Strafverfahren wegen Kindesmissbrauchs: Veränderung des in der Anklage angegebenen Tatzeitpunktes
Gesetze: § 264 StPO, § 265 StPO, § 176 StGB
Instanzenzug: LG Waldshut-Tiengen Az: 4 KLs 22 Js 4373/10 JugS
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in vier Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Es hat bestimmt, dass von der Gesamtfreiheitsstrafe wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung fünf Monate als vollstreckt gelten. Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision des Angeklagten mit näheren Ausführungen zum materiellen Recht. Das Rechtsmittel führt zur Einstellung des Verfahrens, soweit der Angeklagte im Fall II. 1. wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes verurteilt worden ist und zu einer entsprechenden Änderung des Schuldspruchs; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
I.
21. Hinsichtlich der unter II. 1. der Urteilsgründe abgeurteilten Straftat fehlt es an der Verfahrensvoraussetzung der Anklageerhebung. Mit der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage vom wurde dem Angeklagten vorgeworfen, in der Zeit vom bis zum seine am geborene Stieftochter H. in der Familienwohnung mindestens einmal pro Monat, insgesamt also mindestens zehn Mal, über der Kleidung am Geschlechtsteil angefasst zu haben (Ziffern 2 bis 11 der Anklage).
3Gegenstand der Verurteilung durch das Landgericht ist eine diesem Tatbild entsprechende Tat im Mai oder Juni 2010. Das Landgericht hat in der Hauptverhandlung „9 der 10 Fälle Ziffern 2 bis 11 der Anklage gemäß § 154 StPO eingestellt" und den rechtlichen Hinweis erteilt, „dass bei einer Tat der Anklagepunkte 2 bis 11 eine Tatzeit im Mai 2010 in Betracht kommt".
4a) Der abgeurteilte Fall des sexuellen Missbrauchs zum Nachteil der Nebenklägerin war von der zugelassenen Anklage nicht umfasst.
5Gemäß § 264 Abs. 1 StPO ist Gegenstand der Urteilsfindung die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlung darstellt. Gegenstand der zugelassenen Anklage sind u.a. zehn Taten in der oben näher beschriebenen Ausführung in der Zeit vom bis zum . Auf diese Taten erstreckte sich die Kognitionspflicht des Gerichts. Die abgeurteilte Straftat betrifft einen anderen Zeitraum. Zwar braucht eine Veränderung oder Erweiterung des Tatzeitraums die Identität zwischen Anklage und abgeurteilter Tat nicht aufzuheben (vgl. , BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 Tat 8), wenn die in der Anklage beschriebene Tat unabhängig von der Tatzeit nach anderen Merkmalen individualisiert und dadurch weiterhin als einmaliges, unverwechselbares Geschehen gekennzeichnet ist (st. Rspr., vgl. Rn. 4; Urteil vom - 4 StR 245/00, BGHSt 46, 130, 133; Beschluss vom - 3 StR 43/96, BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 Tat 19). Bei gleichartigen, nicht durch andere individuelle Tatmerkmale als die Tatzeit unterscheidbaren Serientaten heben dagegen Veränderungen und Erweiterungen des Tatzeitraumes die Identität zwischen angeklagten und abgeurteilten Taten auf.
6So verhält es sich im abgeurteilten Fall II. 1. der Urteilsgründe. Die angeklagten Taten sind durch eine jeweils gleichförmige Tatausführung an einem jeweils identischen Tatort gekennzeichnet und nicht auf andere Weise unabhängig von der Tatzeit nach individuellen Merkmalen unverwechselbar charakterisiert. Insofern kommt dem in der Anklageschrift genannten Tatzeitraum eine wesentliche, die Kognitionspflicht des Gerichts im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO bestimmende und vor allem begrenzende Funktion zu.
7b) Da eine Nachtragsanklage nicht erhoben ist, muss das Verfahren im Fall II. 1. der Urteilsgründe wegen des von Amts wegen zu beachtenden Verfahrenshindernisses fehlender Anklage eingestellt werden. Die Einstellung des Verfahrens bedingt eine entsprechende Änderung des Schuldspruchs.
82. Die Verurteilung wegen tateinheitlicher fahrlässiger Körperverletzung im Fall II. 3. der Urteilsgründe ist zu Recht erfolgt. Eine Verfahrensrüge ist nicht erhoben. Jedenfalls ist die fahrlässige Körperverletzung zum Nachteil von G. wieder in das Verfahren einbezogen worden, wie sich aus dem Vermerk des Vorsitzenden vom ergibt.
93. Hinsichtlich einer fahrlässigen Körperverletzung zum Nachteil von H. ist das Landgericht entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts seiner Kognitionspflicht nachgekommen. Es hat ausdrücklich fest- gestellt, dass der Angeklagte bei H. keine Verletzungen verursacht hat (UA 9).
II.
101. Eine etwa erhobene Aufklärungsrüge entspricht nicht den Anforderungen von § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO:
11Nach Ansicht des Revisionsführers hätte „dringender Anlass" bestanden, durch einen Sachverständigen feststellen zu lassen, inwieweit der Angeklagte für die vorgeworfenen Taten strafrechtlich verantwortlich im Sinne der §§ 20 und 21 StGB sei. Das Gericht habe die evidenten Persönlichkeitsdefizite des Angeklagten nicht zum Anlass genommen, genauer zu hinterfragen, inwieweit er noch in der Lage gewesen sei, das Unrecht seines Handelns zu verstehen und dagegen anzusteuern.
12Selbst wenn dem das zu erwartende Beweisergebnis einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit noch entnommen werden kann (vgl. Sander/Cirener, NStZ-RR 2008, 4 f.; Gericke in KK-StPO, 7. Aufl., § 344 Rn. 51 jeweils mwN), ist dieses jedenfalls nicht bestimmt behauptet (vgl. , NStZ 2004, 112).
132. Die Nachprüfung des Urteils auf die Sachrüge hat keinen durchgreifenden Rechtsfehler aufgezeigt.
14Das Landgericht hat eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit mit tragfähigen Erwägungen zum Ausmaß der alkoholischen Beeinflussung bei den Taten verneint. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt musste es nicht erörtern, weil aufgrund der Feststellungen zur Persönlichkeit des Angeklagten sicher ausgeschlossen werden kann, dass beim Angeklagten die hinreichend konkrete Aussicht eines Behandlungserfolgs besteht (vgl. hierzu BVerfG, StV 1994, 594).
15Die Beanstandungen, mit denen sich die Revision gegen die Strafzumessung wendet, sind offensichtlich unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO. Revisionsrechtlich unbedenklich ist auch, dass das Landgericht dem Angeklagten die Aussetzung der Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung versagt hat. Die gemäß § 56 Abs. 1 StGB getroffene negative Prognoseentscheidung des Landgerichts hält rechtlicher Nachprüfung stand. Dass es hierbei den Zeitablauf seit den Taten aus dem Blick verloren haben könnte, ist angesichts der ausdrücklichen Berücksichtigung dieses Umstands bei der Strafzumessung und der Erörterung der Alkoholtherapie im Jahre 2011 bei der Prognoseentscheidung auszuschließen.
III.
16Die Gesamtfreiheitsstrafe bleibt trotz Einstellung des Tatvorwurfs zu II. 1. der Urteilsgründe bestehen. Angesichts der Einsatzstrafe von einem Jahr und drei Monaten sowie der verbleibenden Einzelstrafen kann der Senat ausschließen, dass der Tatrichter ohne die wegen der Verfahrenseinstellung im Fall II. 1. der Urteilsgründe entfallende Einzelstrafe von zehn Monaten eine geringere Gesamtfreiheitsstrafe verhängt hätte.
17Im Hinblick auf den nur geringen Teilerfolg der Revision ist es nicht unbillig, den Beschwerdeführer mit den gesamten Kosten und Auslagen seines Rechtsmittels zu belasten (§ 473 Abs. 1 und 4 StPO).
Sost-Scheible Roggenbuck Cierniak
Mutzbauer Bender
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Fundstelle(n):
PAAAE-82744