Private Unfallversicherung: Adäquater Kausalzusammenhang zwischen Unfallereignis und Gesundheitsbeeinträchtigung bei Vorschäden
Leitsatz
In der privaten Unfallversicherung genügt es für einen adäquaten Kausalzusammenhang zwischen Unfallereignis und Gesundheitsbeeinträchtigung, dass das Unfallereignis an der eingetretenen Funktionsbeeinträchtigung mitgewirkt hat, wenn diese Mitwirkung nicht gänzlich außerhalb aller Wahrscheinlichkeit liegt. Eine wesentliche oder richtungsgebende Mitwirkung ist - anders als im Sozialversicherungsrecht - nicht zu verlangen. Daher schließt das Vorhandensein von Vorschäden für sich genommen die Kausalität nicht aus.
Gesetze: § 178 Abs 2 VVG, Nr 3 AUB 2000
Instanzenzug: Az: 7 U 69/14vorgehend LG Tübingen Az: 4 O 60/12
Tatbestand
1Die Klägerin nimmt die Beklagte aus einer bei ihr auf Grundlage der Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen (AUB 2000) unterhaltenen Unfallversicherung auf Zahlung einer Invaliditätsentschädigung von 34.000 € in Anspruch.
2Am war die Klägerin als Übungsleiterin in einem Sportverein bei einem Kinderturnen tätig. Dabei gab sie einem zehnjährigen Jungen beim Versuch eines Flickflacks Hilfestellung. Infolge einer hierbei ausgeführten Drehbewegung kam sie selbst zu Fall und fing sich mit den Händen auf der Turnmatte ab. Danach verspürte sie heftige Schmerzen im Kreuz. Am nächsten Tag konnte sie nicht mehr alleine aus dem Bett aufstehen. Zwei bis drei Tage später war sie nicht mehr in der Lage, auf dem linken Bein zu stehen. Nachdem sich die Schmerzen bis zu einer Ohnmacht ausgeweitet hatten, begab sie sich vom 5. bis in stationäre Behandlung. Dabei wurden im MRT bei L4/L5 eine Bandscheibenprotrusion und eine Spinalkanalstenose festgestellt.
3Mit Schreiben vom machte die Klägerin wegen einer Beeinträchtigung der Beweglichkeit des Rumpfes, einer verminderten Belastbarkeit sowie in das linke Bein ausstrahlender Schmerzen im Lendenwirbelsäulenbereich Ansprüche aus der Unfallversicherung geltend.
4Ein daraufhin von der Beklagten eingeholtes unfallchirurgisch-orthopädisches Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass die Spinalkanalstenose bereits vor dem Ereignis bestanden haben müsse und die nachgewiesene Bandscheibenprotrusion nicht als bedingungsgemäße Unfallfolge zu werten sei, weshalb die Beklagte Leistungen ablehnte.
5Die Klägerin hat zunächst geltend gemacht, dass die verbliebenen dauerhaften Bewegungseinschränkungen auf den durch den Unfall verursachten Prolaps zurückzuführen seien, und ihren Invaliditätsgrad auf 40% eingeschätzt.
6Der vom Landgericht beauftragte Sachverständige ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die Beschwerden der Klägerin nicht auf den Bandscheibenprolaps, sondern auf eine Facettengelenksarthrose zurückzuführen seien, für die der Unfall keine richtungsweisende Verschlimmerung dargestellt habe, sondern die durch den Unfall nur aktiviert worden sei.
7Daraufhin hat sich die Klägerin auf diese Facettengelenksarthrose als Ursache ihrer Bewegungseinschränkungen gestützt. Sie hat behauptet, auch die Arthrose sei erst unfallbedingt entstanden.
8In den Vorinstanzen ist die Klage erfolglos geblieben. Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Revision.
Gründe
9Die Revision hat Erfolg.
10I. Das Berufungsgericht hat - nach ergänzender Beweisaufnahme durch ein weiteres Gutachten des schon in erster Instanz tätigen Sachverständigen und dessen mündliche Anhörung - das Vorliegen eines Unfallereignisses bejaht, sich aber davon überzeugt gezeigt, dass eine bei der Klägerin gegebenenfalls bestehende dauerhafte Beeinträchtigung nicht auf dieses Ereignis, sondern auf vorbestehende degenerative Veränderungen zurückzuführen sei.
11Der Sachverständige habe dargelegt, dass bei der Klägerin kein traumatisch bedingter Bandscheibenvorfall vorliege und dass für ihre Beschwerdesymptomatik eine Facettengelenksymptomatik verantwortlich sei, die aber ebenfalls nicht auf akut-traumatische Veränderungen, sondern auf einen überaltersgemäßen Verschleiß hindeute. Insgesamt seien die bei dem Vorfall auf die Klägerin einwirkenden Kräfte gering gewesen und hätten lediglich eine Aktivierung der bereits bis dahin klinisch stumm vorbestehenden degenerativen Facettengelenksarthrose bewirkt. Eine eingetretene Invalidität der Klägerin - gleich welchen Grades - sei daher nicht unfallbedingt.
12Die Frage einer Vorinvalidität oder einer Anspruchsminderung wegen mitwirkender Krankheiten oder Gebrechen stelle sich somit nicht.
13II. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Berufungsgericht hätte die Kausalität des von ihm festgestellten Unfallgeschehens für den bei der Klägerin eingetretenen Dauerschaden - dessen Vorliegen mangels gegenteiliger Feststellungen für das Revisionsverfahren zu unterstellen ist - mit der von ihm gegebenen Begründung nicht verneinen dürfen.
141. Der erforderliche Kausalzusammenhang zwischen Unfallereignis und Gesundheitsbeeinträchtigung besteht nach der Äquivalenztheorie, wenn der Unfall im Sinne einer conditio sine qua non nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Gesundheitsschaden entfiele (Schwintowski/Brömmelmeyer/Brömmelmeyer, PK-VersR 2. Aufl. § 178 VVG Rn. 26). Dabei ist Mitursächlichkeit ausreichend, was schon aus der Tatsache folgt, dass in Nr. 3 AUB 2000 bei der Mitwirkung von Krankheiten und Gebrechen, also unfallfremden Faktoren, kein Ausschluss, sondern nur eine Anspruchsminderung entsprechend dem Mitwirkungsanteil vorgesehen ist (Senatsurteil vom - IV ZR 98/12, VersR 2013, 1570 Rn. 24; vom - IV ZR 70/11, VersR 2012, 92 Rn. 13 ff.; Knappmann, NVersZ 2002, 1, 2; Grimm, Unfallversicherung 5. Aufl. Ziff. 1 AUB Rn. 52).
15Weiterhin muss nach der Adäquanztheorie das Ereignis im Allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, ganz unwahrscheinlichen und nach dem regelmäßigen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen zur Herbeiführung eines Erfolges der eingetretenen Art geeignet sein (Senatsurteil vom - IV ZR 98/12, VersR 2013, 1570 Rn. 21; , NJW 1986, 1329 unter II 4 b).
16a) Allerdings nimmt ein Teil der Rechtsprechung und des Schrifttums an, dass ein adäquater Kausalzusammenhang entfällt, wenn die Funktionsbeeinträchtigung auch auf degenerativen oder anlagebedingten Vorschäden beruht, die bis zum Unfall noch keine Beschwerden ausgelöst hatten, so dass jede andere Ursache die Gesundheitsschädigung ebenso gut hätte herbeiführen können und der Unfall, der in diesen Fällen häufig auch als "Gelegenheitsursache" bezeichnet wird, nur einen unmaßgeblichen Anlass für die Beschwerden setzt (OLG Köln r+s 2013, 619; OLG Köln VersR 2007, 1689; OLG Celle VersR 2010, 205; KG r+s 2002, 525; OLG Schleswig VersR 1995, 825; Schwintowski/Brömmelmeyer/Brömmelmeyer, PK-VersR 2. Aufl. § 178 VVG Rn. 26, aber gegen Verwendung des Begriffs der Gelegenheitsursache; Grimm, Unfallversicherung 5. Aufl. Ziff. 1 AUB Rn. 52 m.w.N.; Kloth, Private Unfallversicherung 2. Aufl. Kap. E Rn. 80; Mangen in Versicherungsrechts-Handbuch 3. Aufl. § 47 Rn. 29; HK-VVG/Rüffer, 3. Aufl. § 178 VVG Rn. 18). Zur Begründung wird angeführt, der Unfallversicherer gewähre Schutz davor, dass sich die gesundheitliche Konstitution der versicherten Person durch das Unfallereignis richtungsweisend verändere, woran es fehle, wenn die Schädigung durch innerkörperliche Vorgänge bereits derart vorprogrammiert sei, dass sie bei jedem geringfügigen und beliebig austauschbaren Anlass nach außen treten könne (Mangen aaO).
17b) Diese Auffassung ist jedoch unzutreffend. Entgegen der Revisionserwiderung ist in der privaten Unfallversicherung nicht von einem eigenständigen unfallversicherungsrechtlichen Kausalbegriff auszugehen.
18Der Begriff der Gelegenheitsursache stammt aus dem Sozialversicherungsrecht, das nicht jede Mitwirkung genügen lässt, sondern für die Kausalität eine wesentliche oder richtungsgebende Mitwirkung verlangt. Danach ist eine bloße Gelegenheitsursache gegeben, wenn der Schaden auch ohne äußere Einwirkung hätte entstehen können und im ungefähr gleichen Ausmaß und etwa demselben Zeitpunkt auch eingetreten wäre, wenn es zur Auslösung akuter Erscheinungen nicht besonderer, in ihrer Eigenart unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedürfe, sondern jedes andere alltäglich vorkommende ähnlich gelagerte Ereignis zu derselben Zeit die Schädigung auslöste (BSG VersR 2000, 789, 790; BSGE 62, 220, 223; Knappmann, NVersZ 2002, 1, 2 f.; ders. r+s 2007, 45, 49; Lücke, VK 2008, 39, 40; Hoenicke, r+s 2009, 206, 207).
19Hingegen ist die im privaten Unfallversicherungsrecht ausreichende Adäquanz schon bei einer nicht gänzlich außerhalb aller Wahrscheinlichkeit liegenden Mitwirkung gegeben (Senatsurteil vom - IV ZR 98/12, VersR 2013, 1570 Rn. 21; OLG Hamm VersR 2013, 573, 575; Marlow/Tschersich, r+s 2009, 441, 444 f.). Daher schließt das Vorhandensein von Vorschäden für sich genommen die Kausalität nicht aus. Das Adäquanzerfordernis bezweckt nicht, die Folgen von Gesundheitsschädigungen, die nahezu ausschließlich durch ihre gesundheitliche Verfassung geprägt sind, von vornherein vom Versicherungsschutz auszuschließen. Dies wird der durchschnittliche Versicherungsnehmer entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung auch dem Klauselwerk nicht entnehmen. Er wird vielmehr gerade aus der Regelung über die Mitwirkung von Krankheiten und Gebrechen an der durch den Unfall verursachten Gesundheitsschädigung schließen, dass er im Grundsatz auch dann Versicherungsschutz genießt, wenn Unfallfolgen durch eine bereits vor dem Unfall vorhandene besondere gesundheitliche Disposition verschlimmert werden (Senatsurteil vom aaO Rn. 24). Zudem würde ein Ausschluss der Kausalität über die Figur der "Gelegenheitsursache" die Beweislast des Versicherers für die Mitwirkung von Vorerkrankungen (vgl. hierzu Senatsurteil vom - IV ZR 70/11, VersR 2012, 92 Rn. 16) unzulässig auf den Versicherungsnehmer verlagern (vgl. , juris Rn. 39).
202. Die Kausalität des Unfallgeschehens für die Gesundheitsbeeinträchtigung der Klägerin wäre deshalb zu bejahen, wenn die bei dem Vorfall auf die Klägerin einwirkenden Kräfte - mögen sie auch gering gewesen sein - die Aktivierung der zuvor klinisch stummen Facettengelenksarthrose bewirkt und damit die geltend gemachten Dauerbeschwerden ausgelöst haben. Die entsprechenden Feststellungen wird das Berufungsgericht noch zu treffen haben.
213. Von seinem Rechtsstandpunkt aus konsequent hat das Berufungsgericht auch keine Feststellungen dazu getroffen, ob und mit welchem Grad eine Invalidität der Klägerin tatsächlich eingetreten ist, und bejahendenfalls, mit welchem Mitwirkungsanteil das Unfallgeschehen einerseits und die degenerative Vorschädigung andererseits zu dem Dauerschaden beigetragen haben, so dass eine Minderung der Leistung nach Nr. 3 AUB 2000 stattzufinden hätte. Die Sache ist deshalb auch insoweit zur Nachholung dieser Feststellungen an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
22Dabei ist zugrunde zu legen, dass eine Krankheit im Sinne von Nr. 3 Satz 2 AUB 2000 dann vorliegt, wenn ein regelwidriger Körperzustand besteht, der ärztlicher Behandlung bedarf, während unter einem Gebrechen ein dauernder abnormer Gesundheitszustand zu verstehen ist, der eine einwandfreie Ausübung normaler Körperfunktionen (teilweise) nicht mehr zulässt. Demgegenüber sind Zustände, die noch im Rahmen der medizinischen Norm liegen, selbst dann keine Gebrechen, wenn sie eine gewisse Disposition für Gesundheitsstörungen bedeuten (Senatsbeschluss vom - IV ZR 216/07, VersR 2009, 1525 Rn. 14).
23Ein mitwirkendes Gebrechen liegt allerdings unabhängig davon, ob der Versicherte zuvor schon an Beschwerden gelitten hat, auch dann vor, wenn eine vorbestehende Schädigung nicht lediglich zu einer erhöhten Schadenanfälligkeit geführt, sondern zur Verstärkung der Folgen des späteren Unfalls beigetragen hat (Senatsbeschluss vom aaO Rn. 15; OLG Schleswig VersR 2014, 1074, 1075). Unter dieser Voraussetzung genügen demnach auch bislang klinisch stumm verlaufene degenerative Veränderungen den Anforderungen an das Vorliegen eines Gebrechens.
Mayen Harsdorf-Gebhardt Lehmann
Dr. Brockmöller Dr. Bußmann
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2016:191016UIVZR521.14.0
Fundstelle(n):
NJW 2016 S. 9 Nr. 47
NJW 2017 S. 263 Nr. 4
NWB-Eilnachricht Nr. 50/2016 S. 3773
LAAAF-85690