Kindergeldanspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten
Leitsatz
Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in Deutschland, sondern dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (Anschluss an das , BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612).
Gesetze: EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1EStG § 64 Abs. 2 Satz 1, EGV 883/2004 Art. 67 Satz 1, EGV 987/2009 Art. 60 Abs. 1 Satz 2
Instanzenzug: ,
Tatbestand
1 I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist polnischer Staatsbürger, der in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) lebt und einer nichtselbständigen Erwerbstätigkeit nachgeht. Er ist Vater des 1990 geborenen Kindes S, das im Streitzeitraum in Polen im Haushalt seines Großvaters lebte und dort studierte. Der Großvater erhält für das Kind keine polnischen Familienleistungen.
2 Nachdem die Rechtsvorgängerin der Beklagten und Revisionsklägerin (Familienkasse) zunächst Kindergeld für S festgesetzt hatte, hob sie die Festsetzung mit Bescheid vom auf, da die Kindsmutter einen vorrangigen Anspruch auf Kindergeld habe. Der dagegen eingelegte Einspruch des Klägers hatte keinen Erfolg. Mit Einspruchsentscheidung vom wies die Familienkasse den Einspruch zurück, da der Großvater vorrangig anspruchsberechtigt sei. Der daraufhin erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2013, 1356 abgedruckten Urteil statt. Dagegen wendet sich die Familienkasse mit der Revision.
3 Der Senat hat das Verfahren mit Beschluss vom bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache Trapkowski C-378/14 ausgesetzt. Nach Veröffentlichung des EuGH-Urteils Trapkowski vom C-378/14 (EU:C:2015,720, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst —DStRE— 2015, 1501) hat der Senat das Verfahren wieder aufgenommen und den Beteiligten Gelegenheit gegeben, sich zu dem EuGH-Urteil zu äußern. Beide Beteiligten sind der Auffassung, der EuGH habe ihren Rechtsstandpunkt bestätigt.
4 Die Familienkasse beantragt,
das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
5 Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
6 Er macht im Revisionsverfahren erstmalig geltend, er sei nach Absprache mit S Großeltern dazu bestimmt worden, den Kindergeldanspruch geltend zu machen und das Kindergeld zu beziehen. Richtigerweise sei er der einzige Kindergeldberechtigte, da er in seiner Person alle Anspruchsvoraussetzungen erfülle und S nicht in einem gemeinsamen Haushalt mit ihrer Mutter und ihren Großeltern, sondern ausschließlich im Haushalt ihrer Großeltern lebe.
Gründe
7 II. Die Revision ist begründet und führt zur Aufhebung des FG-Urteils und Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Das FG-Urteil verletzt § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitjahr geltenden Fassung (EStG). Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf Zahlung des Kindergeldes.
8 1. Die Familienkasse Sachsen der Bundesagentur für Arbeit ist aufgrund eines Organisationsakts (Beschluss des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit Nr. 21/2013 vom gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 2.2 der Anlage 2) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der Agentur für Arbeit Deggendorf - Familienkasse eingetreten (s. dazu Senatsurteil vom V R 25/12, BFH/NV 2014, 322, Rz 11 f.).
9 2. Der Kläger ist zwar kindergeldberechtigt, weil er in Deutschland lebt und Vater einer Tochter ist, die ihren Wohnsitz in Polen hat (§ 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 EStG) und für die ein Anspruch auf Kindergeld besteht, da sie studierte (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG).
10 Der Kläger hat aber keinen Anspruch auf Zahlung des Kindergeldes; denn mit Blick auf das Unionsrecht ist nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG der Großvater vorrangig anspruchsberechtigt.
11 a) Nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG wird bei mehreren Berechtigten das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat.
12 b) Eine Person hat nach Art. 67 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 883/2004) —wie hier der Kläger nach Art. 2 Abs. 1 VO Nr. 883/2004— Anspruch auf Familienleistungen (wie hier Kindergeld nach Art. 1 Buchst. z, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j VO Nr. 883/2004) nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats (hier: Deutschland gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. a VO Nr. 883/2004) auch für Familienangehörige, die zwar in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, die aber so behandelt werden, als wohnten sie im zuständigen Mitgliedstaat. Denn bei der Anwendung von Art. 67 und 68 VO Nr. 883/2004 ist nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle Beteiligten —insbesondere was das Recht zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt— unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats (hier: Deutschland) fallen und dort wohnen (dazu eingehend EuGH-Urteil Trapkowski, EU:C:2015:720, DStRE 2015, 1501).
13 Diese Fiktion führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in Deutschland lebenden Elternteil, sondern einem im EU-Ausland lebenden Großelternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (vgl. dazu im Einzelnen , BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612; vom III R 62/12, BFHE 253, 236, BStBl II 2016, 616).
14 c) So verhält es sich im Streitfall: S lebt im Haushalt des ebenfalls kindergeldberechtigten Großvaters, so dass der Kläger gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG keinen Anspruch auf Auszahlung des Kindergeldes hat. Es sind auch keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass der Großvater ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer (§ 62 Abs. 2 EStG) sein könnte.
15 d) Aus der von dem Kläger behaupteten Absprache mit den Großeltern ergibt sich nichts anderes.
16 aa) Der Kläger kann sich im Revisionsverfahren nicht auf eine solche Absprache berufen. Der BFH ist nach § 118 Abs. 2 FGO an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, es sei denn, dass in Bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind. Tatsachen, die erstmals im Revisionsverfahren vorgetragen werden, darf er grundsätzlich nicht berücksichtigen (ständige Rechtsprechung, zuletzt etwa , BFHE 246, 477, BStBl II 2015, 157, Rz 34, m.w.N.). So verhält es sich im Streitfall. Der Kläger hat sich erstmals im Revisionsverfahren auf die Absprache mit den Großeltern berufen.
17 bb) Im Übrigen hätte auch eine solche Absprache den Kläger nicht berechtigt, anstelle des Großvaters im eigenen Namen Kindergeld zu beanspruchen. Wegen der Einzelheiten verweist der Senat auf sein zur amtlichen Veröffentlichung vorgesehenes Urteil vom V R 19/15.
18 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2016:U.230816.VR29.13.0
Fundstelle(n):
BFH/NV 2016 S. 1724 Nr. 12
GAAAF-83703