BVerfG Urteil v. - 2 BvR 2023/16

Stattgebender Kammerbeschluss: Geschäftsverteilungsregelung in Abhängigkeit von erst im Nachhinein eintretenden, in der Entscheidung der betroffenen Spruchkörper stehenden Umständen genügt nicht den Anforderungen des Art 101 Abs 1 S 2 GG an Geschäftsverteilungspläne - hier: Zuständigkeit einer Hilfsstrafkammer in Abhängigkeit von Eröffnung des Hauptverfahrens durch originär zuständige Strafkammer bis zu einem bestimmten Stichtag - Gegenstandswertfestsetzung

Gesetze: Art 101 Abs 1 S 2 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 21e Abs 3 S 1 GVG, § 74c GVG, § 37 Abs 2 RVG, § 222b StPO

Instanzenzug: Az: 1 StR 175/16 Beschlussvorgehend LG Rostock Az: 2 KLs 291/14 Urteil

Gründe

A.

1 Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob ein gerichtlicher Geschäftsverteilungsplan, der Änderungen in der Zuständigkeit für bereits anhängige Verfahren davon abhängig macht, ob einzelne Strafkammern bis zu einem in der Zukunft liegenden Stichtag die jeweiligen Hauptverfahren eröffnen oder nicht eröffnen werden, mit der Garantie des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vereinbar ist.

I.

2 Mit Anklageschrift vom , eingegangen beim Landgericht Rostock am , legte die Staatsanwaltschaft Rostock der Beschwerdeführerin mit Mitangeklagten begangene Steuerstraftaten zur Last. Gemäß dem geltenden Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts war zu diesem Zeitpunkt die Kammer 18 (8. Große Strafkammer) des Landgerichts Rostock als Wirtschaftsstrafkammer für das Verfahren zuständig. Nach Zustellung der Anklage verlängerte der Vorsitzende der 8. Strafkammer am die allen Angeklagten gesetzte Frist zur Stellungnahme auf die Anklageschrift bis zum . Am selben Tage zeigte der Vorsitzende der 8. Strafkammer dem Präsidium des Landgerichts unter Ausführungen zu den zahlreichen im Zeitraum von Januar bis September 2014 eingegangenen äußerst umfangreichen und in der Sache schwierigen Wirtschaftsstrafsachen die Überlastung seiner Kammer an.

3 Daraufhin stellte das Präsidium des die Überlastung der 8. Großen Strafkammer fest und richtete mit Wirkung zum eine Hilfsstrafkammer ein. Hinsichtlich der Zuweisung der Verfahren an die Hilfsstrafkammer enthielt der Beschluss vom unter Ziffer 2 folgende Regelung:

"Zur Entlastung der 8. Großen Strafkammer wird gemäß § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG mit Wirkung zum eine Hilfsstrafkammer eingerichtet. Diese ist zuständig für alle erstinstanzlichen Strafverfahren gemäß § 74c GVG (Wirtschaftsstrafsachen), die seit dem bei der 8. Großen Strafkammer eingegangen sind und bei denen das Hauptverfahren bis zum nicht eröffnet worden ist. Die Hilfsstrafkammer ist ferner zuständig für alle erstinstanzlichen Strafsachen gemäß § 74c GVG (Wirtschaftsstrafsachen), die bis einschließlich beim Landgericht Rostock eingehen."

4 In dem die Beschwerdeführerin betreffenden Verfahren traf die 8. Große Strafkammer im Zeitraum zwischen dem Präsidiumsbeschluss und dem in dem Geschäftsverteilungsplan genannten Stichtag des keine Eröffnungsentscheidung.

5 Mit Beschluss vom ließ die neu eingerichtete Hilfsstrafkammer 8a die Anklage zur Hauptverhandlung zu und eröffnete das Hauptverfahren.

6 Im ersten Termin zur Hauptverhandlung am erhob der Verteidiger der Beschwerdeführerin den Besetzungseinwand gemäß § 222b StPO, mit dem die Beschwerdeführerin neben einer unzureichenden Besetzung der Kammer insbesondere eine Verletzung des Bestimmtheitsgebotes bei der Zuständigkeitsbestimmung durch den Präsidiumsbeschluss geltend machte. Außerhalb der Hauptverhandlung erhob die Staatsanwaltschaft mit Zuschrift vom denselben Besetzungseinwand. Die Zuständigkeitsregel in Ziffer 2 Satz 2 des Beschlusses vom , wonach die Hilfsstrafkammer für alle Wirtschaftsstrafsachen zuständig sei, die seit dem bei der 8. Großen Strafkammer eingegangen seien und bei denen das Hauptverfahren bis zum nicht eröffnet wurde, verletze Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, weil sie die Möglichkeit einer Manipulation der Zuständigkeit durch Eröffnung oder Nichteröffnung schaffe.

7 Das Präsidium des Landgerichts befasste sich daraufhin am erneut mit der Einrichtung der Hilfsstrafkammer und der Ableitung der Verfahren. Mit Beschluss vom wurde der Präsidiumsbeschluss vom klarstellend um umfangreiche Ausführungen zur Belastungssituation der 8. Großen Strafkammer ergänzt und die Regelung über die Zuweisung der Verfahren wie folgt erläutert:

"Das (im Beschluss vom ) zur Bestimmung der Zuständigkeit gewählte Kriterium der seit dem eingegangenen und bis zum nicht eröffneten Wirtschaftsstrafverfahren erfolgte allein mit Blick auf die erst mit Wirkung zum errichtete Hilfsstrafkammer. Die wegen Ablaufs der Stellungnahmefrist bevorstehende Entscheidung der 8. Großen Strafkammer über die Eröffnung der beiden dort bereits eingegangenen Wirtschaftsstrafverfahren 18 KLs 188/14 und 18 KLs 235/14 im Zeitraum zwischen dem und dem stand bei der Beschlussfassung nicht in Rede. Im Gegenteil war diese auch keineswegs zu erwarten, weil in der Sache 18 KLs 188/14 durch richterliche Verfügung vom die Stellungnahmefrist für alle Beschuldigten bis einschließlich zum verlängert worden war."

8 Am wies die Hilfsstrafkammer den Besetzungseinwand zurück und führte zur Begründung unter anderem aus:

"Mit der Übertragung von seit dem bei der 8. Großen Strafkammer eingegangenen erstinstanzlichen Strafverfahren gemäß § 74c GVG, soweit das Hauptverfahren nicht bis zum eröffnet worden ist, erfolgte keine unzulässige Übertragung von Einzelsachen.

Das gewählte Kriterium zur Bestimmung der Zuständigkeit der 8a. Hilfsstrafkammer für die seit dem eingegangenen Wirtschaftsstrafverfahren, sofern das Hauptverfahren in diesem nicht bis zum eröffnet worden ist, regelt im Voraus generell abstrakt die Zuständigkeit des Spruchkörpers. Die getroffene Regelung entspricht den diesbezüglichen Anforderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung, dass die Sache anhand vorab festgelegter Merkmale "blindlings" zu dem berufenen Richter gelangt (). Die mit Wirkung zum eingerichtete und erst ab diesem Zeitpunkt besetzte Kammer konnte keinerlei Einfluss darauf ausüben, welche Verfahren an sie fallen, zu diesem Zeitpunkt war der gesetzliche Richter mit der 8. Großen Strafkammer ebenfalls bestimmt. Im Zeitraum zwischen dem 19. und ist in keinem der abgeleiteten Verfahren eine Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens ergangen, noch war damit angesichts der konkreten Umstände zu rechnen. Dabei durfte und musste das Präsidium bei der Beschlussfassung davon ausgehen, dass die 8. Große Strafkammer in jedem Fall die in der vorliegenden Sache bis zum verlängerte Einlassungsfrist beachtet. Vorkehrungen gegen eine theoretisch mögliche Zuständigkeitsmanipulation durch Eröffnung unter evidenter Verletzung des rechtlichen Gehörs musste das Präsidium durch Erstreckung der Umverteilungsmaßnahme auf bereits eröffnete Verfahren nicht treffen. Bei verständiger Würdigung der angezeigten Überlastungssituation durfte es als ausgeschlossen und dem Interesse der Wiederherstellung eines geordneten Geschäftsablaufs zuwiderlaufend erscheinen, dass die Kammer durch eine rechtswidrige Eröffnungsentscheidung in Unkenntnis des zu erwartenden Verteidigungsvorbringens ihre Zuständigkeit über den hinaus perpetuiert."

9 Mit Urteil vom verurteilte das Landgericht die Beschwerdeführerin wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten.

10 Gegen das Urteil legte die Beschwerdeführerin Revision ein und rügte dabei unter anderem die Verletzung von § 338 Abs. 1 Nr. 1 StPO. Der Generalbundesanwalt beantragte mit Zuschrift vom beim Bundesgerichtshof, die Revision gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen. Zur Frage der Zuständigkeitszuweisung vertrat er - neben Ausführungen dazu, dass bei der 8. Großen Strafkammer eine vorübergehende und keine dauerhafte Überlastung bestanden habe - die Auffassung, das Vorgehen des Präsidiums stelle keinen Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz dar. Die 8. Große Strafkammer sei ohne vorherige gründliche Einarbeitung nicht in der Lage gewesen, im Zeitraum zwischen dem und eine Entscheidung über die Eröffnung zu treffen. Im Übrigen sei auch mit anderen Entlastungsmaßnahmen eine Veränderung des gesetzlichen Richters verbunden gewesen.

11 Mit nicht näher begründetem Beschluss vom verwarf der Bundesgerichtshof die Revision der Beschwerdeführerin gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet.

II.

12 Mit ihrer gegen das Urteil des Landgerichts Rostock und den Verwerfungsbeschluss des Bundesgerichtshofs gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

13 Zum einen seien die Voraussetzungen für die Einrichtung einer Hilfsstrafkammer nach § 21e Abs. 3 GVG nicht gegeben gewesen, weil eine nicht nur vorübergehende Überlastung der 8. Großen Strafkammer vorgelegen habe.

14 Zum anderen verstoße die vom Präsidium gewählte Ausgestaltung der Verfahrenszuteilung gegen den Bestimmtheitsgrundsatz. Die Rechtssache müsse aufgrund einer hinreichend präzisen Regelung "blindlings" zu den entscheidenden Richtern gelangen. Hier seien aufgrund der offen gehaltenen Bestimmung für den Zeitraum zwischen dem Erlass des Präsidiumsbeschlusses am und dem für die Anknüpfung der Zuständigkeit im Bezug genommenen Zeitpunkt der Eröffnung am Manipulationen der Zuständigkeit möglich gewesen. Die Erfüllung der Kriterien für die Bestimmung der Zuständigkeit habe in den Händen der 8. Großen Strafkammer gelegen. Die laufende Erklärungsfrist der Verteidigung bis zum habe daran nichts ändern können, zumal diese durch den Verzicht auf eine Stellungnahme oder sonstige Maßnahmen hätte abgekürzt oder unterlaufen werden können.

III.

15 Die Bundesregierung sowie das Land Mecklenburg-Vorpommern haben von Stellungnahmen abgesehen.

16 Die Präsidentin des Bundesgerichtshofs hat auf eine Stellungnahme des Vorsitzenden des 3. Strafsenats verwiesen, in der dieser auf die Rechtsprechung seines Senats zu den Voraussetzungen der Einrichtung von Hilfsstrafkammern wegen zeitweiliger Überlastung verweist; mit der verfahrensgegenständlichen Frage des Inhalts des Geschäftsverteilungsplanes sei der Senat noch nicht befasst gewesen. Die anderen Strafsenate haben von einer Stellungnahme abgesehen.

17 Der Generalbundesanwalt vertritt in seiner Stellungnahme die Auffassung, der Präsidiumsbeschluss habe - verfassungsrechtlich unbedenklich - von einer nur vorübergehenden Überlastung der 8. Großen Strafkammer ausgehen dürfen. Hinsichtlich der gerügten Verletzung des Bestimmtheitsgebots sei dem Vorbringen der Beschwerdeführerin einzuräumen, dass die hier gewählte Gestaltung im Ausgangspunkt Unsicherheiten über die abstrakt im Voraus zu bestimmende Zuweisung der Zuständigkeiten nicht gänzlich auszuschließen vermöge, weil theoretisch ein Handeln oder Unterlassen der jeweiligen Spruchkörper nicht ohne Einfluss auf die Zuständigkeit habe bleiben können. Unter Berücksichtigung der Umstände des vorliegenden Einzelfalls sei eine relevante Gefährdung des Anspruchs der Beschwerdeführerin auf ihren gesetzlichen Richter, wie in der vom Bundesgerichtshof in Bezug genommenen Zuschrift des Generalbundesanwalts im Einzelnen dargelegt sei, indes noch nicht zu besorgen gewesen.

18 Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten des Ausgangsverfahrens vorgelegen.

B.

19 Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist in einer die Zuständigkeit der Kammer eröffnenden Weise offensichtlich begründet. Die für die Beurteilung maßgebenden Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

I.

20 Die beiden angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Die mit Präsidiumsbeschluss vom getroffene Regelung in Ziffer 2 Satz 2 des Geschäftsverteilungsplans für das Jahr 2014 ist mit der Garantie des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unvereinbar.

21 Das Urteil der 8a. Hilfsstrafkammer ist nicht durch den gesetzlichen Richter ergangen. Mit der Verwerfung der Revision hat das Revisionsgericht die Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG perpetuiert.

22 1. a) Mit der Garantie des gesetzlichen Richters will Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG der Gefahr vorbeugen, dass die Justiz durch eine Manipulation der rechtsprechenden Organe sachfremden Einflüssen ausgesetzt wird. Es soll vermieden werden, dass durch eine auf den Einzelfall bezogene Auswahl der zur Entscheidung berufenen Richter das Ergebnis der Entscheidung - gleichgültig von welcher Seite - beeinflusst werden kann (vgl. BVerfGE 17, 294 <299>; 48, 246 <254>; 82, 286 <296>; 95, 322 <327>). Damit sollen die Unabhängigkeit der Rechtsprechung gewahrt und das Vertrauen der Rechtsuchenden und der Öffentlichkeit in die Unparteilichkeit und Sachlichkeit der Gerichte gesichert werden (vgl. BVerfGE 4, 412 <416, 418>; 95, 322 <327>).

23 Aus diesem Zweck des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG folgt, dass die Regelungen, die der Bestimmung des gesetzlichen Richters dienen, im Voraus so eindeutig wie möglich festlegen müssen, welches Gericht, welcher Spruchkörper und welche Richter zur Entscheidung des Einzelfalls berufen sind (vgl. BVerfGE 17, 294 <299>; 18, 344 <349>; 95, 322 <328>).

24 b) Eine nachträgliche Änderung der Geschäftsverteilung kann geboten sein, wenn nur auf diese Weise dem Verfassungsgebot einer Gewährleistung von Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit (vgl. BVerfGE 55, 349 <369>; vgl. auch BVerfGE 60, 253 <269 f.>; 78, 165 <178>; 88, 118 <124>) nachzukommen ist. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG steht einer Änderung der Zuständigkeit auch für bereits anhängige Verfahren jedenfalls dann nicht entgegen, wenn die Neuregelung generell gilt, zum Beispiel mehrere anhängige Verfahren und eine unbestimmte Vielzahl künftiger, gleichartiger Fälle erfasst, und nicht aus sachwidrigen Gründen geschieht.

25 Jedoch müssen sämtliche Regelungen eines Geschäftsverteilungsplanes, der die gesetzlichen Bestimmungen über die Zuständigkeiten der jeweiligen Spruchkörper ergänzt, die wesentlichen Merkmale gesetzlicher Vorschriften aufweisen (vgl. BVerfGE 17, 294 <299>; 18, 344 <349>; 95, 322 <328>). Die Regelungen eines Geschäftsverteilungsplanes müssen also im Voraus generell-abstrakt die Zuständigkeit der Spruchkörper und die Zuweisung der einzelnen Richter regeln, damit die einzelne Sache "blindlings" aufgrund allgemeiner, vorab festgelegter Merkmale an den entscheidenden Richter gelangt und so der Verdacht einer Manipulation der rechtsprechenden Gewalt ausgeschlossen wird (vgl. BVerfGE 4, 412 <416>; 82, 286 <298>; 95, 322 <329>).

26 Soweit bereits anhängige Verfahren von einer Neuverteilung bestehender Zuständigkeiten erfasst werden, sind Regelungen mithin nur dann im Voraus generell-abstrakt, wenn die Neuverteilung durch den Geschäftsverteilungsplan selbst erfolgt. Sie sind demgegenüber nicht im Voraus generell-abstrakt, wenn sie im Einzelfall sowohl die Neuverteilung als auch die Beibehaltung bestehender Zuständigkeiten ermöglichen und dabei die konkreten Zuständigkeiten von Beschlüssen einzelner Spruchkörper abhängig machen.

27 c) Die Garantie des gesetzlichen Richters kann außer durch Regelungen eines Geschäftsverteilungsplanes, die nicht generell-abstrakt sind, auch durch willkürliche Anwendung generell-abstrakter Regelungen eines Geschäftsverteilungsplanes im Einzelfall verletzt werden. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährt insofern einen subjektiven Anspruch auf den gesetzlichen Richter.

28 Durch diese grundrechtsgleiche Gewährleistung wird das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht zu einem Kontrollorgan, das jeden Verfahrensfehler eines Spruchkörpers korrigieren muss, der seine Zuständigkeit im Einzelfall irrtümlich begründet. Das Bundesverfassungsgericht beanstandet Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen vielmehr nur dann, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind (vgl. BVerfGE 82, 159 <194> unter Hinweis auf BVerfGE 29, 198 <207>).

29 Betrifft ein Verfahren nicht allein die fehlerhafte Auslegung oder Anwendung einer im Voraus abstrakt-generellen Zuständigkeitsregel (etwa eines Geschäftsverteilungsplans oder der Voraussetzungen des § 21e Abs. 3 GVG) durch einen Spruchkörper im Einzelfall, sondern die Vorfrage, ob eine Zuständigkeitsregel eines Geschäftsverteilungsplanes überhaupt als generell-abstrakte Regelung im Sinne der Garantie des gesetzlichen Richters anzusehen ist, nimmt das Bundesverfassungsgericht dagegen keine bloße Willkürprüfung vor, sondern überprüft vollumfänglich, ob die angewendete Regelung generell-abstrakt ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 581/03 -, juris, Rn. 21 f.).

30 2. Den angeführten Maßstäben wird der Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts Rostock nicht gerecht. Er enthielt - soweit er den hier in Rede stehenden Fall anbelangt - keine generell-abstrakten Regelungen im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, aus denen sich eine Zuständigkeit der Hilfsstrafkammer als gesetzlicher Richter hätte ergeben können. Das angegriffene Urteil des Landgerichts verletzt somit das grundrechtsgleiche Recht der Beschwerdeführerin aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

31 a) Die Regelung in Ziffer 2 Satz 2 des Beschlusses des Präsidiums des Landgerichts Rostock vom genügt nicht den Anforderungen aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, indem sie von der Übertragung aller seit dem bei der 8. Großen Strafkammer eingegangenen erstinstanzlichen Strafverfahren gemäß § 74c GVG (Wirtschaftsstrafsachen) auf eine andere Strafkammer diejenigen Verfahren ausnimmt, bei denen bis zu dem Stichtag am - fünf Tage nach Fassung des Präsidiumsbeschlusses - die 8. Große Strafkammer das Hauptverfahren noch eröffnen werde. Diese Stichtagslösung verhindert die generell-abstrakte Zuständigkeitsbegründung im Voraus, weil sie die Zuständigkeit des jeweiligen Spruchkörpers von einem später eintretenden Umstand abhängig macht. Es handelt sich bei Ziffer 2 Satz 2 des Beschlusses um eine Bestimmung, die eine Begründung konkreter, auf den Einzelfall bezogener Zuständigkeiten erst im Nachhinein - durch Eröffnung oder das Unterlassen der Eröffnung des Hauptverfahrens - ermöglicht. Eine solche Delegation der Entscheidung über die Geschäftsverteilung an die Spruchkörper, die gerade Adressaten der generell-abstrakten Zuständigkeit sein sollten, ist mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unvereinbar.

32 b) Verfassungsrechtlich unerheblich ist der Umstand, dass das Präsidium des Landgerichts ausweislich seines klarstellenden Beschlusses vom zum Zeitpunkt des Präsidiumsbeschlusses vom erwartet hatte, in den beiden seit dem eingegangenen Wirtschaftsstrafsachen werde bis zum keine Eröffnungsentscheidung getroffen. Denn für die Wahrung des gesetzlichen Richters gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG kommt es nicht darauf an, welche Erwartungen das Präsidium dahingehend hegt, ob von einer Übertragung der Zuständigkeitsverantwortung Gebrauch gemacht wird. Entscheidend ist, dass der Geschäftsverteilungsplan eine derartige Übertragung von Zuständigkeitsbestimmungen grundsätzlich nicht vorsehen darf. Wäre das Präsidium zudem sicher gewesen, dass keine Eröffnungsbeschlüsse bis zum festgesetzten Stichtag zu erwarten waren, hätte die Regelung von Vornherein unterbleiben können.

33 3. Der ebenfalls angegriffene Beschluss des Bundesgerichtshofes wiederholt und vertieft die Verletzung des Rechts der Beschwerdeführerin aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

34 4. Da die Verfassungsbeschwerde erfolgreich ist, bedarf die weitere Rüge der Beschwerdeführerin, auch die Voraussetzungen des § 21e Abs. 3 GVG seien in verfassungswidriger Weise angenommen worden, keiner Entscheidung.

II.

35 Mit der Entscheidung in der Hauptsache erledigt sich der Antrag der Beschwerdeführerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

III.

36 Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

IV.

37 Der nach § 37 Abs. 2 RVG festzusetzende Gegenstandswert für die anwaltliche Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren beträgt mindestens 5.000 € und, wenn - wie hier - die Verfassungsbeschwerde aufgrund einer Entscheidung der Kammer Erfolg hat, in der Regel 10.000 €. Weder die objektive Bedeutung der Sache noch Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit weisen Besonderheiten auf, die zu einer Abweichung Anlass geben.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:




ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2016:rk20161223.2bvr202316

Fundstelle(n):
wistra 2017 S. 187 Nr. 5
PAAAF-89779