Strafverurteilung wegen schweren Kindesmissbrauchs: Absehen von der Anordnung einer Sicherungsverwahrung trotz festgestellten Gefährdungspotentials des Angeklagten
Gesetze: § 66 Abs 2 StGB, § 176a StGB, § 261 StPO, § 267 StPO
Instanzenzug: LG Detmold Az: 4 KLs 65/14
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten „wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 58 Fällen, davon in 55 Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, davon in zwei Fällen zudem in Tateinheit mit Sichverschaffen kinderpornographischer Schriften", zu der Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hat Revision eingelegt, das Rechtsmittel mit der Sachrüge begründet und beantragt, das angefochtene Urteil „im Rechtsfolgenausspruch" aufzuheben. Ihre vom Generalbundesanwalt vertretene Revision hat Erfolg, soweit sie sich gegen die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung wendet. Darüber hinaus ist der gesamte Strafausspruch - auch zugunsten des Angeklagten (§ 301 StPO) - aufzuheben.
21. Nach den Feststellungen nahm der Angeklagte nach dem vierten Geburtstag seiner Tochter A. am bis zum in 55 Fällen sexuelle Missbrauchshandlungen zu deren Nachteil vor. Zwei dieser Übergriffe filmte der Angeklagte mit seinem Mobiltelefon und speicherte sie ab; bei dem ersten dieser beiden Übergriffe fertigte er auch Fotos von seiner gefesselt, maskiert und auf dem Rücken liegenden unbekleideten Tochter. Am und am kam es auch zu fünf sexuellen Übergriffen auf die zum Tatzeitpunkt sechs und fünf Jahre alten Töchter einer Freundin seiner Ehefrau. Dabei drang der Angeklagte kurzzeitig mit dem Finger bei einer Gelegenheit in die Scheide des einen Mädchens und bei einem anderen Übergriff in den Anus der anderen Geschädigten ein, die an ihm auch Oralverkehr ausüben musste.
3Das Landgericht hat den Angeklagten für voll schuldfähig gehalten und Einzelfreiheitsstrafen von jeweils zwei Jahren und neun Monaten, zwei Jahren und drei Monaten, zwei Jahren, einem Jahr und neun Monaten, einem Jahr und sechs Monaten, einem Jahr und zwei Monaten, 53 mal einem Jahr sowie neun Monaten verhängt. Sicherungsverwahrung hat es nicht angeordnet. Es hat die formellen Voraussetzungen für die fakultative Anordnung der Maßregel nach § 66 Abs. 2 StGB bejaht. Auch die materiellen Voraussetzungen gemäß § 66 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB hat es angenommen. „Im Rahmen des ihr eingeräumten Ermessens" hat die Jugendschutzkammer die Anordnung der Sicherungsverwahrung "trotz des festgestellten Gefährdungspotentials" (UA 34) abgelehnt: Der Angeklagte habe seine Therapiebereitschaft deutlich zum Ausdruck gebracht. Zwar sei "derzeit gänzlich ungewiss ..., ob Therapiebemühungen eine innere Haltungsänderung bei dem Angeklagten erzielen können" (UA 34), er habe jedoch den ersten Schritt gemacht, indem er seine Taten rückhaltlos offenbart habe. Die Dauer der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe ermögliche eine intensive therapeutische Intervention in einer qualifizierten Einrichtung des Strafvollzugs. Der Angeklagte habe sich bislang noch gar nicht mit seinen pädophilen Neigungen auseinandergesetzt. Nach seiner (einschlägigen) Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe im Jahr 1995 habe ausschließlich die problematische Kindheit und Jugend im Fokus der therapeutischen Aufarbeitung gestanden (UA 35). Nach alledem gehe die Strafkammer von der Erwartung aus, dass der Angeklagte sich die Strafverbüßung hinreichend zur Warnung dienen lassen werde.
42. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
5a) Die Revision ist wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt. Der Senat kann offen lassen, ob die Staatsanwaltschaft ausweislich der Revisionsbegründung über den gestellten Antrag hinaus das Rechtsmittel auf die Frage der Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung beschränken wollte. Wie der Generalbundesanwalt in seiner Terminszuschrift vom zutreffend ausführt, hat das Landgericht Strafhöhe und Maßregelanordnung in einen inneren Zusammenhang gesetzt, der eine getrennte Prüfung beider Rechtsfolgen ausschließt (vgl. ).
6b) Die auf § 66 Abs. 2 StGB gestützte Entscheidung des Landgerichts, nach seinem Ermessen von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abzusehen, leidet an einem durchgreifenden Rechtsfehler.
7aa) Die Wirkungen eines erstmals erlebten längeren Strafvollzugs und von in diesem Rahmen (möglicherweise) wahrgenommenen Therapieangeboten können zwar im Einzelfall wesentliche gegen die Anordnung der Maßregel sprechende Gesichtspunkte darstellen (vgl. , StV 2011, 276). Ein Absehen von der Anordnung trotz bestehender hangbedingter Gefährlichkeit kommt in Ausübung des in § 66 Abs. 2 (und Abs. 3) StGB eingeräumten Ermessens aber nur dann in Betracht, wenn bereits zum Zeitpunkt des Urteilserlasses die Erwartung begründet ist, der Täter werde hierdurch eine Haltungsänderung erfahren, so dass für das Ende des Strafvollzugs eine günstige Prognose gestellt werden kann (, NStZ-RR 2012, 272 [Ls.]; Beschlüsse vom - 1 StR 515/14, NStZ-RR 2015, 73, und vom - 3 StR 221/11). Im Zeitpunkt des Urteilserlasses noch ungewisse positive Veränderungen und lediglich mögliche Wirkungen künftiger Maßnahmen im Strafvollzug können indes nicht genügen (vgl. , NStZ 2015, 510, 511, vom - 4 StR 17/98, BGHR StGB § 66 Abs. 2 Ermessensentscheidung 6, und vom - 4 StR 527/97, NStZ-RR 1998, 206). Solche möglichen Veränderungen sind, sofern sie eingetreten sind, erst im Rahmen der obligatorischen Entscheidung gemäß § 67c Abs. 1 StGB vor dem Ende des Vollzugs der Freiheitsstrafe zu berücksichtigen.
8bb) Diesen rechtlichen Maßstab hat das Landgericht bei seiner Ermessensausübung verfehlt:
9Es hätte prüfen müssen, ob zumindest konkrete Anhaltspunkte für einen Behandlungserfolg vorliegen (vgl. , NStZ-RR 2011, 172, und vom - 4 StR 184/05, NStZ-RR 2005, 337, 338; Beschlüsse vom - 1 StR 515/14, NStZ-RR 2015, 73, und vom - 2 StR 592/11, NStZ-RR 2012, 272 [Ls.]). Es gibt keine gesicherte Vermutung dahingehend, dass eine langjährige, erstmalige Strafverbüßung stets zu einer Verhaltensänderung führen wird (, NStZ 2010, 270, 272). Die Jugendschutzkammer hat selbst - nach sachverständiger Beratung - ausgeführt, "dass derzeit gänzlich ungewiss ist, ob Therapiebemühungen eine innere Haltungsänderung bei dem Angeklagten erzielen können" (UA 34). Der Um- stand, dass der Angeklagte nach ihrer Auffassung "den ersten Schritt" gemacht habe, ist nicht geeignet, die in ständiger Rechtsprechung verlangte gesicherte Erwartung zu begründen, die unter Ermessensgesichtspunkten ein Absehen von der Anordnung der Sicherungsverwahrung rechtfertigen könnte (vgl. dazu auch , NStZ 2015, 510, 511).
10cc) Sonstige Gründe, die einer Anordnung der Sicherungsverwahrung zwingend entgegenstehen könnten, ergeben sich aus dem angefochtenen Urteil nicht (vgl. zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit , NStZ 2015, 208; s. ferner , NStZ 2015, 210).
113. Die Aufhebung des angefochtenen Urteils im (unterbliebenen) Maßregelausspruch führt zu Gunsten des Angeklagten (§ 301 StPO) zur Aufhebung auch des gesamten Strafausspruchs. Im Hinblick auf die Erwägungen des angefochtenen Urteils zu den möglichen Wirkungen des langjährigen Strafvollzugs vermag der Senat nicht auszuschließen, dass die verhängten Einzelstrafen sowie die Gesamtstrafe niedriger ausgefallen wären, wenn das Landgericht die nunmehr erneut im Raum stehende Sicherungsverwahrung verhängt hätte (vgl. auch mwN, insoweit in NStZ 2013, 707 nicht abgedruckt).
12Die Strafzumessung weist andererseits auch einen Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten bei der Bemessung aller Einzelstrafen und der Gesamtstrafe auf. Das Landgericht hat im Rahmen der konkreten Strafzumessung die erlittene Untersuchungshaft strafmildernd berücksichtigt. Untersuchungshaft ist indes, jedenfalls bei der Verhängung einer zu verbüßenden Freiheitsstrafe, kein Strafmilderungsgrund, es sei denn, mit ihrem Vollzug wären ungewöhnliche, über die üblichen deutlich hinausgehende Beschwernisse verbunden (, Rn. 9, vom - 4 StR 258/13, Rn. 18, und vom - 4 StR 467/12, Rn. 25, jeweils mwN). Will der Tatrichter wegen besonderer Nachteile für den Angeklagten den Vollzug der Untersuchungshaft bei der Strafzumessung mildernd berücksichtigen, müssen diese Nachteile in den Urteilsgründen dargelegt werden (, NJW 2006, 2645). Daran fehlt es hier.
Mutzbauer Roggenbuck Cierniak
Franke Bender
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NAAAF-08689