Bauliche Nutzung; Rechtfertigung der Zurücksetzung auf passiven Bestandsschutz
Gesetze: § 1 Abs 10 BauNVO
Instanzenzug: OVG Lüneburg Az: 1 KN 159/12 Urteil
Gründe
1Die auf sämtliche Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.
21. Die Revision ist nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zuzulassen. Das angefochtene Urteil weicht nicht von der Entscheidung des 4 CN 8.14 - (ZfBR 2016, 44) ab.
3Die Divergenzrüge scheitert bereits daran, dass die angeblich divergierenden Rechtssätze nicht - wie erforderlich (stRspr; vgl. 6 B 35.95 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 9) - in Anwendung derselben Rechtsvorschrift aufgestellt worden sind. Der von der Beschwerde zitierte Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts, der Ausschluss einzelner in den Baugebieten zulässigen Nutzungen stehe nicht im planerischen Belieben der Gemeinde, sondern - so ist zu ergänzen - sei nur zulässig, wenn die Gemeinde damit städtebauliche Ziele verfolge, ist der Vorschrift des § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB zugeordnet, während die Aussage des Oberverwaltungsgerichts, die mit der Rücksetzung auf den passiven Bestandsschutz regelmäßig verbundenen Einzelnachteile habe die Gemeinde nicht ausdrücklich und detailliert in die Abwägung einstellen müssen, im Rahmen der Prüfung des § 2 Abs. 3 BauGB ergangen ist. Darüber hinaus hat das Oberverwaltungsgericht dem Bundesverwaltungsgericht auch nicht widersprochen. Einen dem höchstrichterlichen Rechtssatz zuwiderlaufenden Rechtssatz des Inhalts, der Ausschluss einzelner in den Baugebieten zulässigen Nutzungen stehe im planerischen Belieben der Gemeinde und brauche nicht durch städtebauliche Ziele gerechtfertigt zu sein, hat das Oberverwaltungsgericht weder ausdrücklich noch sinngemäß formuliert.
42. Die Revision ist auch nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Antragstellerin beimisst.
5Auf die Fragen,
- ob die Festsetzungsalternativen "nackten" (gemeint ist in der Terminologie des Oberverwaltungsgerichts: passiven) Bestandsschutzes und erweiterten Bestandsschutzes nach § 1 Abs. 10 BauNVO in einem Vorrang-Nachrang-Verhältnis stehen und
- ob die Zurücksetzung auf den passiven Bestandsschutz der Rechtfertigung durch besonders gewichtige, d.h. zwingende städtebauliche Belange bedarf,
lässt sich antworten, ohne dass die Durchführung eines Revisionsverfahrens notwendig wäre. Ob eine Gemeinde eine Nutzung auf den passiven Bestandsschutz beschränkt oder der Nutzung Erweiterungsmöglichkeiten einräumt, richtet sich nach ihren städtebaulichen Vorstellungen. Im Grundsatz ist die Festschreibung einer vorhandenen Nutzung abwägungsfehlerfrei, wenn die Gemeinde die mit Erweiterungen (welcher Art auch immer) verbundenen städtebaulichen Auswirkungen verhindern will ( 4 BN 15.99 - Buchholz 406.12 § 1 BauNVO Nr. 27). Ob eine derartige Festschreibung im Einzelnen abwägungsgerecht ist, ist nicht grundsätzlich klärungsfähig.
63. Die Revision ist schließlich nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen. Das Oberverwaltungsgericht hat weder gegen den Überzeugungsgrundsatz verstoßen noch ein Überraschungsurteil erlassen.
7a) Die Antragstellerin rügt, dass das Oberverwaltungsgericht auch ohne entsprechenden Vortrag davon habe ausgehen müssen, dass das Zurücksetzen auf den passiven Bestandsschutz unter anderem mit Nachteilen beim Versicherungsschutz verbunden sei. Das Ausblenden von Tatsachen, die allgemein bekannt seien, sei mit § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht vereinbar.
8Die Rüge verfehlt den rechtlichen Maßstab. Nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts musste die Antragsgegnerin die mit der Rücksetzung auf passiven Bestandsschutz regelmäßig verbundenen direkten und mittelbaren Einzelnachteile nicht ausdrücklich und detailliert in die Abwägung einstellen. Die Nachteile des passiven Bestandsschutzes für den konkreten Betriebsablauf - z.B. soweit sie versicherungstechnischer Natur seien und ggf. mittelbar auf die Beleihungsfähigkeit des Grundstücks zurückwirkten - habe die Antragsgegnerin nicht kennen und selbständig ermitteln müssen, weil es Sache der Antragstellerin gewesen sei, dies im Rahmen ihrer Einwendung vorzubringen. Dies sei nicht geschehen (UA S. 8 f.). Die Kritik der Antragstellerin richtet sich gegen den rechtlichen Ansatz des Oberverwaltungsgerichts zum Umfang der Obliegenheit, abwägungserhebliche Belange im Verfahren der Planaufstellung vorzutragen. Mit der Rüge eines Verstoßes gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann aber nur geltend gemacht werden, die Vorinstanz sei von einem unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt ausgegangen ( 6 C 134.81 - BVerwGE 68, 338 LS 1).
9Einen unzutreffenden Sachverhalt hat das Oberverwaltungsgericht seinem Urteil nicht zugrunde gelegt. Es trifft zu, dass in der Einwendung der Antragstellerin vom von Nachteilen des passiven Bestandsschutzes für ihren Versicherungsschutz und die Beleihungsfähigkeit ihres Grundstücks nicht die Rede ist.
10b) Das Oberverwaltungsgericht hat auch keine unzulässige Überraschungsentscheidung getroffen. Es brauchte in der mündlichen Verhandlung weder darauf hinzuweisen, welchen Inhalt es dem Einwendungsschreiben der Antragstellerin vom voraussichtlich beilegen werden, noch offen zu legen, dass es der Antragsgegnerin in der Einschätzung folgen werde, der konkurrierende Schuhmarkt ... verdiene besonderen Vertrauensschutz (UA S. 12). Die Gerichte haben nicht allgemein die Pflicht, die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung auf ihre Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffes hinzuweisen; denn die tatsächliche und rechtliche Würdigung ergibt sich regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung (stRspr; vgl. 4 B 11.14 - ZfBR 2015, 170 = juris Rn. 15). Dass vorliegend etwas anderes gelten könnte, ist nicht ersichtlich.
11Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und die Festsetzung des Streitwerts auf § 47 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2016:290316B4BN1.16.0
Fundstelle(n):
BAAAF-72226