BSG Urteil v. - B 2 U 14/14 R

(Gesetzliche Unfallversicherung - Höhe der Verletztenrente - Neuberechnung des Jahresarbeitsverdienstes - Diplom-Chemiker - Teilzeittätigkeit als wissenschaftliche Hilfskraft mit Abschluss - Maßgeblichkeit des zum Unfallzeitpunkt lebensstandardsichernden Entgelts ungeachtet späterer Promotion - Abgrenzung: Berufsausbildung und berufliche Weiterbildung - keine erhebliche Unbilligkeit iS von § 577 RVO - anzuwendendes Recht)

Leitsatz

Der Jahresarbeitsverdienst eines Chemikers ist ungeachtet der noch ausstehenden Promotion endgültig auf der Grundlage des Entgelts zu bemessen, das zum Unfallzeitpunkt den Lebensstandard gesichert hat.

Gesetze: § 44 Abs 1 S 1 Alt 1 SGB 10, § 212 SGB 7, § 214 Abs 2 S 1 SGB 7, § 90 Abs 2 SGB 7, § 87 S 2 SGB 7, § 571 Abs 1 S 1 RVO, § 573 Abs 1 RVO, § 573 Abs 2 RVO, § 577 S 1 RVO

Instanzenzug: SG Gießen Az: S 3 U 231/08 Urteilvorgehend Hessisches Landessozialgericht Az: L 3 U 230/11 Urteil

Tatbestand

1Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X über die Höhe des Jahresarbeitsverdienstes (JAV) als Grundlage für die Berechnung der Verletztenrente des Klägers.

2Der am 1954 geborene Kläger verunfallte am mit seinem Motorrad auf dem Weg zu seiner Tätigkeit als wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität M., wodurch er eine komplette Querschnittslähmung ab dem vierten Brustwirbelkörper erlitt. Seit dem war er dort als "wissenschaftliche Hilfskraft mit Abschluss" im Fachbereich Chemie mit 92 Stunden im Monat zu einem Jahreseinkommen von 21 126,58 DM brutto zuzüglich 1902,83 DM Weihnachtsgeld entsprechend einer halben A-13-Stelle beschäftigt. Zuvor hatte er das Studium der Chemie als Diplom-Chemiker abgeschlossen. Zum Zeitpunkt des Unfalls war er verheiratet und hatte drei Kinder. Das Arbeitsverhältnis war zunächst bis Ende 1983 befristet, wurde jedoch im Hinblick auf den Unfall bis Juli 1985 verlängert, sodass der Kläger seine Promotion am zum Abschluss bringen konnte. Der Kläger hatte ohne den Unfall den Abschluss der Promotion im Februar 1984 geplant.

3Die Beklagte bewilligte durch Bescheid vom dem Kläger Verletztenrente ab nach einer MdE von 100 vH und legte hierbei einen JAV von 23 029,41 DM ( bis ) bzw 23 331,09 DM (ab wegen einer Rentenanpassung) zugrunde.

4Am beantragte der Kläger die Überprüfung des JAV mit der Maßgabe, dieser sei auf der Grundlage einer vollschichtigen Berufstätigkeit als Diplom-Chemiker zu berechnen.

5Die Beklagte lehnte die Rücknahme des Bescheids vom sowie die Neuberechnung der Verletztenrente ab (Bescheid vom ). Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom ).

6Auf die Klage vom hat das den Bescheid vom in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom aufgehoben und die Beklagte verurteilt, unter Zurücknahme des Bescheids vom die Verletztenrente des Klägers ab unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu berechnen sowie im Übrigen die Klage abgewiesen. Der seitens der Beklagten zugrunde gelegte JAV sei unbillig iS des § 577 RVO.

7Auf die Berufung der Beklagten hat das das Urteil des SG aufgehoben und die Klage insgesamt abgewiesen. Es hat außerdem die Anschlussberufung des Klägers zurückgewiesen. Die Beklagte habe im Bescheid vom die Höhe der Verletztenrente des Klägers zutreffend bemessen und sei insbesondere bei Feststellung des JAV zu Recht von den Einkünften des Klägers entsprechend einer halben A-13-Stelle ausgegangen. Die nach § 44 Abs 1 SGB X maßgebliche Frage der zutreffenden JAV-Bemessung sei vom Senat nach den §§ 570 bis 578 RVO zu beurteilen. Die SGB VII-Bestimmungen für "Altfälle" seien nur bei erstmaliger JAV-Feststellung oder bei erstmaliger Neufeststellung des JAV nach § 90 SGB VII vorgesehen, nicht aber bei einer Überprüfung nach § 44 Abs 1 SGB X. Da der Kläger zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls das Examen als Diplom-Chemiker bereits abgelegt habe, habe er keinen Anspruch auf Neufeststellung des JAV nach § 573 Abs 1 RVO gehabt.

8Entgegen der erstinstanzlichen Auffassung komme eine Korrektur des JAV über die Billigkeitsregelung des § 577 RVO nicht in Betracht. Bei der Bewertung, ob der JAV unbillig sei, stehe dem Versicherungsträger kein Beurteilungsspielraum zu. Ein Arbeitsentgelt, das einen nicht nur vorübergehend niedrigeren, dem Lebensstandard des Verletzten entsprechenden Verdienst abbilde, sei grundsätzlich nicht als erheblich unbillig angesehen worden. Die Einkommenssituation des Klägers und seiner Familie sei Mitte 1981 geprägt gewesen durch das aus der halben A-13-Stelle erzielte Einkommen als wissenschaftliche Hilfskraft.

9Mit seiner Revision gegen das am zugestellte Urteil des LSG rügt der Kläger sinngemäß eine Verletzung des § 44 SGB X sowie des § 573 Abs 1 RVO als auch des § 577 RVO. Nach dem Wortsinn diene eine Berufsausbildung der Vermittlung bzw dem Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten, die zur späteren Ausübung des Berufs benötigt werden. Für die berufliche Tätigkeit als Chemiker werde - anders als bei vielen anderen akademischen Ausbildungsgängen - der erfolgreiche Abschluss eines Promotionsverfahrens als Eingangsqualifikation verlangt. Lediglich 5 bis 7 % der Diplom-Chemiker verließen die Hochschule ohne Promotion. Das LSG selbst habe die doppelte Ungleichbehandlung für promovierte Chemiker und für andere Naturwissenschaftler genannt. Schließlich beruhe das Urteil des LSG auch auf einer Verletzung des § 577 RVO. Zu berücksichtigen sei im Rahmen des § 577 RVO, wo der Versicherte den Schwerpunkt seiner beruflichen Tätigkeit bilden werde. Als vorübergehend sei ein niedrigeres Einkommen auch dann einzustufen, wenn es über einen längeren Zeitraum als ein Jahr gezahlt werde, allerdings nach der Art der Beschäftigung und der bestehenden Befristung zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls bereits sicher feststehe, dass es zB über den Zeitraum des Ausbildungskontextes hinausgehend nicht maßgeblich sein werde. Die Dauerhaftigkeit sei nicht gegeben, weil das Beschäftigungsverhältnis mit der Hochschule lediglich befristet und definitiv eine Verlängerung nach Abschluss des Promotionsverfahrens ausgeschlossen gewesen sei. Die Vergütung des Klägers sei als Teilzeittätigkeit um 50 % unter einer qualifikationsadäquaten Vergütung zurückgeblieben.

10Der Kläger beantragt,das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom aufzuheben, das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, unter Aufhebung des Bescheides vom und des Widerspruchsbescheides vom die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom abzuändern und dem Kläger ab dem Rente nach einem Jahresarbeitsverdienst entsprechend dem Gehalt eines vollschichtig tätigen promovierten Diplom-Chemikers zu gewähren.

11Die Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.

12Sie vertritt die Auffassung, dass die Revision bereits unzulässig sei, weil der Revisionskläger die Voraussetzungen des § 44 SGB X nicht in Frage gestellt habe. Darüber hinaus liege weder eine Verletzung des § 573 RVO noch des § 577 RVO vor.

Gründe

13Die Revision ist zulässig. Der Revisionsbegründung lässt sich sinngemäß entnehmen, dass das Begehren des Klägers auf Überprüfung einer bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung in einem Zugunstenverfahren gerichtet ist und er damit zwangsläufig eine Verletzung von § 44 SGB X rügt. Auch im Übrigen genügt die Revision den Zulässigkeitsanforderungen gemäß § 164 Abs 2 Satz 3 SGG ( - SozR 4-2700 § 2 Nr 1 RdNr 7; Heinz in Roos/Wahrendorf, SGG, § 164 RdNr 49).

14Die Revision ist jedoch nicht begründet und daher zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom , durch welche es die Beklagte abgelehnt hat, ihren Bescheid vom abzuändern und dem Kläger Rente ab dem nach einem JAV entsprechend dem Gehalt eines vollschichtig tätigen promovierten Diplom-Chemikers zu gewähren (vgl - zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen, SozR 4-2700 § 82 Nr 1 RdNr 11).

15Statthafte Klageart ist die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage sowie Leistungsklage gemäß § 54 Abs 1 und Abs 4 SGG. Die Anfechtungsklage zielt auf die Aufhebung der Überprüfungsbescheide, die Verpflichtungsklage auf die Aufhebung des bestandskräftigen Bescheids vom sowie die Leistungsklage auf Zahlung einer höheren Rente ab ( - BSGE 115, 126 = SozR 4-1300 § 44 Nr 28, RdNr 11; - SozR 4-2700 § 73 Nr 1 RdNr 12; - SozR 4-2700 § 200 Nr 4 RdNr 15; Bieresborn in Roos/Wahrendorf, SGG, § 54 RdNr 232).

16Die zulässigen Klagen sind nicht begründet. Anspruchsgrundlage für das Begehren des Klägers ist § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X, wonach ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Die Beklagte ist weder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen (§ 44 Abs 1 Satz 1 2. Alt SGB X), was seitens der Revision auch nicht geltend gemacht wird, noch hat sie bei Erlass des Bescheids vom entgegen der Auffassung des Klägers das Recht unrichtig angewandt (§ 44 Abs 1 Satz 1 1. Alt SGB X). Sie hat zutreffend die Normen der RVO zugrunde gelegt (dazu unter 1.). Das LSG hat ebenso zutreffend die Berechnung des JAV nach § 571 RVO nicht beanstandet und ist davon ausgegangen, dass sich der Kläger zum Zeitpunkt des Arbeitsunfallereignisses vom nicht mehr in der Berufs- oder Schulausbildung iS von § 573 Abs 1 RVO befand (dazu unter 2.). Schließlich war die Zugrundelegung eines hälftigen Jahreseinkommens nach Bundesbesoldungsgruppe A-13 auch nicht grob unbillig iS von § 577 RVO (dazu unter 3.).

171. Zutreffend hat das LSG die Normen der RVO zugrunde gelegt. Nach § 212 SGB VII gelten die §§ 1 bis 211 SGB VII (nur) für Versicherungsfälle, die nach dem Inkrafttreten des SGB VII eingetreten sind, sodass für vor diesem Termin liegende Versicherungsfälle weiterhin die Vorschriften des Dritten Buches der RVO Anwendung finden. Weder erfolgte im vorliegenden Fall im Sinn der abweichenden Regelung des § 214 Abs 2 Satz 1 SGB VII die erstmalige Festsetzung vor Inkrafttreten des SGB VII am (Art 36 UVEG - BGBl I 1996, 1254, 1317), weil bereits der zu überprüfende Bescheid der Beklagten vom die erstmalige Festsetzung einer Verletztenrente enthielt. Noch stellt die Überprüfung im Jahr 2008 im Rahmen des § 44 SGB X eine Neufestsetzung "aufgrund des § 90 SGB VII" dar. Dementsprechend findet auf den vorliegenden Fall auch nicht § 90 Abs 2 SGB VII Anwendung. Wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat, begründet § 214 Abs 2 Satz 1 SGB VII mangels materiellrechtlicher Rückwirkung nicht eine Anwendung des § 90 SGB VII in den "Altfällen", bei denen die Sachverhalte neuer, durch die Vorschrift erst geschaffener Voraussetzungen für eine Erhöhung des JAV bereits vor dem eingetreten waren, weil dies einen Zirkelschluss bedeuten würde. Deshalb ist, wenn bei einem vor Inkrafttreten des SGB VII eingetretenen Versicherungsfall der JAV eines Versicherten nach Inkrafttreten des SGB VII nach Altersstufen neu festgesetzt wird, hierfür noch die Höchstaltersgrenze des § 573 Abs 2 RVO und nicht die des § 90 Abs 2 SGB VII maßgebend, wenn der Versicherte wie im vorliegenden Fall das 30. Lebensjahr bereits vor Inkrafttreten des SGB VII vollendet hatte ( - SozR 3-2700 § 214 Nr 2 S 7; vgl - juris RdNr 22 und - SozR 4-2700 § 90 Nr 3 RdNr 12; s auch BT-Drucks 13/2204 S 121).

182. Zutreffend hat das LSG entschieden, dass im Verwaltungsakt vom die Beklagte den JAV rechtmäßig nach § 571 RVO (dazu unter a) und ebenso rechtmäßig ohne Anwendung des § 573 Abs 1 RVO (dazu unter b) festgesetzt hat.

19a) Nach § 571 Abs 1 Satz 1 RVO gilt der Gesamtbetrag aller Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen (§§ 14, 15 SGB IV - s dazu - zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen, SozR 4-2700 § 82 Nr 1 RdNr 14; s bereits - SozR 2200 § 577 Nr 11 = juris RdNr 13) des Verletzten im Jahr vor dem Arbeitsunfall als JAV, welches nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) das Gehalt in Höhe einer halben A-13-Stelle von 21 126,58 DM zuzüglich 1902,83 DM war.

20b) Zutreffend hat das LSG auch die (Neu-)Berechnung des JAV nach § 573 Abs 1 RVO abgelehnt. Nach dieser Norm wird, wenn sich der Verletzte zur Zeit des Arbeitsunfalls noch in einer Schul- oder Berufsausbildung befand und es für den Berechtigten günstiger ist, der JAV für die Zeit nach der voraussichtlichen Beendigung der Ausbildung neu berechnet. Der Bescheid vom beruht nicht auf einer fehlerhaften Rechtsanwendung iS von § 44 SGB X, weil die Beklagte etwa einen fiktiven JAV für die Zeit nach einer zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls noch betriebenen Ausbildung hätte zugrunde legen müssen. Zwar findet nach Sinn und Zweck des § 573 Abs 1 RVO die Vorschrift auch bei erstmaliger Festsetzung nach dem Zeitpunkt des voraussichtlichen Endes der Ausbildung Anwendung (vgl den Wortlaut der mit Art 1 Nr 1 des Sechsten Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung vom <RGBl I 107> neu eingefügten Vorläufernorm § 565 RVO sowie - BSGE 112, 43 = SozR 4-2700 § 90 Nr 2, RdNr 18). Jedoch befand sich der Kläger zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls am nicht (mehr) in einer Schul- oder Berufsausbildung, wie es § 573 Abs 1 RVO nach seinem Wortlaut voraussetzt. Die Ausbildung des Versicherten war zum Unfallzeitpunkt schon beendet. Er hatte nach den nicht gerügten und daher bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) bereits vor dem Versicherungsfall sein Examen als Diplom-Chemiker abgelegt. Eine Neuberechnung der Verletztenrente erfolgt nach der ständigen Rechtsprechung des Senats indes nur, wenn die Maßnahme, während der sich der Versicherungsfall ereignet hat, zu einem - wenn auch nicht zwingend ersten - beruflichen Abschluss führt ( - SozR 4-2700 § 90 Nr 1 RdNr 18; Burchardt in Becker/Krasney/Kruschinsky/Burchardt/Heinz, Gesetzliche Unfallversicherung, SGB VII, § 90 RdNr 13). Sobald das angestrebte Ausbildungsziel aber erreicht ist, kommt nur eine berufliche Weiterbildung in Betracht, die der erkennende Senat in ständiger Rechtsprechung nicht der Berufsausbildung zugerechnet hat (s bereits - BSGE 18, 136, 140 = SozR Nr 5 zu § 565 RVO aF Aa 7; - juris RdNr 16; - SozR 3-2200 § 573 Nr 2 S 5). Der Gesetzgeber hat diese Vorschrift insoweit durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (UVNG) vom (BGBl I 241) trotz Kenntnis dieser Rechtsprechung nicht geändert ( - juris RdNr 17), ebenso wenig hat er bei der Übernahme in § 90 SGB VII durch das UVEG vom (BGBl I 1254) inhaltliche Änderungen vorgenommen.

21Der Kläger hatte zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls am das angestrebte Ausbildungsziel des Diplom-Chemikers bereits erreicht. Ein eigenes Berufsbild des "promovierten" Diplom-Chemikers existiert demgegenüber nicht. Der Senat hat in ständiger Rechtsprechung ein Weiterstudium zum Zwecke der Promotion nicht als berufliche Ausbildung, sondern als berufliche Weiterbildung angesehen (s zu einem Arzt - juris RdNr 17). Der Unterschied zwischen einem promovierten und einem nicht promovierten Chemiker besteht darin, dass ersterer sich durch die Anfertigung einer Doktorarbeit erweiterte Kenntnisse auf einem Spezialgebiet der Chemie erworben, durch die Ablegung des Doktorexamens seine Befähigung zu wissenschaftlichen Arbeiten besonders unter Beweis gestellt und sich für den Wettbewerb im Wirtschafts- oder Arbeitsleben eine nach herkömmlicher Bewertung günstigere Position geschaffen hat. Diese Vorteile gegenüber dem nicht promovierten Chemiker sind jedoch nicht das Ergebnis einer "Berufsausbildung". Dass jemand aus wirtschaftlichen Gründen zur Promotion mehr oder weniger gezwungen gewesen ist, rechtfertigt unfallrechtlich keine andere Beurteilung (so bereits - BSGE 18, 136, 140 = SozR Nr 5 zu § 565 RVO aF Aa 7 = juris RdNr 20), weshalb es unerheblich ist, dass - wie der Kläger vorträgt - mittlerweile nur 5 bis 7 % der Diplom-Chemiker die Universität ohne Promotion verlassen.

22Dass der Begriff der Berufsausbildung in § 573 Abs 1 RVO nicht über den Wortsinn hinaus auf andere Formen beruflicher Bildung ausgedehnt werden kann, folgt ua aus dem Ausnahmecharakter der gesetzlichen Regelung, den die Rechtsprechung stets betont hat ( - BSGE 19, 252, 254 = SozR Nr 6 zu § 565 RVO aF Aa 9; 8/2 RU 151/70 - SozR Nr 7 zu § 565 RVO aF Aa 11; - HV-Info 1986, 860; - HV-Info 1992, 598). Mit der Möglichkeit, bei Eintritt des Versicherungsfalls während einer Schul- oder Berufsausbildung die Bemessungsgrundlage anzuheben, weicht das Gesetz für einen Sonderfall von dem die Unfallversicherung beherrschenden Grundsatz ab, dass die Verdienstverhältnisse vor dem Arbeitsunfall für alle Zukunft die maßgebende Grundlage der Geldleistungen bleiben und spätere Erwerbsaussichten bei der Feststellung des JAV nicht zu berücksichtigen sind ( - BSGE 31, 38, 40 = SozR Nr 1 zu § 573 RVO Aa 2; - BSGE 38, 216, 218 = SozR 2200 § 573 Nr 2 S 6; - BSGE 47, 137, 140 = SozR 2200 § 573 Nr 9 S 26). Einzig Personen, die bereits während der Zeit der Ausbildung für einen späteren Beruf einen Arbeitsunfall erleiden und deshalb im Jahr vor dem Unfall regelmäßig noch kein Arbeitsentgelt, sondern allenfalls eine geringe Ausbildungsvergütung erhalten haben, sowie aufgrund des Versicherungsfalls ihre Ausbildung später beenden, sollen zur Vermeidung von Härten geschützt und so gestellt werden, als hätten sie den Unfall nach der voraussichtlichen Beendigung der Berufsausbildung erlitten (s zum stimmigen Konzept des § 90 SGB VII - BSGE 112, 43 = SozR 4-2700 § 90 Nr 2, RdNr 35). Eine solche genau umschriebene Ausnahmeregelung kann nicht im Wege richterlicher Rechtsfortbildung auf andere, vermeintlich ähnlich liegende Sachverhalte erstreckt werden. Es besteht insoweit auch kein Widerspruch zu Vorschriften der Krankenversicherung und Rentenversicherung, weil der Begriff der Berufsausbildung im Sinn der gesetzlichen Unfallversicherung eigenständig ist (s bereits - BSGE 12, 109, 116; - BSGE 18, 136 = SozR Nr 5 zu § 565 RVO aF = juris RdNr 20).Schließlich bestehen zwischen Personen, die das Ausbildungsziel noch nicht erreicht haben und solchen, die sich noch in der Ausbildung befinden, Unterschiede von solcher Art und Gewicht, dass sie eine Ungleichbehandlung rechtfertigen, sodass dahinstehen kann, ob es sich überhaupt um iS des Art 3 Abs 1 GG vergleichbare Personengruppen handelt (vgl zum Prüfungsmaßstab zu Art 3 Abs 1 GG , 1 BvR 485/97 - BVerfGE 100, 104 = SozR 3-2600 § 307b Nr 6 S 45 f; - SozR 4-2700 § 9 Nr 22 RdNr 24).

233. Das LSG hat auch zutreffend erkannt, dass der Kläger keinen Anspruch auf Bewilligung einer höheren Verletztenrente aufgrund der Billigkeitsnorm des § 577 RVO hat. Die Wertung, ob der berechnete JAV "in erheblichem Maße unbillig" ist, ist als unbestimmter Rechtsbegriff durch das Gericht in vollem Umfang selbst vorzunehmen ( - SozR 4-2700 § 87 Nr 2 RdNr 26; - HV-Info 1993, 972 mwN; - HV-Info 1992, 428; 8/8a RU 68/80 - SozR 2200 § 577 Nr 9 mwN). § 577 RVO soll atypische Fallgestaltungen erfassen und - ausgerichtet ua am Lebensstandard des Versicherten - für diese zu einem billigen Ergebnis führen. Ziel der Regelung ist es, den JAV als Grundlage der Rente so zu bemessen, dass der Lebensstandard gesichert wird, den der Versicherte zeitnah vor dem Versicherungsfall erreicht und auf den er sich eingerichtet hat. Die Regelungen zur Berechnung des JAV sollen für den Regelfall eine einfache, schnell praktizierbare und nachvollziehbare Berechnung des JAV in der Verwaltungspraxis ermöglichen. Nur wenn besondere Umstände vorliegen, die sich auf den maßgeblichen Zeitraum auswirken und die eine erhebliche Unbilligkeit der Regelberechnung begründen (unterwertige Beschäftigung; Verdienstausfall innerhalb der Jahresfrist zB durch unbezahlten Urlaub; dazu - BSGE 51, 178, 182 = SozR 2200 § 571 Nr 20 S 42 f), kann zur Vermeidung von Zufallsergebnissen eine Korrektur des JAV angezeigt sein ( - SozR 4-2700 § 87 Nr 2 RdNr 28).

24Die Nachfolgeregelung des § 577 RVO - § 87 Satz 2 SGB VII - nennt, ohne abschließend zu sein (s bereits zum früheren Recht - BSGE 7, 269, 273; sowie BT-Drucks 13/2204 S 96), Kriterien für die Beurteilung der Unbilligkeit. Bei der Überprüfung des JAV sind die Fähigkeiten, die Ausbildung, die Lebensstellung und die Tätigkeit der Versicherten im Zeitpunkt des Versicherungsfalls zu berücksichtigen. In Bezug auf die erreichte "Lebensstellung" ist darauf abzustellen, welche Einkünfte die Einkommenssituation des Versicherten geprägt haben ( - BSGE 32, 169, 173 = SozR Nr 1 zu § 577 RVO Aa 1; - BSGE 51, 178, 182 = SozR 2200 § 571 Nr 20 S 43; 8/8a RU 68/80 - SozR 2200 § 577 Nr 9 S 14 mwN; - BSGE 73, 258, 260 = SozR 3-2200 § 577 Nr 1 S 3; - SozR 3-2200 § 577 SozR 3-2200 § 577 Nr 2 = HVBG-Info 2003, 428; Schudmann in jurisPK-SGB VII, 2. Aufl 2014, § 87 RdNr 18). In zeitlicher Hinsicht ist zu prüfen, welche Einkünfte der Versicherte innerhalb der Jahresfrist vor dem Versicherungsfall erzielt hat. Seine Einnahmen aus Erwerbstätigkeit im maßgeblichen Jahreszeitraum sind mit dem Ergebnis der gesetzlichen Berechnung zu vergleichen. Durch diesen Vergleich ergibt sich, ob der nach gesetzlichen Vorgaben festgesetzte Betrag des JAV außerhalb jeder Beziehung zu den Einnahmen steht, die für den Versicherten zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls oder innerhalb der Jahresfrist vor diesem Zeitpunkt die finanzielle Lebensgrundlage gebildet haben ( - SozR 4-2700 § 87 Nr 1 RdNr 17; so auch - BSGE 44, 12 = SozR 2200 § 571 Nr 10). Die Festsetzung des JAV ist danach nicht in erheblichem Maße unbillig, wenn der ermittelte JAV - wie hier ausgehend von einer halben A-13-Stelle - den Fähigkeiten, der Ausbildung, Lebensstellung und Tätigkeit der Versicherten in den zwölf Kalendermonaten vor dem Monat des Versicherungsfalls entspricht ( - SozR 4-2700 § 87 Nr 2 RdNr 26; Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 87 RdNr 6).

25Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2016:260416UB2U1414R0

Fundstelle(n):
VAAAF-81699