BFH Urteil v. - VI R 72/12 BStBl 2014 II S. 68

Keine regelmäßige Arbeitsstätte bei vorübergehender Abordnung oder Versetzung

Leitsatz

Ein Arbeitnehmer (Beamter), der von seinem Arbeitgeber für drei Jahre an eine andere als seine bisherige Tätigkeitsstätte abgeordnet oder versetzt wird, begründet dort keine regelmäßige Arbeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG.

Gesetze: EStG § 9 Abs. 1 Satz 1EStG § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4EStG § 9 Abs. 5 i.V.m. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 Sätze 1 ff.

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

1 I. Streitig ist, ob Fahrten zwischen Wohnung und Dienststelle steuerlich im Rahmen der Entfernungspauschale oder nach Reisekostengrundsätzen zu berücksichtigen sind.

2 Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute. Der Kläger erzielt als Finanzbeamter Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Aufgrund eines Schreibens der Oberfinanzdirektion (OFD) A vom wurde er mit Wirkung vom vom Finanzamt B an die Landesfinanzschule Niedersachsen in Bad Eilsen abgeordnet. Der dortige Einsatz wurde „bis längstens befristet”. Mit Schreiben vom wurde er „aus dienstlichen Gründen mit Wirkung vom vom Finanzamt B an die Landesfinanzschule Niedersachsen” versetzt. Das Schreiben enthielt den Hinweis, dass „nach derzeitigem Stand eine Verwendung bei der Landesfinanzschule Niedersachsen bis zum vorgesehen” sei.

3 Mit Schreiben vom bestätigte die OFD, dass der Kläger mit Wirkung vom für die Dauer von drei Monaten von der Landesfinanzschule Niedersachsen an das Finanzamt B abgeordnet worden sei und beabsichtigt werde, ihn mit sofortiger Wirkung dorthin zu versetzen.

4 In ihren Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre 1996 und 1997 erklärten die Kläger Fahrten des Klägers an 136 Tagen zwischen der Wohnung in B und der Landesfinanzschule Niedersachsen in Bad Eilsen für 138 Entfernungskilometer als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit.

5 Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) setzte die Einkommensteuer für die Streitjahre erklärungsgemäß fest. Hiergegen wandten sich die Kläger mit Einsprüchen. Im Laufe der Einspruchsverfahren brachten die Kläger erstmalig vor, nach einer Änderung der Lohnsteuer-Richtlinien (LStR) seien die Fahrtkosten des Klägers zur Landesfinanzschule in den Streitjahren nicht als Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte, sondern als Reisekosten zu behandeln.

6 Mit Einspruchsbescheid vom wies das FA die Einsprüche der Kläger als unbegründet zurück.

7 Die hiergegen erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) ab.

8 Mit der Revision rügen die Kläger die Verletzung von § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Das FG habe den Begriff der regelmäßigen Arbeitsstätte fehlerhaft ausgelegt. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) sei regelmäßige Arbeitsstätte (nur) der (ortsgebundene) Mittelpunkt der dauerhaft angelegten beruflichen Tätigkeit des Arbeitnehmers. Da der Kläger der Landesfinanzschule nur vorübergehend —für drei Jahre— und nicht dauerhaft zugeordnet worden sei, sei diese nicht als seine regelmäßige Arbeitsstätte anzusehen.

9 Sie beantragen,

das Urteil des und die Einspruchsentscheidung vom aufzuheben sowie die Einkommensteuerbescheide für das Jahr 1996 vom und das Jahr 1997 vom dahingehend abzuändern, dass bei den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit im Veranlagungszeitraum 1996 Wegekosten statt bisher in Höhe von 13.137,60 DM in Höhe von 22.146,24 DM und im Veranlagungszeitraum 1997 statt bisher in Höhe von 4.636,80 DM in Höhe von 7.816,32 DM als Werbungskosten berücksichtigt werden.

10 Das FA beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

11 II. Die Revision der Kläger ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Stattgabe der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Das FG hat die Fahrtkosten des Klägers von seinem Wohnort zur Landesfinanzschule Niedersachsen in Bad Eilsen zu Unrecht nur begrenzt im Rahmen des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG zum Abzug als Werbungskosten zugelassen.

12 1. Fahrtkosten eines Arbeitnehmers im Rahmen einer beruflich veranlassten Auswärtstätigkeit sind Erwerbsaufwendungen und gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG in Höhe des dafür tatsächlich entstandenen Aufwands als Werbungskosten zu berücksichtigen. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG kommt insoweit nicht zur Anwendung (, BFHE 209, 502, BStBl II 2005, 782; VI R 70/03, BFHE 209, 508, BStBl II 2005, 785; vom VI R 66/05, BFHE 221, 35, BStBl II 2008, 825). Denn ein Arbeitnehmer, der außerhalb einer dem Arbeitgeber zuzuordnenden Betriebsstätte oder an einer solchen nur vorübergehend und damit auswärts tätig ist, hat typischerweise nicht die Möglichkeit, seine Wegekosten gering zu halten (ständige Rechtsprechung, z.B. , BFHE 230, 147, BStBl II 2010, 852; vom VI R 22/10, BFHE 236, 426, BStBl II 2012, 827).

13 a) Eine Auswärtstätigkeit liegt u.a. vor, wenn der Arbeitnehmer vorübergehend außerhalb seiner Wohnung und seiner regelmäßigen Arbeitsstätte (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG) beruflich tätig wird (, BStBl II 2013, 704; vom VI R 47/11, BFHE 238, 53, BStBl II 2013, 169; in BFHE 221, 35, BStBl II 2008, 825; in BFHE 209, 502, BStBl II 2005, 782; in BFHE 209, 508, BStBl II 2005, 785; R 9.4 Abs. 2 Satz 1 LStR); dies gilt auch dann, wenn der Arbeitnehmer seiner Berufstätigkeit vorübergehend längerfristig an einer anderen betrieblichen Einrichtung des Arbeitgebers nachgeht (§ 9 Abs. 5 i.V.m. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 Sätze 1 ff. EStG). Denn eine vorübergehende Tätigkeitsstätte wird nicht durch bloßen Zeitablauf zum Tätigkeitsmittelpunkt bzw. zur regelmäßigen Arbeitsstätte des Arbeitnehmers (vgl. , BFHE 212, 218, BStBl II 2006, 378; vom VI R 21/07, BFHE 222, 391, BStBl II 2009, 818; Schmidt/Krüger, EStG, 32. Aufl., § 19 Rz 110, Stichwort: Reisekosten <Auswärtstätigkeit>; R 9.4 Abs. 3 Satz 4 LStR). Vielmehr wird eine betriebliche Einrichtung des Arbeitgebers nur dann zur regelmäßigen Arbeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG, wenn der Arbeitgeber seinen Arbeitnehmer dieser Tätigkeitsstätte dauerhaft zugeordnet hat (, BFHE 236, 353, BStBl II 2012, 503; VI R 32/11, BFH/NV 2012, 936; vom VI R 55/10, BFHE 234, 164, BStBl II 2012, 38; VI R 36/10, BFHE 234, 160, BStBl II 2012, 36; VI R 58/09, BFHE 234, 155, BStBl II 2012, 34).

14 b) Ob der Arbeitnehmer lediglich —unter Beibehaltung seiner bisherigen regelmäßigen Arbeitsstätte— „vorübergehend” in einer anderen betrieblichen Einrichtung seines Arbeitgebers tätig wird oder von Anbeginn dauerhaft an den neuen Beschäftigungsort entsandt wurde und dort eine (neue) regelmäßige Arbeitsstätte begründet hat, ist nach den Gesamtumständen des Einzelfalls zu beurteilen (vgl. z.B. OFD Münster, Kurzinfo ESt Nr. 1/2011 vom , Der Betrieb 2011, 206; OFD Rheinland und bzw. S 2353-20-St 22-31, Deutsches Steuerrecht 2009, 432). Hierfür hat das FG insbesondere die der Auswärtstätigkeit zugrundeliegenden Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in den Blick zu nehmen und anhand dieser —ex ante (vgl. hierzu Senatsurteil vom VI R 22/10, BFHE 236, 426, BStBl II 2012, 827)— zu beurteilen, ob der Arbeitnehmer voraussichtlich an seine regelmäßige Arbeitsstätte zurückkehren und dort seine berufliche Tätigkeit fortsetzen wird. Denn das Gesetz gibt derzeit noch (anders als künftig § 9 Abs. 4 EStG i.d.F. des Gesetzes zur Änderung und Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts vom , BGBl I 2013, 285) keine zeitliche Obergrenze für die Annahme einer vorübergehenden Auswärtstätigkeit vor.

15 2. Die Entscheidung des FG entspricht diesen Grundsätzen nicht. Denn nach den gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindenden Feststellungen des FG war eine Tätigkeit des Klägers an der Landesfinanzschule lt. Abordnungsverfügung vom und Versetzungsverfügung vom „nach derzeitigem Stand…bis zum vorgesehen”. Die berufliche Verwendung des Klägers in Bad Eilsen war demnach, obwohl er im beamtenrechtlichen Sinne nicht nur (vorübergehend) abgeordnet (§ 27 Abs. 1 des Niedersächsischen Beamtengesetzes —NBG— vom , Niedersächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt 2009, 72) war, trotz der im Grundsatz nach § 31 NBG auf unbestimmte Zeit angelegten Versetzung auf drei Jahre befristet und damit nur vorübergehend. Eine regelmäßige Arbeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG liegt damit nicht vor. Der Kläger ist folglich auswärts tätig. Die Kosten für die Wege zwischen seiner Wohnung und der Landesfinanzschule Niedersachsen sind daher, entgegen der Auffassung von FA und FG, in tatsächlicher Höhe gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG zu berücksichtigen. Die Sache ist auch im Hinblick auf die Höhe der geltend gemachten Wegekosten spruchreif. Einwände gegen die vom Kläger vorgelegte Berechnung der tatsächlichen Fahrtkosten für die Fahrten zwischen seiner Wohnung und der Landesfinanzschule Niedersachsen sind vom FA weder vorgetragen noch ersichtlich.

Fundstelle(n):
BStBl 2014 II Seite 68
BB 2013 S. 2965 Nr. 49
BFH/NV 2014 S. 87 Nr. 1
BFH/PR 2014 S. 42 Nr. 2
BStBl II 2014 S. 68 Nr. 2
DB 2013 S. 2716 Nr. 48
DB 2013 S. 6 Nr. 48
DStR 2013 S. 2558 Nr. 48
DStRE 2014 S. 59 Nr. 1
DStZ 2014 S. 8 Nr. 1
FR 2014 S. 534 Nr. 11
HFR 2014 S. 18 Nr. 1
KÖSDI 2013 S. 18638 Nr. 12
NWB-Eilnachricht Nr. 49/2013 S. 3809
StB 2014 S. 2 Nr. 1
StBW 2013 S. 1130 Nr. 25
StuB-Bilanzreport Nr. 2/2014 S. 78
QAAAE-50010