Keine Bindung an tatsächliche Verständigung, die zu offensichtlich unzutreffenden Ergebnissen führt; Rüge unterbliebener Sachaufklärung
Gesetze: FGO § 76 Abs. 1 Satz 1, FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, AO § 204
Instanzenzug:
Tatbestand
1 I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) erzielte in den Streitjahren 2006 bis 2010 aus einer Bäckerei Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Im Rahmen einer Fahndungsprüfung wurde am seine Wohnung durchsucht. Dabei wurden zwei Tafelkalender für das Jahr 2011 aufgefunden. Zwischen den Beteiligten besteht Einvernehmen, dass in einem dieser Tafelkalender („dreispaltiger Tafelkalender“) die tatsächlich erzielten Bruttoerlöse aufgeführt sind und der Kläger in seinen Steuererklärungen und Umsatzsteuer-Voranmeldungen geringere Beträge angegeben hat.
2 Am kam es in den Räumen des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt —FA—) zu einer tatsächlichen Verständigung zwischen den Beteiligten, bei der der Kläger nicht durch einen rechtlichen oder steuerlichen Berater begleitet wurde. Auf dem ersten Blatt dieser tatsächlichen Verständigung heißt es u.a.: „Im Rahmen der Durchsuchung am wurden bei dem Steuerpflichtigen zwei Tafelkalender 2011 sichergestellt, aus denen die tatsächlichen Einnahmen im laufenden Jahr ersichtlich sind. Im ersten Halbjahr 2011 wurden demnach die Betriebseinnahmen um 78.779,71 zu niedrig verbucht, somit um 24 % der tatsächlichen Umsatzerlöse; Dies entspricht 32 % der erklärten Beträge.“ Weitere Angaben zu den Verhältnissen des Jahres 2011 enthält die Niederschrift über die tatsächliche Verständigung nicht.
3
Tabelle in neuem Fenster öffnen
Der genannte Betrag von 78.779,71 Euro ist vom FA wie folgt ermittelt worden: | ||
- | Bruttoerlöse Januar bis Juli 2011 lt. Aufzeichnungen im Tafelkalender | 327.104,50 Euro |
- | abzüglich Bruttoerlöse Januar bis Juni 2011 lt. Umsatzsteuer-Voranmeldungen | ./. 248.324,79 Euro |
- | Differenz (hinterzogener Betrag) | 78.779,71 Euro |
- | hinterzogener Betrag in Prozent der erklärten Erlöse | 31,72 % |
4 Hätte das FA hingegen auf beiden Seiten der Rechnung einheitlich die auf den Zeitraum Januar bis Juni 2011 entfallenden Beträge angesetzt, hätte sich nach dem dreispaltigen Tafelkalender ein tatsächlicher Erlös von 276.119,50 €, ein hinterzogener Differenzbetrag von 27.794,71 € und ein Prozentsatz von 11,19 % ergeben.
5 Auf dem zweiten Blatt der tatsächlichen Verständigung hat das FA dann für die Streitjahre 2006 bis 2010 die „veranlagten“ Erlöse mit den Erlösen „lt. FP“ verglichen. Wie die Erlöse „lt. FP“ ermittelt worden sind, geht aus der Niederschrift nicht hervor. Das FA hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Finanzgericht (FG) vorgetragen, die erklärten Erlöse seien um 30,53 % erhöht worden.
6 Im Einspruchsverfahren machte der Kläger geltend, die Steuer sei nicht korrekt berechnet worden. Ferner bat er um Herausgabe der beschlagnahmten Unterlagen, um deren Nachprüfung „durch einen Fachmann“ zu ermöglichen. Das FA wies den Einspruch unter Verweis auf die Bindungswirkung der tatsächlichen Verständigung zurück. Eine Herausgabe von Unterlagen komme bis zum Abschluss des —parallel betriebenen— Strafverfahrens nicht in Betracht.
7 In der mündlichen Verhandlung vor dem FG machte der —weiterhin nicht durch einen Prozessbevollmächtigten vertretene— Kläger geltend, er habe für die Monate Januar bis Juni 2011 „ungefähr 248.000 €“ Umsätze erklärt, sein „richtiger“ Umsatz habe sich auf „ungefähr 276.000 €“ belaufen. Das FA sei aber von einem Betrag in Höhe von 327.000 € ausgegangen.
8 Das FG wies die Klage ab. Die tatsächliche Verständigung sei bindend; insbesondere führe sie nicht zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis. Der Vergleich der im „dreispaltigen Kalender“ aufgezeichneten Erlöse mit denen aus dem „zweispaltigen Kalender“ sei sachgerecht.
9 Mit seiner Beschwerde rügt der Kläger Verfahrensmängel.
10 Das FA hält die Beschwerde für unbegründet.
Gründe
11 II. Die Beschwerde ist unbegründet.
12 Die vom Kläger gerügten Verstöße gegen die Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung —FGO—) und die Pflicht, die Entscheidung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens zu gewinnen (§ 96 Abs. 1 FGO) verhelfen der Beschwerde nicht zum Erfolg.
13 1. Der Kläger rügt sinngemäß, das FG hätte sich mit dem Rechenwerk des FA sowie den vom Kläger aufgezeigten —tatsächlich bestehenden— Widersprüchen in diesem Rechenwerk befassen müssen. Hätte es dies getan, hätte es zu dem Ergebnis kommen müssen, dass die tatsächliche Verständigung zwar binde, aber in der Weise anzuwenden sei, dass von einem hinterzogenen Betrag in Höhe von 11 % der erklärten Erlöse auszugehen sei.
14 Mit diesem Begehren kann die Beschwerde keinen Erfolg haben. Das FG ist in rechtlicher Hinsicht —insoweit zutreffend— von der höchstrichterlichen Rechtsprechung ausgegangen, wonach eine tatsächliche Verständigung nicht bindend ist, wenn sie zu offensichtlich unzutreffenden Ergebnissen führt (vgl. , BFHE 142, 549, BStBl II 1985, 354, unter 3.c). Hätte das FG die erheblichen Unstimmigkeiten in den vom FA angenommenen Grundlagen der tatsächlichen Verständigung erkannt, hätten dem FG auf der Basis seiner eigenen Rechtsauffassung daher nur zwei Möglichkeiten zur Verfügung gestanden: Entweder hätte es die Unstimmigkeiten dahingehend gewürdigt, dass sie sich noch nicht im Bereich „offensichtlich unzutreffender Ergebnisse“ bewegen; dann wäre es bei der Bindungswirkung der vom Kläger unterzeichneten tatsächlichen Verständigung geblieben. Oder das FG hätte ein „offensichtlich unzutreffendes Ergebnis“ bejaht; dann wäre die tatsächliche Verständigung nicht etwa mit einem anderen als dem vereinbarten Inhalt bindend und wirksam, sondern insgesamt unwirksam. In der Folge hätte das FG in Ausübung seiner eigenen Schätzungsbefugnis den Hinzuschätzungsbetrag ermitteln müssen. Das vom Kläger begehrte Ergebnis, die tatsächliche Verständigung einerseits als bindend anzusehen, ihr andererseits aber einen anderen Inhalt als den schriftlich niedergelegten zu geben, ist rechtlich nicht möglich.
15 2. Soweit der Kläger rügt, das FG hätte die Höhe der von ihm in seinen Umsatzsteuer-Voranmeldungen erklärten Beträge aufklären müssen, war dies auf der Grundlage des Verständnisses, das das FG vom Inhalt der tatsächlichen Verständigung vertrat, nicht entscheidungserheblich. Eine Aufklärungsrüge kann aber nur dann zum Erfolg führen, wenn die unterbliebene Sachaufklärung auch auf der Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des FG zu einer anderen Entscheidung hätte führen können (Senatsbeschlüsse vom X B 124/10, BFH/NV 2011, 1838, unter II.2.d, und vom X B 155/11, BFH/NV 2012, 2015, unter II.1.a).
16 Das FG hat die tatsächliche Verständigung dahingehend interpretiert, dass zur Ermittlung des „Hinterziehungs-Prozentsatzes“ die im dreispaltigen Tafelkalender enthaltenen Aufzeichnungen mit denen des zweispaltigen Tafelkalenders zu vergleichen seien und tatsächlich auch verglichen worden sind. Auf dieser Grundlage war es für das FG nicht von Bedeutung, welche Beträge der Kläger in seinen Umsatzsteuer-Voranmeldungen tatsächlich erklärt hatte.
17 Dieses Verständnis des FG war zwar insofern fehlerhaft, als ungeachtet der Frage, welchen Vergleichsmaßstab die Beteiligten mit der tatsächlichen Verständigung haben wählen wollen, das FA jedenfalls tatsächlich die Zahlen des dreispaltigen Tafelkalenders mit den wirklich vorangemeldeten Zahlen verglichen hat, diese zudem für divergierende Zeiträume. Der darin liegende materiell-rechtliche Fehler des FG kann aber mit der Nichtzulassungsbeschwerde nicht gerügt werden; gleichwohl ist für die Prüfung, ob ein Verfahrensmangel vorliegt, das —wenn auch fehlerhafte— materiell-rechtliche Verständnis des FG zugrunde zu legen.
18 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
19 4. Von einer weiteren Darstellung des Sachverhalts sowie einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ab.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2016 S. 48 Nr. 1
AAAAF-08274