Untersagung einer NPD-Versammlung in Trier am Holocaust-Gedenktag 2012
Leitsatz
1. Auch Gründe der öffentlichen Ordnung berechtigen zum Erlass eines Versammlungsverbots, wenn Gefahren nicht aus dem Inhalt, sondern aus der Art und Weise der Durchführung der Versammlung drohen, sofern Auflagen zur Gefahrenabwehr nicht ausreichen (im Anschluss an BVerfGE 111, 147 <156 f.>).
2. Verfügt eine Behörde wegen unmittelbarer Gefährdung der öffentlichen Ordnung eine versammlungsrechtliche Beschränkung gegenüber einer politischen Partei, stützt sie ihr Einschreiten nicht auf eine vermeintliche Verfassungsfeindlichkeit des Verhaltens oder der Programmatik dieser Partei.
3. Für eine Versammlungsbeschränkung aus Gründen der öffentlichen Ordnung reicht es nicht aus, dass die Durchführung einer Versammlung am Holocaust-Gedenktag (27. Januar) in irgendeinem, beliebigen Sinne als dem Gedenken zuwiderlaufend zu beurteilen ist. Vielmehr ist die Feststellung erforderlich, dass von der konkreten Art und Weise der Versammlung Provokationen ausgehen, die das sittliche Empfinden der Bürger erheblich beeinträchtigen (im Anschluss an - juris Rn. 7). Diese Feststellung setzt voraus, dass die Versammlung eine den Umständen nach eindeutige Stoßrichtung gegen das Gedenken erkennen lässt, etwa diesem nicht den ihm aus Sicht der Mitbürger gebührenden Stellenwert belässt, insbesondere dessen Sinn oder moralisch-ethischen Wert negiert, oder in anderer Weise dem Anspruch der Bürger entgegenwirkt, sich ungestört dem Gedenken zuwenden zu können, ohne hierbei erheblichen Provokationen ausgesetzt zu sein.
4. Für den Grundrechtsträger besteht keine Obliegenheit, für die Bestimmung des Versammlungszeitpunkts Gründe zu liefern. Sind solche Gründe für die Versammlungsbehörde oder nach deren Einschätzung aus Sicht der Mitbürger nicht erkennbar bzw. nicht nachvollziehbar, reicht die hieraus hergeleitete Wahrnehmung, der Grundrechtsträger suche die Präsenz lediglich um ihrer selbst willen, grundsätzlich nicht für die Anordnung einer Versammlungsbeschränkung am Holocaust-Gedenktag mit der Begründung aus, von der Versammlung würden Provokationen ausgehen, die das sittliche Empfinden der Bürger erheblich beeinträchtigen.
Gesetze: § 15 Abs 1 VersammlG, Art 8 Abs 1 GG
Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz Az: 7 A 10821/12 Urteilvorgehend VG Trier Az: 1 K 180/12.TR Urteil
Tatbestand
1Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass die von der Beklagten angeordnete Verlegung einer für den - dem jährlichen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus ("Holocaust-Gedenktag") - angemeldeten Versammlung auf den Folgetag rechtswidrig war.
2Der Vorsitzende des Kreisverbands Trier der Klägerin meldete am für den eine Versammlung in Form einer Mahnwache unter dem Motto "Von der Finanz- zur Eurokrise - zurück zur D-Mark heißt unsere Devise" an. Die Versammlung sollte in der Trierer Innenstadt stattfinden. Als Anlass der Veranstaltung wurde ein für den angekündigter Vortrag von Prof. Max O. im Bischöflichen Priesterseminar Trier mit dem Thema "Von der Finanz- zur Eurokrise" angegeben. Es sollten als Hilfsmittel Megafon, Fahnen und Spruchbänder verwendet werden. 15 Versammlungsteilnehmer würden erwartet werden.
3Auf Nachfrage der Beklagten erklärte sich der Anmelder mit einem alternativen Versammlungsort in der Trierer Innenstadt einverstanden, nicht aber mit einer Verlegung auf einen anderen Tag.
4Unter Anordnung der sofortigen Vollziehung verfügte die Beklagte am die Verlegung der Versammlung auf den . Die Verfügung stelle eine Auflage dar, die zum Schutz der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt sei. Der 27. Januar, der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, diene seit 1996 in Deutschland offiziell dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen habe ihn 2005 zum Internationalen Holocaust-Gedenktag erklärt. Die Durchführung einer Versammlung an diesem Tag durch die Klägerin sei als eine Provokation zu bewerten, durch die grundlegende soziale und ethische Anschauungen und Empfindungen verletzt würden. Die Klägerin sei eine Partei, die nach ihrem eigenen Selbstverständnis dem rechtsextremen politischen Spektrum zuzuordnen sei. Sie lasse in der öffentlichen Wahrnehmung die notwendige Distanz zu dem menschenverachtenden Unrechtsregime vermissen, das die Opfer zu verantworten habe, derer am 27. Januar gedacht werde. Nicht entscheidend sei, dass sich das Motto der Versammlung nicht mit den Opfern des Nationalsozialismus auseinandersetze.
5Die Klägerin legte Widerspruch ein und beantragte beim Verwaltungsgericht, dessen aufschiebende Wirkung wiederherzustellen. Der Antrag wurde abgelehnt. Die Beschwerde zum Oberverwaltungsgericht blieb ohne Erfolg. Den weiteren Antrag der Klägerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht lehnte dieses mit Kammerbeschluss vom ab: Eine Verfassungsbeschwerde wäre vorliegend weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Die somit erforderliche Folgenabwägung führe zur Ablehnung des Antrags. Die Kammer könne sich unter den gegebenen zeitlichen Bedingungen kein zuverlässiges Bild über etwaige Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit machen.
6Mit ihrer vorliegenden Klage begehrt die Klägerin die Feststellung, dass der Bescheid der Beklagten vom rechtswidrig war. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung zurückgewiesen: Die Verlegung der Versammlung um einen Tag stelle eine Auflage, kein Verbot dar. § 15 Abs. 1 VersG erlaube Auflagen auch zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Ordnung, sofern diese nicht aus dem Inhalt von Äußerungen, sondern aus der Art und Weise der Durchführung der Versammlung hergeleitet würden. Die öffentliche Ordnung könne verletzt sein, wenn Rechtsextremisten einen Aufzug an einem Tag, welcher der Erinnerung an das Unrecht des Nationalsozialismus und den Holocaust diene, so durchführten, dass von seiner Art und Weise Provokationen ausgingen, die das sittliche Empfinden der Bürger erheblich beeinträchtigten. Diese Voraussetzung sei hier erfüllt. Die Versammlung wäre hier nicht lediglich in irgendeinem Sinn dem Gedenken am 27. Januar entgegen gelaufen. Von ihr wäre eine besondere, für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung des sittlichen Empfindens der Bürger hinreichende Provokationswirkung ausgegangen. Die Klägerin habe das Thema der Versammlung lediglich als Aufhänger gewählt, während die dahinter stehende Motivation von der Bevölkerung darin gesehen werde, an einem zentralen Ort in der Innenstadt Präsenz zu zeigen und nach außen zu dokumentieren, dass man als rechtsextreme Partei trotz des Gedenktags "Flagge zeigen" könne. Für diese Einschätzung würden mehrere Umstände sprechen. Der von der Klägerin benannte Bezug zum Vortrag von Prof. O. wirke gesucht. Die Finanz- und Eurokrise stehe seit längerem im Fokus der politischen Diskussion. Es sei nicht erkennbar, wieso eine Veranstaltung der Klägerin zu diesem Thema nicht mit gleicher Wirkung am Folgetag hätte durchgeführt werden können, zumal ein spezifischer Bezug zwischen den Thesen von Prof. O. und dem wirtschaftspolitischen Programm der Klägerin weder dargetan noch ersichtlich sei. Dies dränge den Eindruck auf, die Klägerin habe nur nach einem beliebigen Anlass gesucht, um am Gedenktag des 27. Januar Präsenz zeigen zu können. Hierfür spreche zudem, dass die Klägerin bereits am eine Versammlung zum gleichen Thema durchgeführt habe. Es sei ungewöhnlich und nicht ohne weiteres nachvollziehbar, weshalb eine Partei wie die Klägerin innerhalb von nur fünf Tagen in der gleichen Stadt ihr wirtschaftspolitisches Programm ein zweites Mal der Öffentlichkeit durch eine Versammlung vorstellen wolle. Schließlich habe die Klägerin auch nach dem auffällig oft Versammlungen an Tagen durchgeführt, die einen Bezug zur Herrschaft der Nationalsozialisten aufwiesen. Es sei unwahrscheinlich, dass es sich hier um einen Zufall handle. Vielmehr bestärke dies die Einschätzung, dass die Klägerin sich einen beliebigen Anlass gesucht habe, um an diesen Tagen in der Öffentlichkeit Präsenz zu zeigen.
7Zur Begründung ihrer Revision bringt die Klägerin vor: Die Verlegung der Versammlung stelle ein Verbot im Sinne von § 15 Abs. 1 VersG dar, das nur bei Gefährdung der öffentlichen Sicherheit hätte ausgesprochen werden dürfen. Selbst wenn man der Verlegung Auflagenqualität beimäße, fehle es jedenfalls an einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung. Die Klägerin habe nicht am Gedenktag provokativ "Flagge zeigen", sondern ihren Thesen zur Euro- bzw. Finanzkrise Aufmerksamkeit verschaffen wollen. Selbst wenn die Unterstellung des Oberverwaltungsgerichts richtig wäre, ihr sei es auf Präsenz gerade am Gedenktag angekommen, wäre die Verlegung als rechtswidrig einzustufen. Der Eilentscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der vorliegenden Sache sei zu entnehmen, dass Beschränkungen einer für den 27. Januar vorgesehenen Veranstaltung nur zulässig seien, wenn in der Nähe eine Gedenkveranstaltung stattfinde oder die Veranstaltung einen Bezug zum Holocaust bzw. zur nationalsozialistischen Herrschaft aufweise.
8Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Der Vortrag von Prof. O. habe für die Klägerin keinen hinreichenden Anlass darstellen können, die Versammlung gerade am durchzuführen. Der Eilentscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der vorliegenden Sache sei zwar zu entnehmen, dass neben dem Umstand, wonach eine Versammlung an einem Tag mit gewichtiger Symbolkraft stattfinde, weitere Umstände hinzutreten müssten, um eine Verlegung zu rechtfertigen. Solche Umstände hätten hier jedoch vorgelegen. Die Klägerin, deren Ablehnung des Holocaust-Gedenktages ausweislich des Berichts des Verfassungsschutzes des Landes für das Jahr 2011 bekannt sei, habe dadurch Provokationen hervorrufen wollen, dass sie eine Versammlung gerade für diesen Tag anmelde.
Gründe
9Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf der Verletzung revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO). Der Bescheid vom verstößt gegen die bundesrechtliche (vgl. Art. 125a Abs. 1 GG) Vorschrift des § 15 Abs. 1 VersG. Die Gründe, auf die er sich stützt, genügen nicht den Anforderungen dieser Vorschrift. Aus dem vorinstanzlich abschließend geklärten Sachverhalt ergeben sich keine sonstigen Gründe, die den Bescheid rechtlich tragen könnten. Der Senat kann mithin ausschließen, dass sich das angefochtene Urteil im Ergebnis als richtig darstellt, und in der Sache selbst entscheiden (§ 144 Abs. 3 und 4 VwGO). Dies führt zum Ausspruch der begehrten Feststellung.
101. Das Oberverwaltungsgericht hat die Klage ohne Verstoß gegen Bundesprozessrecht für zulässig erachtet. Statthafte Klageart zur Erlangung der begehrten Feststellung ist in entsprechender Anwendung von § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO die Fortsetzungsfeststellungsklage. Eine Entscheidung über die Rechtswidrigkeit eines erledigten Verwaltungsakts ist auch dann zulässig, wenn - wie hier - die Erledigung vor Klageerhebung eingetreten ist ( BVerwG 6 C 7.98 - BVerwGE 109, 203 <207> = Buchholz 310 § 74 VwGO Nr. 12 S. 4; stRspr). Die Klägerin hat das von § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO geforderte berechtigte Interesse an der begehrten Feststellung. Ein berechtigtes Interesse im Sinne dieser Vorschrift kann rechtlicher, wirtschaftlicher oder auch ideeller Natur sein. Entscheidend ist, dass die gerichtliche Entscheidung geeignet ist, die Position des Klägers in den genannten Bereichen zu verbessern ( BVerwG 8 C 15.12 - juris Rn. 25; stRspr). Im vorliegenden Fall ist ein berechtigtes Feststellungsinteresse der Klägerin jedenfalls unter dem Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr zu bejahen. Das Merkmal der Wiederholungsgefahr setzt im Hinblick auf Versammlungsbeschränkungen zum einen die Möglichkeit einer erneuten Versammlung durch den Betroffenen voraus, die ihrer Art nach zu den gleichen Rechtsproblemen und damit der gleichen Beurteilung ihrer Rechtmäßigkeit führen könnte. Zum anderen ist erforderlich, dass die Behörde voraussichtlich auch zukünftig an ihrer Rechtsauffassung festhalten wird (vgl. - BVerfGE 110, 77 <90>). Der Senat geht mit dem Oberverwaltungsgericht davon aus, dass die Klägerin auch in Zukunft an historisch sensiblen Daten unter Bezugnahme auf aktuelle politische Themen Versammlungen durchführen könnte. Ferner geht er mit dem Oberverwaltungsgericht davon aus, dass in solchen Fällen die Beklagte voraussichtlich erneut mit vergleichbarer Begründung wie im vorliegenden Fall eine zeitliche Verlegung von Versammlungen der Klägerin anordnen würde. Das auf eine Wiederholungsgefahr gegründete Rechtsschutzinteresse entfällt nicht deshalb, weil der Betroffene in zukünftigen Fällen Eilrechtsschutz in Anspruch nehmen kann (vgl. a.a.O. S. 91).
11Dadurch, dass der streitgegenständliche Bescheid erst einen Tag vor der geplanten Versammlung ergangen ist, war eine gerichtliche Entscheidung im Hauptsacheverfahren für die Klägerin nicht rechtzeitig zu erlangen. Das vorläufige Rechtsschutzverfahren, dessen Gegenstand die Vollziehbarkeit des Bescheids war, genügt insoweit nicht. Art. 19 Abs. 4 GG gewährt nach Maßgabe der Sachentscheidungsvoraussetzungen einen Anspruch auf Rechtsschutz in der Hauptsache, nicht nur in einem Eilverfahren (vgl. a.a.O. S. 86 ff.; BVerwG 1 C 12.97 - Buchholz 402.44 VersG Nr. 12 S. 4).
122. Unter den gegebenen Umständen war die Beklagte durch die - allein in Frage kommende - Vorschrift des § 15 Abs. 1 VersG nicht befugt, die Verlegung der Versammlung vom 27. auf den anzuordnen. Gemäß § 15 Abs. 1 VersG kann die zuständige Behörde die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist. Für eine mögliche unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit lagen - wovon auch das Oberverwaltungsgericht ausgegangen ist - schon im Ansatz keine Anhaltspunkte vor. Auch eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Ordnung durfte bei der vorliegenden Sachlage im Ergebnis nicht angenommen werden:
13a. Ob es sich bei der Anordnung der Beklagten um ein Versammlungsverbot oder um eine Auflage handelt, bedarf keiner Vertiefung. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass auch Gründe der öffentlichen Ordnung zum Erlass eines Versammlungsverbots berechtigen, wenn Gefahren nicht aus dem Inhalt von Äußerungen, sondern aus der Art und Weise der Durchführung der Versammlung drohen, sofern Auflagen zur Gefahrenabwehr nicht ausreichen ( - BVerfGE 111, 147 <156 f.>). Im vorliegenden Fall drohten keine meinungsinhaltlich begründeten Gefahren. Im Raum stand lediglich die Möglichkeit einer Gefahr aufgrund der Art und Weise der vorgesehenen Versammlungsdurchführung, nämlich aufgrund des Umstands, dass die Versammlung gerade am Holocaust-Gedenktag stattfinden sollte. Um der hierdurch nach Einschätzung der Beklagten drohenden Gefahr für die öffentliche Ordnung entgegenzuwirken, stand kein milderes Mittel als die Verlegung auf einen anderen Tag zur Verfügung. Der Rückgriff auf Gründe der öffentlichen Ordnung wäre der Beklagten folglich auch dann nicht versperrt gewesen, wenn man die zeitliche Verlegung als Versammlungsverbot qualifizieren müsste.
14b. Der Annahme einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung steht nicht entgegen, dass die Klägerin eine politische Partei ist. Die zugunsten politischer Parteien durch Art. 21 GG begründeten Gewährleistungen schließen nicht das Recht ein, weitgehender als andere Rechtssubjekte von Versammlungsbeschränkungen verschont zu bleiben, wenn eine vorgesehene Versammlung die öffentliche Ordnung zu verletzen droht. Verfügt eine Behörde mit dieser Begründung eine versammlungsrechtliche Beschränkung gegenüber einer politischen Partei, stützt sie ihr Einschreiten nicht auf eine vermeintliche Verfassungsfeindlichkeit des Verhaltens oder der Programmatik dieser Partei (vgl. Urteil vom a.a.O. S. 8).
15c. Unter öffentlicher Ordnung im Sinne von § 15 Abs. 1 VersG ist die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln zu verstehen, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden und mit dem Wertgehalt des Grundgesetzes zu vereinbarenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets anzusehen ist. Kommt einem bestimmten Tag in der Gesellschaft ein eindeutiger Sinngehalt mit gewichtiger Symbolkraft zu, darf dieser Sinngehalt bei einer Versammlung an diesem Tag nicht in einer Weise angegriffen werden, dass dadurch zugleich grundlegende soziale oder ethische Anschauungen in erheblicher Weise verletzt werden. Beim Holocaust-Gedenktag am 27. Januar (vgl. Proklamation des Bundespräsidenten vom , BGBl I S. 17) handelt es sich um einen solchen Tag (BVerfG, Kammerbeschlüsse vom - 1 BvQ 9/01 - juris Rn. 15 und vom - 1 BvQ 32/03 - juris Rn. 24; Beschluss vom a.a.O. S. 157; Kammerbeschlüsse vom - 1 BvQ 3/06 - juris Rn. 12, vom - 1 BvR 2793/04 - juris Rn. 31 und vom - 1 BvQ 43/08 - juris Rn. 18).
16aa. Für eine Versammlungsbeschränkung aus Gründen der öffentlichen Ordnung im vorbezeichneten Sinne reicht nicht aus, dass die Durchführung der Versammlung am Holocaust-Gedenktag in irgendeinem, beliebigen Sinne als dem Gedenken zuwiderlaufend zu beurteilen ist. Vielmehr ist die Feststellung erforderlich, dass von der konkreten Art und Weise der Durchführung der Versammlung Provokationen ausgehen, die das sittliche Empfinden der Bürger erheblich beeinträchtigen ( - juris Rn. 7 m.w.N.). Liegt diese Voraussetzung nicht vor und sind wie hier Schutzgüter der öffentlichen Ordnung unter keinem anderen Gesichtspunkt bedroht, überschreitet eine Versammlungsbeschränkung nicht nur die einfachgesetzliche Ermächtigung in § 15 Abs. 1 VersG, sondern verstößt sie zugleich gegen das Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG). Diesem Grundrecht gebührt in einem freiheitlichen Staatswesen ein besonderer Rang ( - BVerfGE 69, 315 <343>). Die Ausübung der Versammlungsfreiheit darf nur zum Schutz gleichgewichtiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes begrenzt werden ( a.a.O. S. 348 f.). Störungen des sittlichen Empfindens der Bürger ohne Provokationscharakter oder Störungen, die, obgleich provokativen Charakters, kein erhebliches Gewicht aufweisen, ergeben als solche keinen verhältnismäßigen Anlass für eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit. Der Umstand alleine, dass eine rechtsextremistische Gruppierung am Holocaust-Gedenktag eine Versammlung durchführt, kann daher nicht in grundrechtlich tragfähiger Weise für eine Versammlungsbeschränkung gemäß § 15 Abs. 1 VersG herangezogen werden, auch wenn die Wahl gerade dieses Tages als Versammlungstermin einer solchen Gruppierung von vielen Bürgern in tatsächlicher Hinsicht als unpassend und mit dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus nicht im Einklang stehend wahrgenommen werden mag. Sähe der Gesetzgeber weitergehend ein Bedürfnis, mit Blick auf die besondere staatspolitische Bedeutung des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus Versammlungsbeschränkungen an diesem Tag - losgelöst von der Frage einer Gefährdung des sittlichen Empfindens der Bürger im Einzelfall - zuzulassen, müsste er hierzu eigens nicht auf bestimmte Veranstalter beschränkte Regelungen treffen. Dem Begriff der öffentlichen Ordnung im Sinne von § 15 Abs. 1 VersG liegt kein solchermaßen begründetes Schutzkonzept zugrunde.
17bb. Die Feststellung, dass von der konkreten Art und Weise der Durchführung einer Versammlung am Holocaust-Gedenktag Provokationen ausgehen, die das sittliche Empfinden der Bürger erheblich beeinträchtigen, setzt voraus, dass die Versammlung eine den Umständen nach eindeutige Stoßrichtung gegen das Gedenken erkennen lässt. Die Versammlungsfreiheit wird nicht in unverhältnismäßiger Weise beschränkt, wenn dem Grundrechtsträger auf Grundlage von § 15 Abs. 1 VersG etwa angesonnen wird, eine Versammlung am Holocaust-Gedenktag nur in einer Weise durchzuführen, die dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus den ihm aus Sicht der Mitbürger gebührenden Stellenwert belässt, insbesondere dessen Sinn und ethisch-moralischen Wert nicht negiert, und die auch nicht in anderer Weise dem Anspruch der Mitbürger entgegenwirkt, sich ungestört dem Gedenken zuwenden zu können, ohne hierbei erheblichen Provokationen ausgesetzt zu sein. Bringt der Grundrechtsträger die Bereitschaft hierzu nicht auf, muss die Versammlung von seinen Mitbürgern zwangsläufig als erhebliche provokative Beeinträchtigung ihres sittlichen Empfindens wahrgenommen werden und offenbart er damit ein Maß an Indifferenz gegenüber ihren berechtigten Belangen, das seinerseits keinen grundrechtlichen Vorrang beanspruchen kann.
18cc. Im vorliegenden Fall wäre nach den Umständen, wie sie zur Zeit des Erlasses der streitbefangenen Anordnung erkennbar waren, durch die beabsichtigte Versammlung die vorbezeichnete Schwelle nicht erreicht worden. Die Versammlung sollte in Anknüpfung an eine andere Veranstaltung mit der Euro- und Finanzkrise ein aktuelles allgemein-politisches Thema aufgreifen und die hierzu entwickelten, bereits bei früheren Gelegenheiten vorgetragenen programmatischen Vorstellungen der Klägerin kundtun. Eine Stoßrichtung gegen das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus geht von diesem Thema nicht aus. Eine unmittelbare Störung von Gedenkveranstaltungen stand nicht zu befürchten oder hätte jedenfalls, wie das Oberverwaltungsgericht überzeugend festgestellt hat, durch das mildere Mittel einer geringfügigen zeitlichen Verlegung um eine halbe Stunde abgewendet werden können. Dass die Versammlung ihrem vorgesehenen äußeren Gepräge nach eine Stoßrichtung gegen das Gedenken hätte gewinnen können, ist ebenso nicht ersichtlich. Sonstige Umstände, die im Rahmen einer Gesamtschau Anlass zu einer abweichenden Beurteilung geben könnten, vermag der Senat nicht zu erkennen.
19dd. Das Oberverwaltungsgericht ist zu der Einschätzung gelangt, es sei der Klägerin in Wahrheit nicht auf die Kundgabe ihrer wirtschafts- und währungspolitischen Positionen, sondern ausschließlich um eine - von ihr dem Gedenkanliegen demonstrativ entgegen gesetzte - öffentliche Präsenz am Holocaust-Gedenktag gegangen ("Flagge zeigen"), die von den übrigen Bürgern vor dem besonderen Hintergrund dieses Tages als erhebliche Provokation empfunden worden wäre und so seitens der Klägerin auch gemeint gewesen sei. Selbst wenn diese Einschätzung der Motivlage der Klägerin zutreffend wäre, muss sich dieser Ansatz dem Einwand ausgesetzt sehen, dass er dem Grundrechtsträger letzten Endes abverlangt, die Plausibilität der von ihm getroffenen Wahl des Versammlungsdatums zu rechtfertigen, nämlich Gründe vorzuweisen, welche die Sinnhaftigkeit der Kundgebung zum ausgewählten Versammlungsthema gerade am vorgesehenen Tag belegen. Eine solche Maßgabe würde die Versammlungsfreiheit, die auch die freie Selbstbestimmung über den Versammlungszeitpunkt einschließt ( a.a.O. S. 343; stRspr), in unverhältnismäßiger Weise beschränken. Für den Grundrechtsträger besteht keine Obliegenheit, für die Bestimmung des Versammlungszeitpunkts Gründe zu liefern. Sind solche Gründe für die Versammlungsbehörde oder nach deren Einschätzung aus Sicht der Mitbürger nicht erkennbar bzw. nicht nachvollziehbar, reicht die hieraus hergeleitete Wahrnehmung, der Grundrechtsträger suche die Präsenz lediglich um ihrer selbst willen, grundsätzlich nicht für die Anordnung einer Versammlungsbeschränkung am Holocaust-Gedenktag mit der Begründung aus, von der Versammlung würden Provokationen ausgehen, die das sittliche Empfinden der Bürger erheblich beeinträchtigen. Die öffentliche Präsenz einer bestimmten Gruppierung am 27. Januar verleiht für sich genommen ihrer Versammlung noch keine eindeutige Stoßrichtung gegen das Gedenken, dem dieser Tag gewidmet ist. Die gegenteilige Sichtweise läuft darauf hinaus, die Anforderung einer personen- bzw. gruppenneutralen Begründung für Beschränkungen der Versammlungsfreiheit zu verfehlen.
20Der Senat vermag zwar nicht auszuschließen, dass ausnahmsweise Konstellationen vorkommen mögen, in denen die spezifische Kombination von Versammlungszeitpunkt, Zuschnitt des Versammlungsthemas und gegebenenfalls weiteren Faktoren nichts anderes als den Schluss zulässt, die Versammlung weise - zwar in unterschwelliger, nichtsdestotrotz aber eindeutiger Weise - eine Stoßrichtung gegen das Gedenken auf (vgl. - juris und den dort zugrunde liegenden Sachverhalt). Im vorliegenden Fall jedoch erübrigen sich weitere Überlegungen in diese Richtung schon deshalb, weil die Einschätzung des Oberverwaltungsgerichts, das von der Klägerin angegebene Versammlungsthema sei nur vorgeschoben gewesen, bereits nicht auf zureichende tatsächliche Anhaltspunkte gestützt ist:
21Mit der genannten Einschätzung wird der Klägerin der Wille abgesprochen, das vorgebrachte Artikulationsanliegen überhaupt ernsthaft verfolgt zu haben. Das durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützte Selbstbestimmungsrecht über den Inhalt der Versammlung (vgl. a.a.O. S. 343; stRspr) schließt aber - vorgelagert - den Anspruch ein, dass der Staat das vom Grundrechtsträger proklamierte Artikulationsanliegen grundsätzlich als tatsächlich gegeben hinnimmt und nicht ohne Weiteres gegen seine inneren Motive abgleicht. Ein Durchgriff auf eine vermeintlich bestehende innere Motivlage zur Rechtfertigung einer Versammlungsbeschränkung darf nur ausnahmsweise und mit besonderer Zurückhaltung erfolgen (vgl. in anderem Zusammenhang BVerwG 6 C 23.06 - BVerwGE 129, 42 <47 f.> = Buchholz 402.44 VersG Nr. 13). Hierfür müssen konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte und nicht nur bloße Vermutungen und Verdachtsmomente vorliegen (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom - 1 BvQ 24/00 - juris Rn. 14, vom - 1 BvQ 13/01 - juris Rn. 28, vom - 1 BvQ 21/01 - juris Rn. 11 und vom - 1 BvR 1429/06 - juris Rn. 14). Erforderlich ist darüber hinaus, dass eine Auseinandersetzung mit Gegenindizien vorgenommen wird (vgl. Kammerbeschluss vom - 1 BvQ 8/01 - juris Rn. 12). Diese Vorgaben leiten sich aus Art. 8 Abs. 1 GG ab und setzen insofern der tatrichterlichen Sachverhaltswürdigung materiell-rechtliche, revisionsgerichtlich überprüfbare Grenzen. Den Vorgaben genügt das angefochtene Urteil nicht. Weder der Umstand, dass die Finanz- und Eurokrise schon seit längerem im Augenmerk der öffentlichen Wahrnehmung stand, noch der Umstand, dass keine konkreteren inhaltlichen Bezüge der vorgesehenen Versammlung oder des wirtschaftspolitischen Programms der Klägerin zu den wirtschaftspolitischen Vorstellungen von Prof. O. erkennbar geworden sind, belegen in hinreichender Weise, dass die Klägerin dessen Vortrag lediglich als "Aufhänger" gewählt hätte, um an dem fraglichen Tag in plausibler Weise überhaupt eine Versammlung durchführen zu können. Auch im Hinblick auf politische Themen mit dauerhafter Aktualität entspricht es verbreiteter politischer Übung, für die Darstellung eigener Positionen einen Termin zu wählen, an dem das Thema von anderen Meinungsbildnern öffentlich angesprochen wird und daher spezifisch in das Augenmerk der Öffentlichkeit rückt; dabei ist es wiederum keineswegs unüblich, im Rahmen der eigenen Darstellung nicht unmittelbar auf die Inhalte und Thesen der Referenzveranstaltung einzugehen, sondern sich mit der Kundgabe eigener Positionen zu begnügen. Unverfänglich ist darüber hinaus auch der Umstand, dass die Klägerin eine Versammlung zu Währungs- und Finanzfragen bereits fünf Tage vorher durchgeführt hatte. Diese Veranstaltungsfrequenz kann ebenso gut als Ausdruck eines besonders ausgeprägten Artikulationsinteresses gewertet werden, wie es gerade für eine politische Partei nicht ungewöhnlich ist. Soweit das Oberverwaltungsgericht schließlich Muster der Versammlungspraxis der Klägerin nach dem Erlass der streitigen Anordnung angeführt hat, steht ihrer Einbeziehung in die rechtliche Würdigung schon die gesetzliche Vorgabe aus § 15 VersG entgegen, dass nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet sein muss. Das Prozessrecht bietet keine Handhabe, im Rahmen der nachträglichen rechtlichen Beurteilung einen anderen Blickwinkel auf den betroffenen Sachverhalt anzulegen.
22Nach alledem erweist sich die Einschätzung, der Klägerin sei es in Wahrheit darauf angekommen, am Holocaust-Gedenktag demonstrative öffentliche Präsenz zu zeigen, als bloße Vermutung. Auf bloße Vermutungen darf eine versammlungsrechtliche Beschränkung aber von vornherein nicht gegründet werden. Die Beweislast dafür, dass die tatsächliche Sachlage der Vermutung entspricht, liegt bei der Versammlungsbehörde. Für den Grundrechtsträger besteht keine Obliegenheit, sich insoweit zu entlasten (vgl. - juris Rn. 15).
Fundstelle(n):
EAAAE-63383