Instanzenzug: S 15 KR 125/12
Gründe:
I
1Der Kläger begehrt von der beklagten Krankenkasse die Bewilligung von Krankengeld über den 28.11.2011 hinaus. Er hält die Einschätzung des Sozialmedizinischen Dienstes vom 23.11.2011, ab 29.11.2011 wieder in der Lage gewesen zu sein, körperlich leichte bis mittelschwere Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten, für unrichtig; seine psychischen Beschwerden seien nicht berücksichtigt worden.
2Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 27.6.2013). Das LSG hat die am 27.9.2013 eingelegte Berufung des Klägers als unzulässig verworfen, weil die einmonatige Berufungsfrist (§ 151 Abs 1 SGG) nicht eingehalten worden sei (Beschluss vom 17.3.2014). Ausweislich des von seiner damaligen Prozessbevollmächtigten, Rechtsanwältin A., unterzeichneten Empfangsbekenntnisses (EB) sei ihr das Urteil am 26.8.2013 zugestellt worden, sodass die Berufungsfrist am 26.9.2013 abgelaufen sei. Der Wirksamkeit der Zustellung am 26.8.2013 entgegenstehende Gründe seien nicht ersichtlich. Ob die Prozessbevollmächtigte wegen ganztägiger Abwesenheit am 26.8.2013 (Montag) das am 26.8.2013 in der Kanzlei eingegangene Urteil tatsächlich erst am 27. oder 28.8.2013 zur Kenntnis genommen habe, sei unerheblich. Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG) seien nicht ersichtlich, weil die Fristversäumung nicht als "unverschuldet" angesehen werden könne.
3Mit der Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des LSG. Er stützt das Rechtsmittel ausschließlich auf Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
II
4Die Beschwerde ist unbegründet. Die geltend gemachten Verfahrensfehler des LSG liegen nicht vor.
51. Die Rüge des Klägers, das LSG habe es verfahrensfehlerhaft unterlassen, seinem Antrag auf Vernehmung von Rechtsanwältin A. (vgl Schriftsatz vom 24.10.2013) zu der in der eidesstattlichen Versicherung vom 25.10.2013 dargelegten ganztägigen Ortsabwesenheit am 26.8.2013 und der sich daraus ergebenden Unmöglichkeit der Kenntnisnahme von dem SG-Urteil vor dem 27.8.2013 stattzugeben, geht fehl. Einer Vernehmung der Rechtsanwältin bedurfte es nicht. Nach der Rechtsauffassung des LSG über die rechtlichen Anforderungen, die an den Beweis der Unrichtigkeit des auf dem EB vermerkten Datums über die Zustellung zu stellen sind, war die Zustellung des SG-Urteils selbst dann am 26.8.2013 wirksam erfolgt, wenn die Prozessbevollmächtigte des Klägers an diesem Tag nicht im Büro gewesen sein sollte und das Urteil deshalb nicht vor dem 27.8.2013 gelesen habe konnte.
6Mit dieser Rechtsauffassung befindet sich das LSG in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BSG (vgl zB - SozR 4-1500 § 164 Nr 2 RdNr 4 bis 6) und der anderen obersten Gerichtshöfe des Bundes. Danach erbringt das datierte und unterschriebene EB Beweis für die Entgegennahme des darin bezeichneten Schriftstücks als zugestellt und auch für den Zeitpunkt dieser Entgegennahme. Der Gegenbeweis der Unrichtigkeit der im EB enthaltenen Angaben ist zulässig; er ist jedoch nur dann geführt, wenn die von dem EB ausgehende Beweiswirkung vollständig entkräftet und jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass die Angaben des EB richtig sind (BSG SozR 3-1500 § 164 Nr 13; BGH LM ZPO 212a Nr 29 = NJW 1996, 2514 mwN; BGH NJW 2009, 855; BVerfG NJW 2001, 1563). Der Gegenbeweis ist nicht schon dann erbracht, wenn die Möglichkeit der Unrichtigkeit besteht, die Richtigkeit der Angaben also nur erschüttert ist (BSG SozR 4-1500 § 164 Nr 2 RdNr 4).
7Der Darstellung von Rechtsanwältin A., sie habe das SG-Urteil erst am 28.8.2013 zur Kenntnis genommen und demgemäß auch erst an diesem Tag mit Empfangswillen entgegengenommen, und auch das EB sei tatsächlich erst am 28.8.2013 unterschrieben worden, ist nicht geeignet, die Unrichtigkeit des auf den 26.8.2013 lautenden EB zu beweisen. Den Ausführungen liegt allerdings die rechtlich zutreffende Überlegung zugrunde, dass ein Rechtsanwalt grundsätzlich selbst den Zeitpunkt bestimmt, zu dem er das mit EB übersandte Schriftstück als zugestellt entgegennimmt, und dass die Zustellung erst bewirkt ist, wenn der Zustellungsempfänger das Schriftstück mit dem Willen entgegengenommen hat, es als zugestellt zu behandeln.
8Ein Geschehensablauf, der eine Zustellung an dem im EB angegebenen Tag ausschließt und damit die Unrichtigkeit des EB beweist, ist indessen weder dem Beschwerdevorbringen noch der eidesstattlichen Versicherung der Prozessbevollmächtigten vom 25.10.2013 zu entnehmen. Die für die Bestimmung des Zustellungszeitpunkts notwendige Willensentschließung des Zustellungsempfängers ist nicht an bestimmte äußere Merkmale oder Vorgänge, zB die Entgegenahme des Schriftstückes, seine erstmalige Lektüre, die Eintragung von Fristen oder den Beginn der Sachbearbeitung, geknüpft. Sie erfordert nicht einmal, dass der Betreffende sich mit dem Schriftstück überhaupt befasst, es angesehen oder sich Gedanken über seinen Inhalt gemacht hat. Auch eine ganztägige Ortsabwesenheit schließt es nicht aus, dass ein Rechtsanwalt die an diesem Tag in der Kanzlei eingegangene Post gleichwohl auch ungelesen als zugestellt behandelt wissen wollte. Da der Zeitpunkt der erforderlichen Willensentschließung, soweit er sich nicht nach außen manifestiert, für einen Außenstehenden nicht feststellbar ist, kann der Beweis der Unrichtigkeit des EB nicht allein dadurch erbracht werden, dass der Zustellungsempfänger, sei es auch als Zeuge im Prozess, später einen abweichenden Zeitpunkt behauptet (BSG SozR 4-1500 § 164 Nr 2 RdNr 6).
9Es mag zutreffen, dass eine unrichtige Datierung des EB wegen der Abhängigkeit des Zustellungszeitpunkts von einem inneren Willensentschluss des Zustellungsempfängers nur selten zu beweisen sein wird. Gerade das erfordert eine besondere Sorgfalt bei der Ausfüllung des EB. Ein Rechtsanwalt kann das Fehlerrisiko dadurch gering halten, dass er das Datum auf dem Vordruck zu dem von ihm gewählten Zeitpunkt selbst einträgt. Das ist hier nicht geschehen.
10Unterschreibt er - wie vom LSG angenommen - das dem Vorgang beigefügte Formular blanko und überlässt die anschließende Datierung dem Büropersonal, geht es zu seinen Lasten, wenn sich ein abweichender Zustellungszeitpunkt nicht nachweisen lässt. Unterzeichnet er ein EB, auf dem als Zustellungsdatum der Tag des Eingangs des Schriftstücks in der Kanzlei bereits vermerkt ist, billigt er unmittelbar die Gleichstellung des Eingangszeitpunkts mit dem Empfangnahmezeitpunkt. Von einem solchen Geschehen geht offenbar der Kläger aus; denn er hat vorgetragen, Rechtsanwältin A. habe nach eigener Auskunft "wohl in Unkenntnis über die Gegebenheiten beim Empfang" den 26.8.2013 irrtümlich bestätigt (vgl Schriftsatz vom 24.10.2013). Eine solche "Bestätigung" des 26.8.2013 setzt voraus, dass das EB bereits mit diesem Datum versehen war, als die Prozessbevollmächtigte es unterschrieb.
11Hinzu kommt im vorliegenden Fall, dass weder vom Kläger noch von Rechtsanwältin A. vorgetragen worden ist, das Büropersonal habe weisungswidrig oder irrtümlich gehandelt, als das EB mit dem Datum 26.8.2013, also dem Tag des Eingangs des SG-Urteils in der Kanzlei, versehen wurde. Es obliegt der Dispositionsbefugnis eines Rechtsanwalts, ob er generell das Datum des Eingangs eines Schriftstücks zu den normalen Kanzleiöffnungszeiten als Zeitpunkt der Empfangnahme gelten lassen will und so im Einzelfall auch erst später zur Kenntnis genommene Schriftstücke als bereits früher zugestellt angesehen werden müssen. Eine solche Praxis würde im Übrigen auch nur jenen Rechtszustand bewirken, der bei der Zustellung eines Schriftstücks auf dem Postwege eintritt (§ 63 Abs 2 SGG iVm §§ 168, 172 ZPO). Die Zustellung gilt mit jenem Zeitpunkt als erfolgt, der auf der Zustellungsurkunde vermerkt ist (§ 63 Abs 2 SGG iVm § 182 ZPO); auf den Zeitpunkt der tatsächlichen Kenntnisnahme durch den Empfänger kommt es nicht an.
12Zureichende Anhaltspunkte für einen "Erklärungsirrtum" von Rechtsanwältin A. gibt es nicht. Ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 25.10.2013 kann auch keine entsprechende "Anfechtungserklärung" entnommen werden. Zudem ist die Erteilung eines EB eine Prozesshandlung. Die zivilrechtlichen Vorschriften über die Anfechtung von Willenserklärungen nach den §§ 119 ff BGB sind aus Gründen der Rechtssicherheit auf Prozesshandlungen weder unmittelbar noch analog anwendbar. Auch die Erteilung eines mit einem unrichtigen Datum ausgefüllten EB kann daher nicht gemäß §§ 119 ff BGB angefochten werden (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, Vor § 60 RdNr 12; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 73. Aufl 2015, Grundzüge § 128 RdNr 56 mwN und § 174 RdNr 11).
132. Auch im Zusammenhang mit der Ablehnung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG) wegen Versäumung der Berufungsfrist ist dem LSG kein Verfahrensfehler unterlaufen. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob insoweit die formellen Anforderungen an die Darlegung eines Verfahrensfehlers überhaupt erfüllt worden sind. Die Ansicht des LSG, die Berufungsfrist sei nicht ohne Verschulden versäumt worden, trifft jedenfalls zu.
14Dabei kann die Frage offenbleiben, ob dem Kläger selbst - so das LSG - ein Fahrlässigkeitsvorwurf zu machen ist, weil er sich über den tatsächlichen Beginn der Berufungsfrist durch Nachfrage hätte Gewissheit verschaffen müssen und die Berufung erst kurz vor dem Ende der von ihm angenommenen Frist eingelegt habe. Denn er muss sich jedenfalls die fehlerhafte, wenigstens aber unklare Auskunft von Rechtsanwältin A. aus dem Übersendungs- und Hinweisschreiben vom 28.8.2013, gegen das SG-Urteil könne innerhalb eines Monats Berufung eingelegt werden, zurechnen lassen (§ 73 Abs 6 Satz 7 SGG iVm § 85 Abs 2 ZPO). Die Auskunft war objektiv unrichtig, zumindest aber missverständlich, weil nach dem maßgebenden Empfängerhorizont der Eindruck erweckt wurde, dass das beigefügte und keinen Eingangsstempel aufweisende SG-Urteil am 28.8.2013 in der Kanzlei eingegangen war und es daher bis zum 28.9.2013 anfechtbar war. Ohne die gesonderte Angabe des exakten Fristbeginns oder des Fristendes musste ein juristischer Laie wie der Kläger der Auskunft entnehmen, die Berufungsfrist beginne mit dem Datum des Schreibens. Diese Fahrlässigkeit bei der Abfassung des Schreibens vom 28.8.2013 muss sich der Kläger zurechnen lassen (§ 73 Abs 6 Satz 7 SGG iVm § 85 Abs 2 ZPO), weil das Mandatsverhältnis zu Rechtsanwältin A. erst nach dem Zugang dieses Schreibens beim Kläger endete. Dass der Kläger ursprünglich davon ausging, die Berufungsfrist beginne sogar erst am 31.8.2013 mit dem Zugang des SG-Urteils bei ihm (vgl Niederschrift des ), beruht auf einer Fehldeutung, die letztlich ebenfalls durch das Schreiben vom 28.8.2013 ausgelöst worden ist und durch eine klare Auskunft über den Fristbeginn vermieden worden wäre.
153. Auch die Entscheidung des LSG, die Berufung durch Beschluss als unzulässig zu verwerfen (§ 158 Satz 1 und 2 SGG), ist verfahrensrechtlich nicht zu beanstanden. Zwar ist die Möglichkeit, ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, in das Ermessen des Berufungsgerichts gestellt (§ 158 Satz 2 SGG), wobei diese Möglichkeit generell eng und in einer für die Beteiligten schonenden Weise zu handhaben ist (BSG SozR 4-1500 § 158 Nr 2 RdNr 7 bis 9); im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde kann die Ermessensentscheidung aber nur darauf überprüft werden, ob das Gericht von seinem Ermessen erkennbar fehlerhaft Gebrauch gemacht hat (Keller, aaO, § 158 RdNr 7). Das war hier nicht der Fall. Insbesondere ist dem prozessualen Grundsatz, dass ein Kläger sich während eines Rechtsstreits zumindest einmal in einer mündlichen Verhandlung äußern können muss, Rechnung getragen worden, weil in erster Instanz mündlich verhandelt worden ist (vgl Sitzungsniederschrift des ). Der Kläger ist auch vom LSG zum beabsichtigten Vorgehen nach § 158 Satz 1 SGG angehört und auf das Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG) hingewiesen worden (vgl Verfügung vom 2.10.2013). Zu der Ansicht des LSG, die Berufung sei wegen Fristversäumung unzulässig, konnte der Kläger sich bis zum 8.11.2013 äußern und etwaige Entschuldigungsgründe vortragen. Damit hat das LSG seiner Anhörungspflicht (§ 62 SGG) Genüge getan (BSG SozR 4-1500 § 158 Nr 3 RdNr 9). Eines zusätzlichen Hinweises auf die Absicht, ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss (§ 158 Satz 2 SGG) entscheiden zu wollen, bedurfte es nicht (Keller, aaO, § 158 RdNr 8).
16Ungeachtet der vom LSG zutreffend festgestellten Unzulässigkeit der Berufung gibt der Fall Anlass zu dem Hinweis, dass das die Klage abweisende inhaltlich nicht zu beanstanden sein dürfte (vgl § 7 Abs 2 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie).
17Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstelle(n):
HAAAE-87553