BFH Beschluss v. - XI B 114/12

Vermeidung einer unzulässigen Überraschungsentscheidung durch Mitteilung einer in Betracht gezogenen Schätzungsmethode durch das FG

Gesetze: AO § 162, FGO § 96 Abs. 1, FGO § 96 Abs. 2, FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, FGO § 116 Abs. 6, GG Art. 103 Abs. 1

Instanzenzug:

Gründe

1 I. Die mit Gesellschaftsvertrag vom . 2007 gegründete Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin), eine GbR, betreibt einen Milchwirtschaftsbetrieb. Einer der beiden Gesellschafter der Klägerin ist eine niederländische Firma, die X, der andere Gesellschafter heißt Y.

2 Bei einer Außenprüfung wurde festgestellt, dass die Klägerin 2007 von der X insgesamt 79 Milchkühe aus den Niederlanden für ihr Unternehmen bezogen und im Gegenzug 80 Jungtiere in die Niederlande geliefert hatte. Die Klägerin behandelte die Lieferung als wertgleichen Tausch. Der Prüfer legte entsprechend den Angaben des Geschäftsführers der X, Herrn Z, pro Milchkuh als Wert einschließlich niederländischer Umsatzsteuer 1.250 € zugrunde und ging somit für die Besteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs i.S. von § 1a des Umsatzsteuergesetzes (UStG) von einer Bemessungsgrundlage von 93.160 € aus.

3 Der Beklagte und Beschwerdeführer (das Finanzamt —FA—) setzte die Umsatzsteuer mit Bescheid für das Jahr 2007 (Streitjahr) vom 16. Mai 2011 entsprechend fest und wies den hiergegen eingelegten Einspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Die Erwerbsschwelle i.S. von § 1a Abs. 3 Nr. 2 UStG von 12.500 € werde bei dem Erwerb der 79 Milchkühe aus den Niederlanden deutlich überschritten. Die Klägerin sei entgegen ihrer Auffassung erst zum . 2007 —und nicht schon zu einem früheren Zeitpunkt— entstanden.

4 Das Finanzgericht (FG) gab der hiergegen erhobenen Klage zum Teil statt. Zwar sei für die Klägerin im Zeitpunkt des Beginns ihrer unternehmerischen Tätigkeit absehbar gewesen, dass sie die Erwerbsschwelle nach § 1a Abs. 3 Nr. 2 UStG überschreiten werde. Der angefochtene Umsatzsteuerbescheid verletze die Klägerin jedoch insoweit in ihren Rechten, als das FA von einer zu hohen Bemessungsgrundlage für den innergemeinschaftlichen Erwerb ausgegangen sei.

5 Unstreitig habe die Klägerin im Zeitpunkt des Abschlusses des Gesellschaftsvertrages vom . 2007 beabsichtigt, Jungvieh in die Niederlande zu liefern und im Gegenzug Milchkühe aus den Niederlanden zu beziehen. Der Wert der aus den Niederlanden bezogenen Tiere sei dabei nach dem Wert der hingegebenen Tiere, also dem Jungvieh der Klägerin zu bemessen. Denn die sog. subjektive Bewertungsmethode werde beim Tausch dadurch umgesetzt, dass als Wert der Gegenleistung der Wert angesetzt werde, den der Leistende für diese aufwende. Die Auffassung des FA, dass der Verkehrswert und die Angabe des Geschäftsführers der Lieferantenfirma zugrunde zu legen seien, wonach die Tiere jeweils einen Wert von je 1.250 € hätten, sei unzutreffend.

6 Im Wege der Schätzung halte es das FG vielmehr für angemessen, den Wert der hingegebenen Tiere nach den Werten zu ermitteln, welche die Gesellschafter der Klägerin als fremde Dritte in dem zum . 2008 erstellten Jahresabschluss festgelegt hätten. Dort seien 85 Stück Jungvieh mit einem Wert von insgesamt 26.780 € aufgeführt. Hieraus errechne sich für die von der Klägerin hingegebenen 80 Tiere ein Mittelwert von 25.040 €. Da die Klägerin bis zur Übertragung der Tiere noch weitere Kosten gehabt habe, sei es angemessen, von einem Wert von 26.000 € für die hingegebenen Tiere auszugehen. Damit sei die Erwerbsschwelle des § 1a Abs. 3 Nr. 2 UStG überschritten. Die Umsatzsteuerfestsetzung sei gegenüber der bisherigen Festsetzung von . € zu ermäßigen auf eine festzusetzende Steuer von . €.

7 Mit der hiergegen eingelegten Nichtzulassungsbeschwerde beruft sich das FA auf das Vorliegen von Verfahrensfehlern i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) insbesondere in Gestalt einer unzulässigen Überraschungsentscheidung. Das FA trägt insoweit vor, dass die Wertermittlung der Bemessungsgrundlage, die das FG seiner Entscheidung letztlich zugrunde gelegt habe, nicht Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sei. Vielmehr habe das FA nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung davon ausgehen können, dass im Falle der teilweisen Klagestattgabe die Bemessungsgrundlage entsprechend dem Hilfsantrag der Prozessbevollmächtigten der Klägerin allenfalls auf 75.000 € herabgesetzt würde.

8 II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Sie führt nach § 116 Abs. 6 FGO zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.

9 1. Das Gericht hat eine i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO verfahrensfehlerhafte unzulässige Überraschungsentscheidung getroffen und damit gegen Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes und § 96 Abs. 2 FGO verstoßen.

10 a) Eine unzulässige Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das FG seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen musste (vgl. z.B. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs —BFH— vom 11. Februar 2003 XI B 4/02, BFH/NV 2003, 802; vom 20. November 2008 XI B 222/07, BFH/NV 2009, 404; vom 12. Dezember 2012 XI B 70/11, BFH/NV 2013, 705, Rz 28).

11 b) Im Streitfall sind diese Voraussetzungen erfüllt.

12 Das FG ist zwar im Rahmen der gebotenen Gewährung rechtlichen Gehörs grundsätzlich nicht gehalten, die Beteiligten darauf hinzuweisen, dass es —wie hier— von seiner gesetzlichen Schätzungsbefugnis nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. § 162 der Abgabenordnung Gebrauch machen will (vgl. z.B. , BFH/NV 2000, 537). Zur Vermeidung einer unzulässigen Überraschungsentscheidung ist es aber verpflichtet, den Beteiligten eine von ihm in Betracht gezogene, bisher nicht erörterte Schätzungsmethode vorweg mitzuteilen, wenn diese den bereits erörterten Schätzungsmethoden nicht mehr ähnlich ist oder die Einführung neuen Tatsachenstoffs erforderlich wird (vgl. , BFHE 135, 158, BStBl II 1982, 409, unter 1.e, und z.B. Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 96 FGO Rz 233, 145).

13 Das FG hat es ausweislich der Entscheidungsgründe seines Urteils als Schätzungsmethode für angemessen gehalten, den Wert der hingegebenen Tiere nach den Werten zu ermitteln, welche die Gesellschafter der Klägerin als fremde Dritte in dem zum . 2008 erstellten Jahresabschluss festgelegt hatten. Dabei handelt es sich um eine Schätzungsmethode, die nach dem unbestrittenen Vortrag des FA und der Aktenlage zu keiner Zeit erörtert wurde und die von den bisher vorgenommenen Wertermittlungen der Beteiligten erheblich abweicht. Die Vorgehensweise des FG ist daher in seiner Qualität einem nicht erkennbaren neuen rechtlichen Gesichtspunkt vergleichbar (BFH-Urteil in BFHE 135, 158, BStBl II 1982, 409, unter 1.e), bei dem den Beteiligten im Rahmen der gebotenen Gewährung rechtlichen Gehörs zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden muss.

14 2. Es ist geboten, nach § 116 Abs. 6 FGO die Vorentscheidung aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen, um es dem FG zu ermöglichen, die erforderliche Gewährung rechtlichen Gehörs zu der von ihm in seiner Entscheidung gewählten Schätzungsmethode nachzuholen.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


Fundstelle(n):
AO-StB 2013 S. 336 Nr. 11
BFH/NV 2013 S. 1947 Nr. 12
ZAAAE-46609