BAG Urteil v. - 9 AZR 484/12

Altersteilzeitarbeitsverhältnis - Beendigung bei Anspruch auf abschlagsfreie Altersrente - Diskriminierung von Schwerbehinderten

Gesetze: § 7 Abs 2 AGG, § 7 Abs 1 AGG, § 1 TVG, § 3 Abs 1 S 1 AGG, § 1 AGG

Instanzenzug: Az: 60 Ca 2075/11 Urteilvorgehend LArbG Berlin-Brandenburg Az: 16 Sa 1760/11 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über den Zeitpunkt, zu dem ihr Altersteilzeitarbeitsverhältnis endet.

2Die Beklagte respektive ihre Rechtsvorgängerin beschäftigen die am geborene Klägerin seit dem . Diese ist seit dem Jahr 2005 schwerbehindert. Mit Änderungsvertrag vom vereinbarten die Parteien ua. Folgendes:

3Der von der Rechtsvorgängerin der Beklagten (Bundesversicherungsanstalt für Angestellte [BfA]) mit der zuständigen Gewerkschaft abgeschlossene Tarifvertrag zur Regelung der Altersteilzeitarbeit vom - Tarifvertrag Nr. 671 - idF des Zweiten Änderungstarifvertrags vom - Tarifvertrag Nr. 708 - (TV ATZ), der am in Kraft trat, lautet auszugsweise wie folgt:

4Die Beklagte teilte der Klägerin in einem Schreiben vom unter Hinweis auf die Regelung in § 9 Abs. 2 Buchst. a TV ATZ mit, das Altersteilzeitarbeitsverhältnis ende mit Ablauf des .

5Die Klägerin hat gemeint, das Altersteilzeitarbeitsverhältnis ende erst mit Ablauf des . Die Regelung in § 9 Abs. 2 Buchst. a TV ATZ diskriminiere sie wegen ihrer Behinderung und sei deshalb unwirksam.

6Die Klägerin hat beantragt

festzustellen, dass das Altersteilzeitarbeitsverhältnis der Parteien auf der Grundlage des Änderungsvertrags vom nicht mit Ablauf des , sondern erst mit Ablauf des enden wird.

7Die Beklagte hat die Rechtsauffassung vertreten, das Altersteilzeitarbeitsverhältnis ende gemäß § 9 Abs. 2 Buchst. a TV ATZ mit Ablauf des , da die Klägerin danach eine Altersrente gemäß § 236a Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 SGB VI in Anspruch nehmen könne. Eine unmittelbare Diskriminierung von schwerbehinderten Menschen liege nicht vor. Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des TV ATZ hätten außer schwerbehinderten Menschen auch Frauen ab Vollendung des 63. Lebensjahres eine Altersrente ohne Abschlag beziehen können. Die Situation schwerbehinderter 63-jähriger Arbeitnehmer sei mit der nicht schwerbehinderter Arbeitnehmer gleichen Alters nicht vergleichbar. Schließlich sei die Ungleichbehandlung durch die mit dem TV ATZ verfolgten beschäftigungspolitischen Ziele gerechtfertigt.

8Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihr Ziel der Klageabweisung weiter.

Gründe

9Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten gegen das klagestattgebende Urteil des Arbeitsgerichts zu Recht zurückgewiesen.

10I. Die Feststellungsklage ist zulässig. Die Klägerin hat bereits vor der Vollendung ihres 63. Lebensjahres ein rechtliches Interesse iSv. § 256 Abs. 1 ZPO an der begehrten Feststellung, nachdem über die Wirksamkeit der Regelung in § 9 Abs. 2 Buchst. a TV ATZ und damit über den Zeitpunkt der Beendigung des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses zwischen den Parteien Streit besteht (vgl. zur Befristungskontrollklage vor dem vereinbarten Vertragsende:  - Rn. 13 mwN, BAGE 134, 339).

11II. Die Klage ist begründet. Das Altersteilzeitarbeitsverhältnis der Parteien endet nicht gemäß § 9 Abs. 2 Buchst. a TV ATZ mit Ablauf des Kalendermonats vor dem Kalendermonat, für den die Klägerin eine Rente wegen Alters beziehen kann, und damit nicht am , sondern erst mit Ablauf des . Die Tarifvorschrift ist jedenfalls insoweit unwirksam (§ 7 Abs. 2 iVm. Abs. 1 AGG), als sie dazu führen würde, dass ein schwerbehinderter Arbeitnehmer, der Altersteilzeit im Blockmodell leistet, nach einer im Vergleich mit der Arbeitsphase wesentlich kürzeren Freistellungsphase aus dem Altersteilzeitarbeitsverhältnis ausscheidet.

121. § 9 Abs. 2 Buchst. a TV ATZ ist am Maßstab des AGG zu messen. Dem steht nicht entgegen, dass der TV ATZ und der Altersteilzeitarbeitsvertrag der Parteien vor dem Inkrafttreten des AGG am geschlossen wurden. Verbotsgesetze können Dauerschuldverhältnisse in der Weise erfassen, dass diese für die Zukunft („ex nunc“) unwirksam werden (vgl.  - Rn. 38, BAGE 129, 72). Gilt ein Verbotsgesetz - wie das Benachteiligungsverbot in § 7 Abs. 1 AGG - ohne Übergangsregelung, erstreckt sich das Verbot auf alle Sachverhalte, die sich seit seinem Inkrafttreten in seinem Geltungsbereich verwirklichen. Bestimmungen in Kollektiv- und Individualvereinbarungen, die gegen § 7 Abs. 2 AGG verstoßen, sind ungeachtet des Zeitpunkts ihres Abschlusses unwirksam, sofern sie nach dem liegende Sachverhalte regeln (vgl.  - Rn. 30). Da die Klägerin Altersrente für schwerbehinderte Menschen erst ab Juli 2014 beziehen kann, ist diese Voraussetzung erfüllt.

132. Das Landesarbeitsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass eine mit § 9 Abs. 2 Buchst. a TV ATZ einhergehende Verkürzung der Freistellungsphase bei Altersteilzeitarbeitnehmern, die die Arbeitsphase ungekürzt abgeschlossen haben, diese wegen ihrer Schwerbehinderung unmittelbar benachteiligt.

14a) Eine unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG liegt ua. vor, wenn ein schwerbehinderter Arbeitnehmer wegen seiner Behinderung eine weniger günstige Behandlung erfährt, als ein nicht schwerbehinderter Arbeitnehmer in einer vergleichbaren Lage. Eine Benachteiligung ist unmittelbar, wenn die sich nachteilig auswirkende Maßnahme direkt an das verbotene Merkmal anknüpft (vgl.  - Rn. 30 mwN). Von § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG wird auch eine sog. verdeckte unmittelbare Ungleichbehandlung erfasst. Bei dieser erfolgt die Differenzierung zwar nicht ausdrücklich wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes. Vielmehr wird an ein in dieser Vorschrift nicht enthaltenes Merkmal angeknüpft, das jedoch in einem untrennbaren Zusammenhang mit einem in dieser Vorschrift genannten Grund steht (vgl.  - Rn. 23, BAGE 138, 107 unter Bezugnahme auf BT-Drucks. 16/1780 S. 32). Auch eine zukünftige Maßnahme unterfällt dem Benachteiligungsverbot, wenn eine konkrete Gefahr für eine Benachteiligung besteht (vgl. Däubler/Bertzbach/Schrader/Schubert 3. Aufl. § 3 Rn. 27a).

15b) Diese Voraussetzungen einer verdeckten unmittelbaren Ungleichbehandlung liegen vor. § 9 Abs. 2 Buchst. a TV ATZ knüpft nicht unmittelbar an die Schwerbehinderteneigenschaft, sondern an die gesetzlichen Voraussetzungen für den Bezug einer abschlagsfreien Altersrente an. Dies führt, wenn der Schwerbehinderte Altersteilzeit im Blockmodell leistet und die Freistellungsphase kürzer wird als die bereits zurückgelegte Arbeitsphase, zu einer Schlechterstellung. Vollendet ein vor dem geborener schwerbehinderter Arbeitnehmer das 63. Lebensjahr, hat er ab dem Folgemonat Anspruch auf eine abschlagsfreie Altersrente (§ 236a Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 SGB VI), während dies bei einem nicht schwerbehinderten Arbeitnehmer gleichen Alters, der Altersteilzeit leistet, erst zwei Jahre später der Fall ist (§ 236 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 SGB VI).

16c) Wäre die Klägerin nicht schwerbehindert, würde das Altersteilzeitarbeitsverhältnis und damit auch die Freistellungsphase nach der tariflichen Regelung nicht am , sondern erst zum enden. Die mit einem zwei Jahre früheren Ausscheiden verbundenen Einkommenseinbußen der Klägerin würden durch den abschlagsfreien Rentenbezug nicht ausgeglichen. Aufgrund der im Änderungsvertrag der Parteien vom vereinbarten Freistellungsphase vom bis zum ist die Beklagte gemäß § 5 Abs. 1 TV ATZ verpflichtet, die Bezüge der Klägerin iSd. § 4 TV ATZ um 20 vH aufzustocken, wobei der Aufstockungsbetrag so hoch sein muss, dass die Klägerin 83 vH des Nettobetrags des bisherigen Arbeitsentgelts erhält (§ 5 Abs. 2 TV ATZ). Dieser sog. Mindestnettobetrag liegt deutlich über den Rentenbezügen, die der Klägerin nach den rentenrechtlichen Vorschriften der §§ 254b ff. SGB VI zustehen.

17d) Soweit die Beklagte geltend macht, infolge der unterschiedlichen Rentenberechtigung sei die Situation der Klägerin mit der Situation nicht schwerbehinderter Arbeitnehmer nicht vergleichbar, verhilft dies der Revision nicht zum Erfolg. Der finanzielle Vorteil, der einem schwerbehinderten Arbeitnehmer aus dem früheren Rentenbeginn erwächst, hat nicht zur Folge, dass seine Situation eine andere ist, als die eines nicht schwerbehinderten Arbeitnehmers (vgl.  - [Odar] Rn. 62).

183. Selbst wenn man mit der Revision davon ausgeht, dass § 9 Abs. 2 Buchst. a TV ATZ nicht zu einer unmittelbaren Benachteiligung der Klägerin führt, sondern lediglich eine mittelbare Ungleichbehandlung bewirkt, hat dies nicht die Beendigung des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses am zur Folge. Auch bei Anwendung des in § 3 Abs. 2 AGG normierten Prüfungsmaßstabs stellt § 9 Abs. 2 Buchst. a TV ATZ einen schwerbehinderten Arbeitnehmer wegen seiner Behinderung in unzulässiger Weise schlechter als nicht schwerbehinderte Arbeitnehmer, wenn die Freistellungsphase kürzer wird als die bereits zurückgelegte Arbeitsphase.

19a) Eine mittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen wegen eines in § 1 genannten Grundes gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich (§ 3 Abs. 2 AGG). Rechtmäßige Ziele im Sinne der Vorschrift können alle nicht ihrerseits diskriminierenden und auch sonst legalen Ziele sein. Die differenzierende Maßnahme muss allerdings zur Erreichung des rechtmäßigen Ziels geeignet und erforderlich sein und einen im Verhältnis zur Bedeutung des Ziels noch angemessenen Eingriff in die Rechte der Beteiligten darstellen ( - Rn. 42 mwN).

20b) Daran gemessen ist die Regelung in § 9 Abs. 2 Buchst. a TV ATZ, der zufolge das Altersteilzeitarbeitsverhältnis eines schwerbehinderten Arbeitnehmers auch während der Freistellungsphase mit Ablauf des Kalendermonats vor dem Kalendermonat endet, für den eine abschlagsfreie Altersrente bezogen werden kann, weder durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, noch ist eine Verkürzung der Freistellungsphase zur Erreichung der mit dem TV ATZ verfolgten Ziele erforderlich.

21aa) Der Umstand, dass schwerbehinderte Arbeitnehmer eine abschlagsfreie Rente früher in Anspruch nehmen können als nicht schwerbehinderte Arbeitnehmer, ist nicht geeignet, eine Ungleichbehandlung von schwerbehinderten und nicht schwerbehinderten Arbeitnehmern zu rechtfertigen (vgl.  - [Odar] Rn. 67 ff.). Dies gilt im Streitfall umso mehr, als ein Ausscheiden der Klägerin dazu führte, dass die Freistellungsphase lediglich drei Jahre betrüge und damit zwei Jahre kürzer als die Arbeitsphase wäre. Dies hätte zur Folge, dass die Klägerin zwar fünf Jahre in Vollzeit gearbeitet hätte, aber nicht zehn, sondern nur acht Jahre Bezüge und Aufstockungsleistungen erhalten würde. Die Vergütung der Klägerin läge damit trotz gleicher Arbeitsleistung deutlich unter der eines nicht schwerbehinderten Arbeitnehmers gleichen Alters mit einer zwei Jahre längeren Freistellungsphase.

22bb) Sinn und Zweck der tariflichen Regelung erfordern die Verkürzung der Freistellungsphase nicht. Der TV ATZ verfolgt ausweislich seiner Präambel zwei Ziele. Zum einen soll älteren Beschäftigten ein gleitender Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand ermöglicht werden. Zum anderen bezweckt er, vorrangig Auszubildenden und Arbeitslosen Beschäftigungsmöglichkeiten zu eröffnen. Keines der beiden Tarifziele wird durch eine Verkürzung der Freistellungsphase befördert. Der gleitende Übergang eines schwerbehinderten Arbeitnehmers vom Erwerbsleben in den Ruhestand ist auch dann sichergestellt, wenn die Freistellungsphase nicht verkürzt wird und ihre Dauer der bereits zurückgelegten Arbeitsphase entspricht. Ebenso verlangt der beschäftigungspolitische Zweck des TV ATZ nicht eine im Vergleich zur Arbeitsphase verkürzte Freistellungsphase. Denn die Möglichkeit der Beschäftigung eines anderen Arbeitnehmers wird bei Altersteilzeit im Blockmodell bereits mit dem Ende der Arbeitsphase eröffnet.

234. Rechtsfolge der unzulässigen Ungleichbehandlung ist, dass die Klägerin von der Beklagten verlangen kann, wie eine nicht schwerbehinderte Arbeitnehmerin behandelt zu werden (vgl.  - Rn. 53). Dies hat zur Folge, dass das Altersteilzeitarbeitsverhältnis der Klägerin, wie in § 2 des Änderungsvertrags der Parteien vom vereinbart, erst mit Ablauf des endet.

24III. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen (§ 97 Abs. 1 ZPO).

Fundstelle(n):
JAAAE-57059