BGH Beschluss v. - V ZB 73/15

Abschiebehaft zur Sicherung einer Rücküberstellung: Zulässigkeit einer Rechtsbeschwerde gegen eine Haftanordnung trotz fehlender Angabe einer ladungsfähigen Anschrift des betroffenen Ausländers; Begründetheit bei Haftvollzug in einer nordrhein-westfälischen Justizvollzugsanstalt

Gesetze: § 62a Abs 1 AufenthG, Art 16 Abs 1 S 1 EGRL 115/2008, Art 1 EGV 343/2003, Art 1ff EGV 343/2003, Art 1 EUV 604/2013, Art 1ff EUV 604/2013, § 62 Abs 1 FamFG

Instanzenzug: LG Kleve Az: 4 T 491/14 Beschlussvorgehend AG Kleve Az: 22 XIV 27/14 B

Gründe

I.

1Der Betroffene, ein malischer Staatsangehöriger, reiste am ohne gültige Einreisedokumente nach Deutschland ein. Dort stellte er am einen Antrag auf Asyl, den das zuständige Bundesamt mit Bescheid vom zurückwies, weil er schon in Italien Asyl beantragt hatte. Ein Antrag des Betroffenen nach § 80 Abs. 5 VwGO hatte keinen Erfolg. Ein Versuch, den Betroffenen an Italien rückzuüberstellen, scheiterte an dessen Gegenwehr.

2Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht am gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung von dessen Rücküberstellung für die Dauer von acht Wochen angeordnet. Die - nach seiner Entlassung aus der Haft am auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haft gerichtete - Beschwerde hat das Landgericht als unzulässig verworfen. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, deren Zurückweisung die beteiligte Behörde beantragt.

II.

3Das Beschwerdegericht hält den Feststellungsantrag und damit auch die Beschwerde des Betroffenen für unzulässig. Er sei mangels Angaben, die eine Identifizierung des Betroffenen erlaubten, insbesondere mangels Angabe des Aufenthalts des Betroffenen, nicht hinreichend bestimmt. Ferner fehle das Feststellungsinteresse. Dieses sei zwar regelmäßig bei Grundrechtseingriffen gegeben. Es könne aber ausnahmsweise fehlen, wenn sich der Betroffene nicht rechtstreu verhalte. So liege es hier. Der Betroffene habe sich unter Verstoß gegen die Meldevorschriften nicht ordnungsgemäß angemeldet.

III.

4Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Prüfung nicht stand.

51. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen ist statthaft und auch sonst zulässig. Zwar hat die Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen dessen aktuelle Anschrift nicht angegeben. Das änderte aber an der Zulässigkeit des Rechtsmittels nur etwas, wenn der geordnete Ablauf des Rechtsmittelverfahrens ohne Angabe der ladungsfähigen Anschrift gefährdet wäre oder die fehlende Angabe der ladungsfähigen Anschrift Rückschlüsse auf ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Betroffenen erlaubte (Senat, Beschlüsse vom - V ZB 54/14 InfAuslR 2015, 104 Rn. 5 u. vom - V ZB 74/15, juris Rn. 5). Diese Ausnahmetatbestände liegen hier nicht vor. Der geordnete Ablauf des Rechtsmittelverfahrens wird durch die fehlende Angabe der Anschrift des Betroffenen nicht beeinträchtigt. Dass und aus welchen Gründen sich der Betroffene mit der Stellung des Antrags rechtsmissbräuchlich verhalten würde, ist nicht erkennbar.

62. Das Rechtsmittel ist begründet.

7a) Die Beschwerde des Betroffenen ist statthaft und auch sonst zulässig. Das Beschwerdeverfahren hat sich zwar mit der Entlassung des Betroffenen aus der Haft am in der Hauptsache erledigt. Es konnte aber nach § 62 Abs. 1 FamFG mit dem Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haftanordnung fortgesetzt werden. Ein solcher Antrag soll dem Betroffenen eine Möglichkeit geben, sich auch nach ihrer Beendigung gegen die unberechtigte Freiheitsentziehung und den in ihr enthaltenen Vorwurf zur Wehr zu setzen (Senat, Beschluss vom - V ZB 22/12, BGHZ 196, 118 Rn. 12). Dieses Interesse ist auch bei einem späteren rechtswidrigen Verhalten des Betroffenen anzuerkennen (Senat, Beschluss vom - V ZB 174/14, juris Rn. 6). Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Beschluss des Senats vom in einer gleich gelagerten Sache Bezug genommen (Beschluss vom - V ZB 74/15, juris Rn. 13 f.).

8b) Die Beschwerde ist auch begründet.

9aa) Zur sachlichen Bescheidung der Beschwerde ist der Senat in der Lage. Das Beschwerdegericht hat sich zwar, da es die Beschwerde als unzulässig angesehen hat, nicht inhaltlich mit der Haftanordnung befasst. Die Endentscheidung in der Sache erfordert aber keine zusätzlichen Feststellungen.

10bb) Die Haftanordnung war schon deshalb rechtswidrig, weil abzusehen war, dass die Haft in der Justizvollzugsanstalt Büren und damit unter Verletzung der im Lichte von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115/EG auszulegenden Vorschrift des § 62a Abs. 1 AufenthG vollzogen werden würde (vgl. näher Senat, Beschluss vom - V ZB 137/14, FGPrax 2014, 230 Rn. 7 bis 10). Diese Richtlinie ist auf die Haft zur Sicherung von Rücküberstellungen sowohl nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 vom (ABl. Nr. L 50 S. 1 - sogenannte Dublin-II-Verordnung) als auch nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vom (ABl. Nr. L 180 S. 31 - sogenannte Dublin-III-Verordnung) anzuwenden (Senat, Beschlüsse vom - V ZB 54/14, InfAuslR 2015, 104 Rn. 8 für Dublin-II-Verordnung und vom - V ZB 108/14, juris Rn. 1 für Dublin-III-Verordnung). Seine richtlinienwidrige Praxis hat das Land Nordrhein-Westfalen erst mit Runderlass des Ministeriums für Inneres und Kommunales vom (15-39.16.04-2-13-339(2604), veröffentlicht im Sammelblatt Nordrhein-Westfalen) aufgegeben.

IV.

11Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 430 FamFG, Art. 5 EMRK. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 36 Abs. 3 GNotKG.

Stresemann                           Schmidt-Räntsch                                Brückner

                         Göbel                                        Haberkamp

Diese Entscheidung steht in Bezug zu

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2016:210416BVZB73.15.0

Fundstelle(n):
RAAAF-77510