BAG Urteil v. - 10 AZR 583/13

Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall - tarifvertraglicher Referenzzeitraum von 182 Tagen - Berücksichtigung bezahlter Ausfallzeiten

Gesetze: § 4 Abs 4 S 1 EntgFG, § 1 TVG

Instanzenzug: ArbG Mannheim Az: 5 Ca 170/12 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg Az: 13 Sa 6/13 Urteil

Tatbestand

1Der Kläger begehrt von der Beklagten weitere Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.

2Der Kläger ist bei der Beklagten, einem Unternehmen des Wach- und Sicherheitsgewerbes, als Wachmann im Separatwachdienst beschäftigt.

3Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien fanden im streitgegenständlichen Zeitraum der für allgemeinverbindlich erklärte Lohntarifvertrag für das Wach- und Sicherheitsgewerbe in Baden-Württemberg vom sowie der für allgemeinverbindlich erklärte Mantelergänzungstarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer des Wach- und Sicherheitsgewerbes in Baden-Württemberg vom (im Folgenden: METV) Anwendung.

4Zur Entgeltfortzahlung enthält der METV die folgende Regelung:

5Der Kläger war vom 22. Februar bis zum arbeitsunfähig erkrankt. Die Beklagte stellte zur Berechnung der Höhe der Entgeltfortzahlungsansprüche des Klägers für Februar und März 2012 die Anzahl der täglich geleisteten Arbeitsstunden in den sechs dem jeweiligen Abrechnungsmonat vorausgegangenen Monaten fest und teilte diese jeweils durch 182. Sie leistete an den Kläger für Februar 2012 Entgeltfortzahlung in Höhe von 514,74 Euro brutto und für März 2012 in Höhe von 606,32 Euro brutto.

6Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die wegen Urlaubs oder Arbeitsunfähigkeit ausgefallenen Tage in den Referenzzeiträumen seien bei der Berechnung ebenfalls in Ansatz zu bringen, so dass ihm weitere Entgeltfortzahlung für Februar und März 2012 zustehe.

7Der Kläger hat zuletzt, soweit für das Revisionsverfahren von Interesse, beantragt,

8Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und gemeint, aus dem Wortlaut des § 8 Abs. 1.2. METV ergebe sich, dass nur die Zeiten mit tatsächlicher Arbeitsleistung im Referenzzeitraum zu berücksichtigen seien. Die daraus folgende Nichtberücksichtigung der Urlaubs- und Arbeitsunfähigkeitstage werde ua. durch die Einbeziehung von Zulagen und Zuschlägen in die Entgeltfortzahlung ausgeglichen.

9Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben der Klage, soweit sie in der Revision noch anhängig ist, stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte weiterhin Klageabweisung.

Gründe

10Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass dem Kläger weitere Entgeltfortzahlung in Höhe von 134,30 Euro brutto für den Zeitraum vom 22. bis zum und in Höhe von 115,39 Euro brutto für die Zeit vom 1. bis zum zuzüglich der Zinsen zusteht.

11I. Der Anspruch des Klägers auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für die Zeit vom 22. Februar bis zum ergibt sich dem Grunde nach aus § 8 Abs. 1. METV iVm. § 3 Abs. 1 EFZG. Die Höhe des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall folgt aus § 8 Abs. 1.1. und Abs. 1.2. METV. Das Landesarbeitsgericht hat diese Regelung rechtsfehlerfrei dahin gehend ausgelegt, dass für die Berechnung des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts zunächst die von dem arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmer tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden in den sechs Monaten vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zu ermitteln sind. Der sich hieraus ergebende Dividend ist sodann durch den Divisor 182 zu teilen, wobei dieser um die Anzahl der bezahlten urlaubs- und krankheitsbedingten Ausfalltage im Referenzzeitraum zu vermindern ist. Der so berechnete Quotient gibt die Anzahl der durchschnittlichen kalendertäglichen Arbeitsstunden der letzten sechs Monate an. Diese ist sodann mit der Anzahl der Kalendertage der Arbeitsunfähigkeit und den in § 8.1.1. METV aufgeführten Entgeltbestandteilen zu multiplizieren. Das Produkt ist die Höhe des dem Arbeitnehmer kalendertäglich fortzuzahlenden Entgelts.

121. Die Auslegung des § 8 Abs. 1.2. METV ergibt zunächst, dass für die Berechnung der Entgeltfortzahlung nur die in den letzten sechs Monaten tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden anzusetzen sind.

13a) Für ein solches Tarifverständnis spricht bereits der Wortlaut des § 8 Abs. 1.2. METV, von dem vorrangig auszugehen ist (st. Rspr., vgl. zB  - Rn. 33). Danach richtet sich das fortzuzahlende Entgelt nach der „für den Arbeitnehmer durchschnittlichen Arbeitszeit der letzten 6 Monate“. „Arbeitszeit“ ist nach allgemeinem Sprachgebrauch die Zeitspanne, die für die Erbringung der Arbeitsleistung vorgesehen ist. Dem entspricht § 2 Abs. 1 Satz 1 ArbZG, wonach „Arbeitszeit“ die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen ist. Zeiten bezahlter Freistellung von der Arbeit sind grundsätzlich keine Arbeitszeit (vgl.  - zu I 1 b bb (1) der Gründe, BAGE 111, 204). Da nach dem weiteren Wortlaut der Regelung ein sechsmonatiger Referenzzeitraum maßgeblich für die Berechnung der Entgeltfortzahlung ist, lässt § 8 Abs. 1.2. METV keinen Raum für die Einbeziehung von bezahlten Ausfallstunden bei der Bemessung der „durchschnittlichen Arbeitszeit“ (vgl.  - zu III der Gründe).

14b) Der sich aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang und seiner Systematik ergebende Zweck der Tarifnorm stützt das am Wortlaut orientierte Auslegungsergebnis.

15aa) Ebenso wie § 8 Abs. 1.2. METV geht auch § 2 Abs. 1. METV, der die Mehrarbeit definiert, von dem Grundverständnis aus, dass die „regelmäßige tägliche Arbeitszeit“ eine Zeit mit tatsächlicher Arbeitsleistung ist. Allein für die Urlaubsentgeltberechnung wird gemäß § 6 Abs. 3. METV pauschal auf den Bruttoverdienst der letzten drei abgerechneten Monate vor Urlaubsantritt abgestellt mit der Folge, dass auch bezahlte Ausfallzeiten wegen Urlaubs oder Krankheit in die Berechnung einfließen. Aus der Regelung in § 8 Abs. 1.4. METV ergibt sich jedoch, dass dieses Referenzprinzip nicht für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall gilt. Dort ist für den Fall einer Erkrankung während des Erholungsurlaubs angeordnet, dass sich die Berechnung der Entgeltfortzahlung nach § 8 Abs. 1.1. iVm. Abs. 1.2. METV richtet.

16bb) Indem § 8 Abs. 1.2. METV allein auf die tatsächliche individuelle Arbeitsleistung des erkrankten Arbeitnehmers in einem sechsmonatigen Referenzzeitraum abstellt, haben Arbeitnehmer mit kontinuierlich hohen Einsatz- und geringen Abwesenheitszeiten einen hohen Entgeltfortzahlungsanspruch im Krankheitsfall. Der damit offenkundig verfolgte Zweck, dass sich die erbrachte hohe Arbeitsleistung unmittelbar auf die Höhe der Entgeltfortzahlung auswirken soll, wird durch die Einbeziehung der geleisteten Mehrarbeitsstunden und -zuschläge bei der Bemessung der Entgeltfortzahlung gemäß § 8 Abs. 1.1. METV noch verstärkt. Die Berücksichtigung von bezahlten urlaubs- und krankheitsbedingten Fehlzeiten im Referenzzeitraum wäre mit dieser Zielsetzung nicht vereinbar.

172. Der Nichtberücksichtigung der bezahlten urlaubs- und krankheitsbedingten Ausfallzeiten im Referenzzeitraum ist durch eine Verminderung des in § 8 Abs. 1.2. METV bezeichneten Divisors 182 um die Anzahl dieser bezahlten Ausfalltage Rechnung zu tragen. Das folgt aus dem Regelungszweck sowie einer gesetzeskonformen Auslegung der Tarifnorm.

18a) Der Wortlaut des § 8 Abs. 1.2. METV steht einer Reduzierung des Divisors 182 um die Anzahl der bezahlten Ausfalltage im Referenzzeitraum nicht entgegen. Der Divisor 182 entspricht abgerundet der durchschnittlichen Anzahl der Kalendertage in dem nach § 8 Abs. 1.2. METV maßgeblichen Referenzzeitraum von sechs Monaten. Der Wortlaut des § 8 Abs. 1.2. METV deutet darauf hin, dass er auf die Fallgestaltungen zugeschnitten ist, in denen in den Referenzzeitraum nur bezahlte Arbeitstage fallen. Ihm kann jedoch nicht entnommen werden, dass der Divisor 182 zwingend auch in den Fällen anzuwenden ist, in denen im Referenzzeitraum auch bezahlte Urlaubs- und Krankheitstage ohne Arbeitsleistung liegen.

19b) Der sich aus der Tarifsystematik ergebende Zweck des § 8 Abs. 1.2. METV gebietet, den Divisor 182 um die in den Referenzzeitraum fallenden bezahlten urlaubs- und krankheitsbedingten Ausfallzeiten zu reduzieren.

20aa) Die in § 8 Abs. 1.2. METV vorgegebene Berechnungsweise stellt allein auf die individuell ermittelten kalendertäglichen Arbeitszeiten im Referenzzeitraum ab, dh. es muss anhand der konkreten individuellen Daten auf mathematisch korrektem Weg ein Durchschnitt als Dividend ermittelt werden. Da bezahlte Ausfallzeiten im Referenzzeitraum nicht als „Arbeitszeit“ berücksichtigt werden, haben diese Zeiten keinen Einfluss auf die Berechnung des Dividenden. Wird allerdings der Divisor 182 nicht ebenfalls um die Anzahl der bezahlten Ausfallzeiten vermindert, würde sich dies stets negativ auf die Höhe der Entgeltfortzahlung auswirken. Ein Arbeitnehmer, der im Referenzzeitraum fünf Monate lang durchschnittlich 180 Stunden gearbeitet und einen Monat Urlaub hatte, würde im Krankheitsfall so gestellt, als hätte er durchschnittlich nur 150 Stunden im Monat gearbeitet.

21bb) Dies macht deutlich, dass der Durchschnittswert verfälscht wird, wenn die bezahlten Ausfallzeiten nur bei der Berechnung des Dividenden, nicht aber auch beim Divisor berücksichtigt werden. Ein solches Ergebnis widerspräche nicht nur den Grundregeln der Arithmetik, sondern auch dem Zweck des § 8 Abs. 1.2. METV, kontinuierlich hohe Arbeitseinsätze im Rahmen der Entgeltfortzahlung zu honorieren. Daher muss auch der Divisor um die bezahlten Ausfallzeiten verringert werden (vgl.  - Rn. 18 [zu § 21 Satz 2 TVöD]; - 5 AZR 40/87 - zu II 2 b der Gründe [zu § 12 MTV für gewerbliche Arbeitnehmer der Druckindustrie im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vom ]).

22c) Hinzu kommt, dass § 8 Abs. 1.2. METV nur in dieser Auslegung gesetzeskonform ist.

23aa) Aus dem Wortlaut des § 8 Abs. 1. METV, wonach die folgenden Regelungen „Abweichungen zur Höhe“ des nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz fortzuzahlenden Arbeitsentgelts enthalten, ergibt sich, dass die Tarifvertragsparteien von der Möglichkeit nach § 4 Abs. 4 Satz 1 EFZG Gebrauch gemacht haben, durch Tarifvertrag eine von § 4 Abs. 1, Abs. 1a und Abs. 3 EFZG abweichende Bemessungsgrundlage des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts festzulegen. Hierzu gehören sowohl die Berechnungsmethode (Ausfall- oder Referenzprinzip) als auch die Berechnungsgrundlage. Bei der Gestaltung der Bemessungsgrundlage müssen die Tarifvertragsparteien darauf achten, dass sie weder unmittelbar noch mittelbar gegen die anderen, nach § 12 EFZG zwingenden und nicht tarifdispositiven Bestimmungen des Entgeltfortzahlungsgesetzes verstoßen. Die Gestaltungsmacht der Tarifvertragsparteien findet dort ihre Grenze, wo der Anspruch auf Entgeltfortzahlung in seiner Substanz angetastet wird ( - Rn. 18).

24bb) Der METV modifiziert die Berechnungsmethode des Entgeltfortzahlungsgesetzes, indem § 8 Abs. 1.2. METV das gesetzliche Entgeltausfallprinzip durch ein auf sechs Kalendermonate abstellendes Referenzprinzip ersetzt. Zur Berechnung der Entgeltfortzahlung ist zunächst die Anzahl der in den letzten sechs Monaten geleisteten Arbeitsstunden zu ermitteln und dann durch 182 zu dividieren. Hieraus errechnet sich als Quotient die Anzahl der durchschnittlichen kalendertäglichen Arbeitsstunden der letzten sechs Monate. Wird diese mit den in § 8 Abs. 1.1. METV aufgeführten Entgeltbestandteilen multipliziert, ergibt sich die Höhe des kalendertäglich fortzuzahlenden Entgelts. Mit dieser auf Kalendertage bezogenen Durchschnittsberechnung trägt der Tarifvertrag dem Umstand Rechnung, dass im Wach- und Sicherheitsgewerbe stark schwankende tägliche und wöchentliche Arbeitszeiten bestehen. Die uneingeschränkte starre Anwendung des Divisors 182 würde jedoch den gesetzlichen Anspruch auf Entgeltfortzahlung in seiner Substanz beeinträchtigen. Dieser betrüge schon bei nur einem Krankheitstag im Referenzzeitraum nicht mehr 100 % des durchschnittlich durch Arbeitsleistung verdienten Entgelts des erkrankten Arbeitnehmers im Referenzzeitraum. Eine Regelung solchen Inhalts würde die Grenzen der Gestaltungsmöglichkeiten der Tarifvertragsparteien überschreiten und wäre gesetzeswidrig.

25cc) Entgegen der Auffassung der Revision kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Tarifvertragsparteien den Entgeltfortzahlungsanspruch bewusst um vorangegangene bezahlte urlaubs- und krankheitsbedingte Ausfallzeiten gekürzt und im Gegenzug die Einbeziehung von Lohnzulagen, Mehrarbeitsstunden und Mehrarbeitszuschlägen (§ 8 Abs. 1.1. METV) und die Zahlung von Urlaubsgeld (§ 6 Abs. 7. METV) vorgesehen haben. Diese Leistungen bezwecken erkennbar nicht die Aufstockung der Entgeltfortzahlung auf 100 % für den Fall, dass bezahlte Ausfallzeiten in den Referenzzeitraum fallen, da sie auch dann anfallen, wenn es keine bezahlten Ausfallzeiten gibt.

263. Der vorliegende Fall bietet keinen Anlass zur Entscheidung der von der Revision aufgeworfenen Frage, wie der Entgeltfortzahlungsanspruch zu berechnen ist, wenn der Referenzzeitraum überwiegend oder ausschließlich durch bezahlte Ausfalltage ausgefüllt wird. In beiden hier maßgeblichen Referenzzeiträumen lag der Anteil der bezahlten Ausfalltage unter 25 %, so dass kein Grund für die Befürchtung besteht, das Referenzprinzip werde ausgehebelt. Ebenso wenig hatte der Senat darüber zu befinden, ob der Divisor auch um unbezahlte arbeitsfreie Tage im Referenzzeitraum zu vermindern ist.

274. Die Höhe des Entgeltfortzahlungsanspruchs hat das Landesarbeitsgericht festgestellt. Dagegen hat die Revision keine Verfahrensrügen erhoben.

28II. Der Zinsanspruch ergibt sich aus § 288 Abs. 1, § 291 BGB.

29III. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen, § 97 Abs. 1 ZPO.

Fundstelle(n):
BB 2015 S. 52 Nr. 1
LAAAE-80061