für erledigt erklärt" haben. Diese Erklärung kann nur als Berufungsrücknahme (§ 156 SGG) gewertet werden.
16Dadurch ist zwar die Rechtshängigkeit der Klagen gegen die Bescheide, über die das SG unter Verkennung des § 96 SGG nicht entschieden hat, folglich auch die Rechtshängigkeit der Klagen gegen den hier streitgegenständlichen Bescheid vom , entfallen (vgl nur Keller, aaO, § 140 RdNr 3; - NJW-RR 2005, 790, 791) und dieser in Bestandskraft erwachsen (§ 77 SGG); die zwischenzeitlich unzulässig erhobenen gesonderten Klagen gegen diesen Bescheid können gleichwohl nicht zulässig mit dem Ziel der Beseitigung der Bestandskraft weitergeführt werden (vgl Keller, aaO, § 140 RdNr 3), ohne dass ein neues Verwaltungsverfahren zur Überprüfung des bestandskräftigen Bescheids durchgeführt ist (vgl zu diesem Rechtsgedanken auch: BSGE 21, 13 ff = SozR Nr 5 zu § 156 SGG; BSG SozR 4-1500 § 92 Nr 2; BVerwGE 40, 25, 32; BFHE 159, 4, 9 f; 189, 252, 255).
17Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2016:091216UB8SO115R0
Fundstelle(n):
IAAAG-39524