Verhängung einer Jugendstrafe: Beurteilung der Schwere der Schuld bei freiwilligem Rücktritt vom Tötungsversuch
Leitsatz
Bei freiwilligem Rücktritt vom Versuch ist die schulderhöhende Berücksichtigung des zunächst gegebenen Vollendungsvorsatzes im Rahmen der Prüfung der "Schwere der Schuld" im Sinne von § 17 JGG jedenfalls dann rechtsfehlerhaft, wenn nicht der Umstand der freiwilligen Abkehr von diesem Vorsatz gleichermaßen berücksichtigt wird. Erst beide Gesichtspunkte gemeinsam ergeben das Tatbild, welches in der spezifisch jugendstrafrechtlichen Beurteilung der Schuldschwere zu bewerten ist.
Gesetze: § 24 StGB, § 17 Abs 2 JGG, § 212 StGB, § 224 StGB
Instanzenzug: LG Neubrandenburg Az: 80 KLs 18/14
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Sachbeschädigung zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat zum Strafausspruch Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet.
21. Nach den Urteilsfeststellungen geriet der zur Tatzeit 20 Jahre und sechs Monate alte Angeklagte am gegen 2.00 Uhr in einer Diskothek aus nicht näher feststellbarem Grund mit dem Geschädigten K. in Streit, in dessen Verlauf es zu wechselseitigen Beleidigungen und Handgreiflichkeiten kam. Etwa zwei Stunden später folgte der Angeklagte dem die Diskothek verlassenden Geschädigten und seiner Begleiterin zu deren Fahrzeug und trat „aus Wut“ gegen Scheibe und Fensterrahmen der Beifahrertür des Fahrzeugs, wodurch dieses beschädigt wurde.
3Nachdem der Geschädigte aus dem Fahrzeug ausgestiegen war und es erneut zu einer verbalen Auseinandersetzung gekommen war, stach der Angeklagte auf dem Parkplatz einer Diskothek mit einem so genannten „Neckknife“, einem Messer mit einer fünf Zentimeter langen, feststehenden Klinge wuchtig in Richtung des Brustkorbs des Geschädigten K. , um ihn zu töten. Dem Geschädigten gelang es, den Angriff abzuwehren, wodurch er eine Schnittverletzung am linken Unterarm erlitt. Entweder aufgrund einer weiteren Stichbewegung oder "im Ausklang der abgelenkten Ursprungsbewegung" fügte der Angeklagte dem Geschädigten zwei tiefe Schnittverletzungen am Rücken zu und führte weitere ungezielte Bewegungen mit dem Messer in Richtung des Geschädigten aus. Dieser erlitt weitere Schnittverletzungen unter anderem an Kopf und Hals und sank – heftig blutend – zu Boden.
4Der Angeklagte erkannte, dass er den Geschädigten noch nicht tödlich verletzt hatte, und gab die weitere Tatausführung in dem Bewusstsein auf, dass er den tödlichen Erfolg noch hätte herbeiführen können. Der Geschädigte erlitt infolge des Blutverlusts einen Schock und wurde in ein Krankenhaus eingeliefert. Er befand sich drei Wochen in stationärer Behandlung und leidet physisch und psychisch noch immer unter den Tatfolgen.
5Die Jugendkammer ist zugunsten des Angeklagten davon ausgegangen, dass der zur Tatzeit alkoholisierte Geschädigte, der aus dem Fahrzeug ausgestiegen war, um den Angeklagten zur Rede zu stellen, ihn im Rahmen der entstandenen – erneuten – Auseinandersetzung beleidigt hatte und der Angeklagte darüber „sehr erbost“ war.
6Das Landgericht hat einen freiwilligen Rücktritt vom Totschlagsversuch angenommen und hat die Tat als tateinheitliche Vergehen der Sachbeschädigung (§ 303 StGB) und der gefährlichen Körperverletzung im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB gewürdigt; soweit im Rahmen der rechtlichen Würdigung und der Liste der angewendeten Vorschriften § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB angeführt ist, handelt es sich um ein offensichtliches Schreibversehen.
7Die Jugendkammer hat gemäß § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG auf den Heranwachsenden Jugendstrafrecht angewendet und eine Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld verhängt, weil der Angeklagte dem Tatopfer „aus jedenfalls im Verhältnis zum Ausmaß der Tat nichtigem Anlass mit bedingtem Tötungsvorsatz erhebliche, potentiell lebensgefährliche Verletzungen beigebracht“ habe.
82. Der Strafausspruch hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
9Es begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken, dass die Jugendkammer die Schwere der Schuld auch damit begründet hat, dass der Angeklagte mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt habe, ohne zugleich zu berücksichtigen, dass der Angeklagte vom Versuch des Tötungsdelikts freiwillig zurückgetreten ist.
10a) Ist der erwachsene Täter vom Versuch einer Straftat strafbefreiend zurückgetreten, gleichwohl aber wegen eines zugleich verwirklichten vollendeten anderen Delikts zu bestrafen, so darf der auf die versuchte Straftat gerichtete Vorsatz nicht strafschärfend berücksichtigt werden (Senat, Beschluss vom – 2 StR 70/12, NStZ 2013, 158; Beschluss vom – 2 StR 51/10, NStZ-RR 2010, 202; Beschluss vom – 2 StR 98/03, NStZ 2003, 533; Beschluss vom – 2 StR 172/98, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Wertungsfehler 30; , StV 2014, 482; Beschluss vom – 5 StR 338/02, StV 2003, 218; Urteil vom – 3 StR 445/95, BGHSt 42, 43, 44 ff.; Beschluss vom – 4 StR 639/95, StV 1996, 263; Beschluss vom – 3 StR 115/80, MDR 1980, 813; st. Rspr.). Dies trägt dem Grundgedanken des § 24 StGB Rechnung, der im Interesse des Opferschutzes einen persönlichen Strafaufhebungsgrund für Fälle vorsieht, in denen ein Täter freiwillig die weitere Tatausführung aufgibt oder ihre Vollendung aktiv verhindert. Dieser Gesetzeszweck würde unterlaufen, wenn der auf die Verwirklichung des weitergehenden Delikts gerichtete Vorsatz strafschärfend berücksichtigt würde.
11b) Zwar ist der Schuldgehalt der Tat bei der Deliktsbegehung durch jugendliche und heranwachsende Täter jugendspezifisch zu bestimmen (MüKo/Radtke, 2. Aufl., § 17 JGG, Rn. 58, 70). Die „Schwere der Schuld“ im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG wird daher nicht vorrangig anhand des äußeren Unrechtsgehalts der Tat und ihrer Einordnung nach dem allgemeinen Strafrecht bestimmt. In erster Linie ist vielmehr auf die innere Tatseite abzustellen (Senat, Urteil vom – 2 StR 413/13, NStZ 2014, 407, 408). Der äußere Unrechtsgehalt der Tat und das Tatbild sind jedoch insofern von Belang, als hieraus Schlüsse auf die charakterliche Haltung, die Persönlichkeit und die Tatmotivation des Jugendlichen oder Heranwachsenden gezogen werden können (, NStZ-RR 2015, 155, 156; Beschluss vom – 1 StR 178/13, NStZ 2013, 658, 659; Beschluss vom – 5 StR 318/12, StraFo 2012, 469, 470). Entscheidend ist, ob und in welchem Umfang sich die charakterliche Haltung, die Persönlichkeit sowie die Tatmotivation des Täters vorwerfbar in der Tat manifestiert haben (, BGHSt 15, 224, 226).
12Auch unter Berücksichtigung dieser Besonderheiten kann aber der Umstand, dass der jugendliche oder heranwachsende Täter zunächst mit bedingtem Tötungsvorsatz handelte, im Falle eines freiwilligen Rücktritts vom Versuch des Tötungsdelikts nicht ohne Weiteres zur Begründung der Schwere der Schuld im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG herangezogen werden.
13aa) Die Schuld des jugendlichen oder heranwachsenden Täters wird nach der in § 24 StGB zum Ausdruck kommenden, nicht auf das Erwachsenenstrafrecht beschränkten, sondern auch im Jugendstrafrecht zu beachtenden gesetzgeberischen Wertung nicht durch den Umstand erhöht, dass er zunächst mit Tötungsvorsatz handelte, wenn er vor Erreichen dieses tatbestandlichen Zieles die weitere Tatausführung aus autonomen Gründen freiwillig aufgegeben oder die Tatvollendung aktiv verhindert hat. Mit dem freiwilligen Rücktritt vom Versuch hat er vielmehr dokumentiert, dass sein „verbrecherischer Wille“ nicht ausgeprägt genug gewesen ist, um sein deliktisches Ziel zu verwirklichen (vgl. , BGHSt 9, 48, 52). Die in dem Versuch zunächst zum Ausdruck gekommene Gefährlichkeit des jugendlichen oder heranwachsenden Täters erweist sich nachträglich als „wesentlich geringer“ (BGH, aaO; Roxin, 2003, Strafrecht, Allgemeiner Teil Band II, S. 478).
14bb) Die auf der Tatbestandsebene auch im Jugendstrafrecht uneingeschränkt geltende Regelung des § 24 Abs. 1 StGB zwingt daher dazu, den Umstand des strafbefreienden Rücktritts vom Versuch in die unter jugendstrafrechtlichem Blickwinkel erfolgende Berücksichtigung des Tatbilds einzustellen, wenn der auf den weitergehenden Erfolg gerichtete Tatvorsatz schulderhöhend berücksichtigt werden soll. Erst beide Gesichtspunkte gemeinsam ergeben das Tatbild, welches in der spezifisch jugendstrafrechtlichen Beurteilung der Schuldschwere zu bewerten ist. Die einseitig schulderhöhende Berücksichtigung allein des zunächst vorliegenden Vollendungsvorsatzes bei der Beurteilung der Schwere der Schuld erweist sich demgegenüber als rechtsfehlerhaft.
15cc) Die Frage, ob die Annahme erheblicher Anlage- und Erziehungsmängel (vgl. , NStZ-RR 2015, 154) im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG auch auf den Umstand gestützt werden könnte, dass ein jugendlicher oder heranwachsender Täter zunächst zu einem Angriff auf das Leben eines anderen bereit gewesen ist, bedarf vorliegend keiner Entscheidung, weil die Jugendkammer das Vorliegen schädlicher Neigungen verneint und Jugendstrafe allein wegen Schwere der Schuld verhängt hat. Der Senat neigt jedoch der Ansicht zu, dass die Bewertung insoweit keinen anderen Grundsätzen folgen kann.
163. Der Senat kann ein Beruhen des Strafausspruchs auf dem festgestellten Rechtsfehler nicht ausschließen, zumal die Jugendkammer auch im Rahmen der Strafzumessung im engeren Sinne „strafschärfend“ auf den bei Tatbeginn bestehenden bedingten Tötungsvorsatz abgestellt hat.
17Die Sache bedarf daher im Strafausspruch neuer Verhandlung und Entscheidung.
Fischer Appl Eschelbach
Ott Bartel
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2016:200416U2STR320.15.0
Fundstelle(n):
NJW 2016 S. 10
NJW 2016 S. 2050 Nr. 28
KAAAF-75885