Änderung von Steuerbescheiden: Neue Tatsachen i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO und unlautere Mittel i.S. des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c AO
Leitsatz
Hat der Steuerpflichtige dem FA den für die Besteuerung maßgeblichen Sachverhalt im Veranlagungsverfahren vollständig offengelegt, handelt er nicht arglistig und bedient sich auch nicht sonstiger unlauterer Mittel i.S. des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c AO, wenn er sich im Einspruchsverfahren weiterhin auf Angaben in der Lohnsteuerbescheinigung bezieht, denen nach Auffassung des FA eine unzutreffende rechtliche Würdigung des Arbeitgebers zugrunde liegt.
Gesetze: AO §§ 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c, 173 Abs. 1 Nr. 1; EStG § 3 Nr. 63;
Instanzenzug: ,
Tatbestand
1 I. Streitig ist, ob der bestandskräftige Einkommensteuerbescheid 2007 vom hätte geändert werden dürfen.
2 Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Ehegatten und wurden für das Streitjahr zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Die Klägerin war im Streitjahr vom 1. Januar bis zum 30. Juni bei der Wohnungsbaugesellschaft A mbH (A) und vom 1. Juli bis zum 31. Dezember bei der Steuerberaterin B (B) beschäftigt. In ihrer gemeinsamen Einkommensteuererklärung erklärten die Kläger in der Anlage N zu den Einkünften der Klägerin aus nichtselbständiger Arbeit einen Bruttoarbeitslohn in Höhe von ./. 20.201 € und Entschädigungen in Höhe von 174.034 €. Die Arbeitgeber der Klägerin übermittelten dem Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt —FA—) elektronisch für die Zeit vom 1. Januar bis zum einen Bruttoarbeitslohn von ./. 26.980,08 € und einen ermäßigt besteuerten Arbeitslohn in Höhe von 174.034,28 € und vom 1. Juli bis zum einen Bruttoarbeitslohn in Höhe von 6.920 €.
3 Nachdem das FA die Kläger aufgefordert hatte, Unterlagen zur Berechnung und Zahlungsweise des ermäßigt besteuerten Arbeitslohns der Klägerin und eine Aufstellung einzureichen, aus der sich der negative Bruttoarbeitslohn der Klägerin ergebe, reichten die Kläger mit Schriftsatz vom einen Aufhebungsvertrag der Klägerin mit der A vom ein. Danach sollte die Klägerin aus Anlass der Auflösung des Arbeitsverhältnisses zum eine Abfindung in Höhe von 174.034,28 € erhalten, von der ein Teilbetrag in Höhe von 50.017 € in eine Direktversicherung für die Klägerin einbezahlt werden sollte. Des Weiteren reichten die Kläger eine Bescheinigung der A vom mit einer „Aufstellung der bescheinigten Summe in der Lohnsteuerbescheinigung Zeile 3“ ein. Danach hatte die A bei der Berechnung des in Zeile 3 der Lohnsteuerbescheinigung eingetragenen Bruttoarbeitslohns die „Einzahlung aus Abfindung in Direktversicherung“ in Höhe von 50.017 € als Abzugsposten berücksichtigt und gelangte so zu einem Wert in Höhe von ./. 26.980,08 €.
4 Mit Einkommensteuerbescheid vom setzte daraufhin das FA die Einkommensteuer fest. In den Erläuterungen wies das FA darauf hin, dass der Bruttoarbeitslohn der Klägerin 29.956 € betrage. Der Betrag für die Direktversicherung in Höhe von 50.017 € sei nach § 3 Nr. 63 des Einkommensteuergesetzes (EStG) steuerfrei und von der Abfindung abzuziehen, so dass 124.017 € als ermäßigt besteuerter Arbeitslohn zu berücksichtigen seien. Ein Abzug des steuerfreien Betrags vom Bruttoarbeitslohn sei nicht vorzunehmen, da die Zahlungen im Rahmen der Auflösung des Dienstverhältnisses erfolgt und auch von der vereinbarten Abfindung einbehalten worden seien.
5 Dagegen legten die Kläger Einspruch ein, den sie damit begründeten, dass die Klägerin eine Abfindung in Höhe von 174.034,28 € erhalten habe, die nach R 34.1 der Einkommensteuer-Richtlinie zu berücksichtigen sei. Hierzu reichten sie eine Berechnung der Einkommensteuer, des Solidaritätszuschlags und der Kirchensteuer ein, in der sie für die Klägerin einen Bruttoarbeitslohn in Höhe von ./. 20.061 € und einen ermäßigt besteuerten Arbeitslohn in Höhe von 174.034 € ansetzten. Eine andere Sachbearbeiterin des FA half dem Einspruch mit Änderungsbescheid vom ab.
6 Am stellte das FA im Rahmen einer bei der A durchgeführten Lohnsteuer-Außenprüfung fest, dass durch eine falsche Lohnsteuerverschlüsselung Beiträge zur Direktversicherung nicht mit der Abfindung, sondern mit dem Bruttoarbeitslohn verrechnet worden waren. Dadurch wurde auf der elektronischen Lohnsteuerbescheinigung ein negativer Bruttoarbeitslohn ausgewiesen. Tatsächlich hätte A einen Bruttoarbeitslohn in Höhe von 23.036,92 € und eine Abfindung in Höhe von 124.017,28 € bescheinigen müssen.
7 Daraufhin erließ das FA am einen nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) geänderten Einkommensteuerbescheid und berücksichtigte dabei —wie im ursprünglichen Bescheid vom — einen Bruttoarbeitslohn der Klägerin in Höhe von 29.956 € und eine Entschädigung in Höhe von 124.017 €.
8 Der hiergegen erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) statt.
9 Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts.
10 Es beantragt,
das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
11 Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Gründe
12 II. Die Revision ist unbegründet und daher nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Das FG hat zu Recht entschieden, dass der bestandskräftige Einkommensteuerbescheid 2007 vom weder nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO noch nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c AO geändert werden durfte.
13 1. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen.
14 a) Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ist jeder Lebenssachverhalt, der Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestands sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (ständige Rechtsprechung, z.B. Senatsbeschluss vom VI R 21/13, BFHE 248, 116; , BFHE 240, 265, BStBl II 2013, 484, m.w.N., und , BFH/NV 2012, 227, m.w.N.). Nicht unter den Tatsachenbegriff fallen dagegen Schlussfolgerungen aller Art, rechtliche Würdigungen und Bewertungen, Rechtsansichten und juristische Subsumtionen, bei denen auf Grund von Tatsachen anhand gesetzlicher Vorschriften ein bestimmter Schluss gezogen wird (, BFHE 140, 2, BStBl II 1984, 181; vom VIII R 304/81, BFHE 141, 485, BStBl II 1984, 785; vom VIII R 41/89, BFHE 170, 1, BStBl II 1993, 569; vom VI R 125/00, BFHE 197, 387, BStBl II 2002, 296; vom III R 13/06, BFHE 214, 287, BStBl II 2007, 714; vom III R 90/07, BFHE 232, 485, BStBl II 2011, 543). Nachträglich werden Tatsachen oder Beweismittel bekannt, wenn deren Kenntnis nach dem Zeitpunkt erlangt wird, in dem die Willensbildung über die Steuerfestsetzung abgeschlossen ist. Grundsätzlich kommt es dabei auf den Wissensstand der zur Bearbeitung des Steuerfalls berufenen Dienststelle an, wobei aktenkundige Tatsachen stets als bekannt gelten (Senatsurteil vom VI R 85/10, BFHE 238, 295, BStBl II 2013, 5, m.w.N.).
15 b) Nach diesen Grundsätzen konnte der Einkommensteuerbescheid 2007 vom durch das FA nicht nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO geändert werden.
16 aa) Denn dem FA waren bereits bei Erlass des Einkommensteuerbescheids vom sämtliche für die Besteuerung maßgeblichen Tatsachen bekannt. Tatsachen sind in diesem Zusammenhang, dass die Klägerin mit der A am einen Auflösungsvertrag geschlossen hatte, dass nach diesem die Klägerin aus Anlass der Auflösung des Arbeitsverhältnisses zum von der A eine Abfindungssumme in Höhe von 174.034,28 € erhielt und dass die A von dieser Abfindungssumme einen Teilbetrag in Höhe von 50.017 € in eine Direktversicherung für die Klägerin einzubezahlen hatte. Tatsache ist des Weiteren, dass die A in der Lohnsteuerbescheinigung bei der Berechnung des Bruttoarbeitslohns der Klägerin die Einzahlung in die Direktversicherung in Höhe von 50.017 € als Abzugsposten berücksichtigt hat. Diese Tatsachen waren bereits seit Einreichung des Klägerschriftsatzes vom aktenkundig und damit dem FA bekannt. Auf die individuelle Kenntnis der neu zuständigen Sachbearbeiterin kommt es nicht an (Senatsurteil in BFHE 238, 295, BStBl II 2013, 5).
17 bb) Keine Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ist dagegen, dass das FA nach erneuter Prüfung zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Einzahlung in die Direktversicherung mit der Entschädigung und nicht mit dem Bruttoarbeitslohn zu verrechnen ist. Es geht nunmehr davon aus, dass die Einzahlung in die Direktversicherung nach § 3 Nr. 63 EStG steuerfrei und statt vom Bruttoarbeitslohn von der Entschädigungssumme in Höhe von 174.034,28 € abzuziehen war. Diese Beurteilung ist das Ergebnis einer Subsumtion des § 3 Nr. 63 EStG und einer Auslegung des Abfindungsvertrags und nicht Folge neuer, nachträglich bekannt gewordener Tatsachen. Das FA ist vielmehr zu einer anderen rechtlichen Würdigung gelangt, als es im Abhilfebescheid vertreten hat.
18 2. Nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c AO darf ein Steuerbescheid geändert werden, soweit er durch unlautere Mittel, wie arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt worden ist.
19 a) Unter arglistiger Täuschung i.S. des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c AO ist die bewusste und vorsätzliche Irreführung zu verstehen, wie jedes vorsätzliche Verschweigen oder Vortäuschen von Tatsachen, durch das die Willensbildung der Behörde unzulässig beeinflusst wird (Wedelstädt in Beermann/ Gosch, AO § 172 Rz 194, m.w.N.). Für Arglist reicht bereits das Bewusstsein aus, wahrheitswidrige Angaben zu machen. Nicht erforderlich ist dagegen die Absicht, damit das Finanzamt zu einer Entscheidung zu veranlassen (, BFHE 176, 308, BStBl II 1995, 293). Ein Mitverschulden der Finanzbehörde ist unerheblich, insbesondere der Umstand, dass es die Unrichtigkeit hätte durchschauen können (Wedelstädt, a.a.O., AO § 172 Rz 197; Klein/Rüsken, AO, 12. Aufl., § 172 Rz 55).
20 b) Diesen Grundsätzen entsprechend durfte der Einkommensteuerbescheid 2007 vom nicht nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c AO geändert werden.
21 Eine arglistige Täuschung liegt im Streitfall nicht vor. In der (erneuten) Bezugnahme auf die Angaben in der elektronischen Lohnsteuerbescheinigung im Rahmen des Einspruchsverfahrens ist keine Irreführung über Tatsachen oder das Bewusstsein, wahrheitswidrige Angaben zu machen, zu sehen. Denn nachdem der Sachverhalt dem FA bereits vollständig offengelegt war, haben die Kläger hierdurch dem FA lediglich eine andere rechtliche Würdigung hinsichtlich der lohnsteuerlichen Behandlung der Einzahlung in die Direktversicherung mitgeteilt. Der schlichte Vortrag einer anderen Rechtsauffassung im Rahmen des Einspruchsverfahrens ist jedoch nicht „arglistig“ oder in sonstiger Weise „unlauter“. Zudem entfaltet die Lohnsteuerbescheinigung lediglich einen Beweiswert dahingehend, wie der Lohnsteuerabzug tatsächlich stattgefunden hat (Senatsurteil vom VI R 10/05, BFHE 223, 202, BStBl II 2009, 354) und gerade nicht darüber, wie er hätte durchgeführt werden müssen, so dass auch aus diesem Grund durch die Bezugnahme auf die Lohnsteuerbescheinigung keine „unrichtigen (tatsächlichen) Angaben“ gemacht wurden. Eine etwaige Hoffnung der Kläger, das FA werde sich ohne eine weitere Sachprüfung ihrer Rechtsauffassung anschließen, ist keine arglistige Täuschung (, Entscheidungen der Finanzgerichte 1996, 1073).
22 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
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Fundstelle(n):
BStBl 2017 II Seite 13
AO-StB 2015 S. 312 Nr. 11
BB 2015 S. 2325 Nr. 39
BFH/NV 2015 S. 1609 Nr. 11
BFH/PR 2015 S. 435 Nr. 12
BStBl II 2017 S. 13 Nr. 1
DB 2015 S. 2313 Nr. 40
DB 2015 S. 6 Nr. 38
DStR 2015 S. 2131 Nr. 38
DStRE 2015 S. 1276 Nr. 20
HFR 2015 S. 993 Nr. 11
NWB-Eilnachricht Nr. 39/2015 S. 2846
PStR 2015 S. 277 Nr. 11
PStR 2015 S. 312 Nr. 12
StB 2015 S. 338 Nr. 10
StBW 2015 S. 885 Nr. 23
Ubg 2015 S. 621 Nr. 10
wistra 2016 S. 86 Nr. 2
ZAAAF-01955