Persönliche Kindergeldanspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten; im Wesentlichen inhaltsgleich mit ; Kindergeldauszahlung gehört nicht zum Festsetzunsverfahren
Leitsatz
1. Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in Deutschland, sondern dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinem Haushalt aufgenommen hat (Anschluss an , BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612).
2. Die Auszahlung des Kindergeldes gehört nicht zum Festsetzungs-, sondern zum Auszahlungsverfahren, das dem Erhebungsverfahren entspricht (Bestätigung der Rechtsprechung).
Gesetze: EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1, EStG § 64 Abs. 2 Satz 1, EGV 883/2004 Art. 67 Satz 1, EGV 987/2009 Art. 60 Abs. 1 Satz 2
Instanzenzug: ,
Tatbestand
1 I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist ungarischer Staatsbürger, der in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) lebt und nichtselbständig tätig ist. Seine 1996 geborene Tochter K lebt im Haushalt der Kindsmutter in Ungarn. Die Kindsmutter war bis August 2010 Rentnerin. Sie bezog bis Juli 2010 Familienleistungen nach ungarischem Recht.
2 Im Januar 2011 beantragte der Kläger bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten und Revisionsklägerin (der Familienkasse) Kindergeld für K für den Zeitraum ab Mai 2010 zur Auszahlung auf ein Konto der Kindsmutter. Die Familienkasse wies den Antrag im Februar 2011 zurück, da K in den Haushalt der Kindsmutter aufgenommen sei und daher die Kindsmutter einen vorrangigen Anspruch habe. Dagegen legte der Kläger Einspruch ein. Durch Einspruchsentscheidung vom wies die Familienkasse den Einspruch zurück.
3 Der daraufhin erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2012, 253 abgedruckten Urteil im Wesentlichen statt. Es verpflichtete die Beklagte, dem Kläger für den Zeitraum von Mai 2010 bis August 2010 Kindergeld zu gewähren und ihn für den Zeitraum von September 2010 bis März 2011 unter Beachtung der Rechtsauffassung des FG zu bescheiden. Dagegen wendet sich die Familienkasse mit der Revision.
4 Der Senat hat das Verfahren mit Beschluss vom bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache C-378/14, Trapkowski, ausgesetzt. Nach Veröffentlichung des , Trapkowski, (EU:C:2015:720, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst —DStRE— 2015, 1501) hat der Senat das Verfahren wieder aufgenommen und den Beteiligten Gelegenheit gegeben, sich zu dem EuGH-Urteil zu äußern. Die Familienkasse ist der Auffassung, der EuGH habe ihren Rechtsstandpunkt bestätigt.
5 Die Familienkasse beantragt,
das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Gründe
6 II. Die Revision ist begründet und führt zur Aufhebung des FG-Urteils und Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Das FG-Urteil verletzt § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitjahr geltenden Fassung (EStG). Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf Zahlung des Kindergeldes.
7 1. Die Familienkasse X der Bundesagentur für Arbeit ist aufgrund eines Organisationsakts (Beschluss des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit Nr. 21/2013 vom gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 2.2 der Anlage 2) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der Agentur für Arbeit Y - Familienkasse eingetreten (s. dazu Senatsurteil vom V R 25/12, BFH/NV 2014, 322, Rz 11 f.).
8 2. Der Kläger ist zwar kindergeldberechtigt, weil er in Deutschland lebt und Vater einer Tochter ist, die ihren Wohnsitz in Ungarn hat (§ 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 EStG) und für die ein Anspruch auf Kindergeld besteht (§ 32 Abs. 3 EStG).
9 Der Kläger hat aber keinen Anspruch auf Zahlung des Kindergeldes; denn mit Blick auf das Unionsrecht ist nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG die Kindsmutter vorrangig anspruchsberechtigt.
10 a) Nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG wird bei mehreren Berechtigten das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat.
11 b) Eine Person hat nach Art. 67 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 883/2004) —wie hier der Kläger nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004— Anspruch auf Familienleistungen (wie hier Kindergeld nach Art. 1 Buchst. z, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004) nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats (hier: Deutschland gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der VO Nr. 883/2004), auch für Familienangehörige, die zwar in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, die aber so behandelt werden, als wohnten sie im zuständigen Mitgliedstaat. Denn bei der Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004 ist nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der VO Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle Beteiligten —insbesondere was das Recht zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt— unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats (hier: Deutschland) fallen und dort wohnen (dazu eingehend EuGH-Urteil Trapowski in EU:C:2015:720, DStRE 2015, 1501).
12 Diese Fiktion führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in Deutschland, sondern dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (vgl. dazu im Einzelnen , BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612).
13 c) So verhält es sich im Streitfall: K lebt im Haushalt der ebenfalls kindergeldberechtigten Kindsmutter, so dass der Kläger keinen Anspruch auf Auszahlung des Kindergeldes hat. Es sind auch keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass die Kindsmutter eine nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländerin (§ 62 Abs. 2 EStG) sein könnte.
14 d) Das FG-Urteil kann auch nicht mit der Maßgabe Bestand haben, dass das Kindergeld —wie vom Kläger zeitweise beantragt— zwar gegenüber dem Kläger festzusetzen, aber an die Kindsmutter auszuzahlen ist. Der Senat kann dahingestellt sein lassen, ob eine Abänderung des Urteils in diesem Sinne durch den Antrag der Familienkasse abgedeckt wäre (§ 121 Satz 1 i.V.m. § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO). Der Kläger kann jedenfalls auch durch die Zustimmung zur Auszahlung an die Kindsmutter nicht erreichen, dass ihm gegenüber Kindergeld festgesetzt wird. Die Auszahlung des Kindergeldes gehört nicht zum Festsetzungs-, sondern zum Auszahlungsverfahren, das dem Erhebungsverfahren entspricht (, BFHE 231, 520, BStBl II 2013, 583, Rz 11; vom III R 3/13, BFHE 243, 198, BStBl II 2014, 576, Rz 15; vgl. auch , BFH/NV 2016, 1278, Rz 18). An wen das Kindergeld tatsächlich ausbezahlt werden soll, ist daher für die Festsetzung grundsätzlich ohne Bedeutung.
15 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2016:U.230816.VR49.11.0
Fundstelle(n):
BFH/NV 2017 S. 32 Nr. 1
RAAAF-86861