Kindergeld für Ausländer: Vorlagebeschlüsse an BVerfG
Leitsatz
Das vorlegende Gericht hält die Regelung des § 62 Abs. 2 Einkommensteuergesetzes (EStG), nach der ein nicht freizügigkeitsberechtigter
Ausländer – abhängig von der Art seines Aufenthaltsstatus – teilweise keinen Anspruch auf Kindergeld hat, teilweise ohne weitere
Voraussetzungen und teilweise nur bei Vorliegen weiterer Voraussetzungen einen Anspruch auf Kindergeld hat, für verfassungswidrig.
Das vorlegende Gericht setzt deshalb das Verfahren aus und holt gemäß Artikel 100 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) die Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts ein.
Das vorlegende Gericht ist davon überzeugt, dass § 62 Abs. 2 EStG gegen das für alle Menschen geltende Gleichbehandlungsgebot
des Artikel 3 Abs. 1 GG verstößt. Die vom Gesetzgeber gewählten Differenzierungskriterien des § 62 Abs. 2 EStG halten nach
Auffassung des vorlegenden Gerichts einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand.
Stellt man die gesetzlichen Differenzierungen des § 62 Abs. 2 EStG dem Zweck des Kindergeldes (§ 31 EStG: steuerliche Freistellung
des Existenzminimums eines Kindes und Förderung der Familie) gegenüber, ergibt sich kein zulässiger Rechtfertigungsgrund für
die Ungleichbehandlung im Sinne des Artikel 3 Abs. 1 GG.
Das die Vorschriften zum Anspruch von nicht freizügigkeitsberechtigten
Ausländern auf Erziehungs- bzw. Elterngeld teilweise für verfassungswidrig erklärt. Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts
gelten nach Auffassung des vorlegenden Gerichts nicht nur für das Erziehungs- bzw. Elterngeld. Sie gelten in gleicher Weise
für die wortgleiche Vorschrift des § 62 Abs. 2 Nr. 2c in Verbindung mit Nr. 3b EStG für den Anspruch auf Kindergeld. Nicht
nur die Verwehrung von Erziehungs- bzw. Elterngeld, sondern auch von Kindergeld berührt den nicht auf Deutsche beschränkten
Schutz der Familie nach Artikel 6 Abs. 1 GG und das durch Artikel 6 Abs. 2 GG geschützte und nicht auf Deutsche beschränkte
Elternrecht.
Im Inland lebende ausländische Familien sind vom Bezug des Kindergeldes ausgeschlossen, wenn sie nicht den nach dem EStG erforderlichen „richtigen” Aufenthaltsstatus haben oder die zusätzlichen Anspruchsvoraussetzungen nicht erfüllen. Dies gilt
auch, wenn ihre Kinder hier geboren sind und hier aufwachsen, die Familie bereits mehrere Jahre tatsächlich im Inland lebt
und ihren Lebensunterhalt durch lohnsteuer- und sozialversicherungspflichtige Tätigkeit ganz oder teilweise sichert.
Demgegenüber haben etwa (wenn sie die allgemeinen Voraussetzungen für den Anspruch auf Kindergeld erfüllen)
ausländische Gastwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler und ihre ausländischen technischen Mitarbeiter
im Rahmen eines zeitlich befristeten Forschungsvorhabens tätige Ausländer
ausländische Berufssportler und Trainer
ausländische Fotomodelle und Dressmen
ausländische Mitglieder der Besatzungen von Seeschiffen im Internationalen Verkehr und von Luftfahrzeugen
einen Anspruch auf Kindergeld, auch wenn sie nur vorübergehend (mehr als sechs Monate) in Deutschland leben.
Demgegenüber haben entsandte und in Deutschland nicht sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer (etwa: Saisonarbeiter, Erntehelfer)
und Selbständige aus dem EU-Ausland, die vorübergehend in Deutschland leben und deren Familie ihren Lebensmittelpunkt im EU-Ausland
behält, einen Anspruch auf deutsches Kindergeld für ihre im Ausland lebenden Kinder; das betrifft mehr als hunderttausend
Kinder. Auch wenn die Lebenshaltungskosten im Ausland niedriger sind als in Deutschland, wird das Kindergeld nicht gekürzt.
Des Weiteren verletzt § 62 Abs. 2 EStG das Gleichberechtigungsgebot für Männer und Frauen des Artikel 3 Abs. 2 GG, weil Frauen
aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen die in § 62 Abs. 2 EStG aufgestellten Voraussetzungen für einen Anspruch auf Kindergeld
schwerer erfüllen können als Männer.
Fundstelle(n): RAAAE-61134
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