BAG Urteil v. - 10 AZR 777/12

Pauschale Entgelterhöhung - Besitzstandsregelung

Gesetze: § 362 Abs 1 BGB, § 366 Abs 1 BGB, § 6c Abs 5 SGB 2, § 1 TVG

Instanzenzug: ArbG Dresden Az: 3 Ca 1567/11 Urteilvorgehend Sächsisches Landesarbeitsgericht Az: 9 Sa 680/11 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über die Berechtigung des Beklagten, die tarifvertraglich für Januar 2011 vorgesehene „einmalige Sonderzahlung 2011“ in Höhe von 240,00 Euro brutto mit einer in diesem Monat geleisteten Ausgleichszahlung zu verrechnen.

2Die Klägerin war seit Oktober 1990 bei der Bundesagentur für Arbeit beschäftigt. Sie arbeitete hier zuletzt als Arbeitsvermittlerin im Bereich des SGB II. Seit dem wird das Arbeitsverhältnis mit dem Beklagten fortgeführt. Rechtsgrundlage für den Übergang des Arbeitsverhältnisses der Klägerin ist § 6c Abs. 3 SGB II. Die Vorschrift wurde im Rahmen der im Jahr 2010 vorgenommenen Neuordnung gesetzlicher Aufgaben im Bereich der Leistungen nach dem SGB II (Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisation der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom , BGBl. I S. 1112) eingeführt. Sie regelt, dass der neue Träger in die Rechte und Pflichten aus den Arbeitsverhältnissen eintritt, die zum Zeitpunkt des Übertritts bestehen. Vom Zeitpunkt des Übertritts an sind ausschließlich die für die Arbeitnehmer des neuen Trägers jeweils geltenden Tarifverträge anzuwenden. Nach § 6c Abs. 5 SGB II soll den Arbeitnehmern, die kraft Gesetzes in den Dienst eines anderen Trägers übertreten, grundsätzlich eine tarifrechtlich gleichwertige Tätigkeit übertragen werden. Wenn eine derartige Verwendung im Ausnahmefall nicht möglich ist, kann ihnen eine niedriger bewertete Tätigkeit übertragen werden. Verringert sich hiernach das Arbeitsentgelt, ist eine Ausgleichszahlung in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen dem Arbeitsentgelt bei dem abgebenden Träger zum Zeitpunkt des Übertritts und dem jeweiligen Arbeitsentgelt bei dem aufnehmenden Träger zu zahlen.

3Bei der Klägerin verringerte sich nach dem Übertritt zum Beklagten das monatliche Arbeitsentgelt. Im Januar 2011 belief sich die Differenz zwischen dem im Dezember 2010 bei der Bundesagentur für Arbeit bezogenen Gehalt und dem der Klägerin bei dem Beklagten zustehenden Tabellenentgelt auf 290,32 Euro brutto. Dementsprechend zahlte der Beklagte an die Klägerin für Januar 2011 das ihr zustehende Tabellenentgelt zuzüglich des Betrags von 290,32 Euro.

4Indes hatten die Beschäftigten des Beklagten nach dem Tarifvertrag über die einmalige Sonderzahlung 2011 vom (TV Sonderzahlung 2011) für Januar 2011 zusätzlich zu ihrem regelmäßigen Entgelt Anspruch auf eine einmalige Sonderzahlung in Höhe von 240,00 Euro. Diesen Betrag betrachtet der Beklagte als Teil des der Klägerin bei ihm zustehenden Monatsentgelts und verrechnete ihn mit der gesetzlichen Ausgleichszahlung.

5Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die einmalige Sonderzahlung sei zusätzlich zur gesetzlichen Ausgleichszahlung zu leisten und beeinflusse deren Höhe nicht. Der in § 6c Abs. 5 Satz 3 SGB II verwendete Begriff des „jeweiligen Arbeitsentgelts“ müsse so ausgelegt werden, dass von ihm lediglich das regelmäßige Entgelt erfasst werde. Im Streitfall handele es sich jedoch um eine tarifliche Sonderleistung, die nicht Teil des regelmäßigen Entgelts sei.

6Die Klägerin hat beantragt,

7Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Zum „jeweiligen Arbeitsentgelt“ beim aufnehmenden Träger habe im Januar 2011 auch die Einmalzahlung in Höhe von 240,00 Euro gehört. Deshalb habe er die Einmalzahlung mit der gesetzlichen Ausgleichszahlung verrechnen dürfen.

8Das Arbeitsgericht hat nach dem Klageantrag erkannt. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision erstrebt die Klägerin die Wiederherstellung des arbeitsgerichtlichen Urteils.

Gründe

9Die Revision hat keinen Erfolg. Die Klage ist unbegründet. Die Klägerin kann die begehrte Zahlung von 240,00 Euro nicht verlangen. Der Anspruch auf die tarifliche Sonderzahlung ist zwar entstanden. Er ist jedoch durch Erfüllung erloschen (§ 362 Abs. 1 BGB).

10I. Nach § 2 Abs. 1 TV Sonderzahlung 2011 stand der Klägerin mit dem Entgelt für Januar 2011 eine einmalige Sonderzahlung in Höhe von 240,00 Euro zu. Darüber streiten die Parteien nicht.

11II. Der Anspruch ist jedoch durch Erfüllung erloschen (§ 362 Abs. 1 BGB). Der Beklagte hat der Klägerin für den Monat Januar 2011 als Arbeitsentgelt einen Betrag von 3.775,56 Euro brutto gezahlt. Dieser Betrag enthielt auch die tarifliche Einmalzahlung für den Monat Januar 2011. Denn die Einmalzahlung war Teil des der Klägerin gegen den Beklagten zustehenden Arbeitsentgelts iSv. § 6c Abs. 5 Satz 3 SGB II. Dieses Entgelt bestand aus der tariflichen Tabellenvergütung und der Einmalzahlung. Beide waren als tarifliches Arbeitsentgelt für Januar 2011 geschuldet. Nach § 6c Abs. 5 Satz 3 SGB II war dieser Betrag um 50,32 Euro zu erhöhen, damit das Arbeitsentgelt insgesamt die für Dezember 2010 maßgebliche Höhe erreichte.

121. Bei der tariflichen Einmalzahlung handelt es sich um eine für den Monat Januar 2011 geschuldete pauschale Erhöhung des Arbeitsentgelts, nicht, wie die Klägerin meint, um eine anlass- oder leistungsbezogene Sonderzahlung. Das ergibt die Auslegung des Tarifvertrags.

13a) Die maßgebliche Vorschrift des § 2 TV Sonderzahlung 2011 lautet, soweit von Interesse:

14b) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl.  - Rn. 30, BAGE 124, 110; - 4 AZR 433/03 - zu I 1 b aa der Gründe, BAGE 111, 204; - 4 AZR 661/98 - zu I 1 a der Gründe, BAGE 92, 259) folgt die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei nicht eindeutigem Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mitzuberücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, gegebenenfalls auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt ( - Rn. 13).

15c) Der Wortlaut der Regelung legt das gefundene Auslegungsergebnis nahe. Die Zahlung ist nicht an anlass- oder leistungsbezogene Voraussetzungen außerhalb der Arbeitsleistung in dem Monat, für den sie geschuldet ist, gebunden. Sie ist an alle Arbeitnehmer zu leisten, die im Januar 2011 mindestens für einen Tag Anspruch auf Entgelt oder Entgeltfortzahlung haben. Bereits dies spricht dafür, dass es sich um eine einmalige Entgelterhöhung allein für den Monat Januar 2011 handeln sollte.

16d) Der tarifliche Gesamtzusammenhang und die Tarifgeschichte bestätigen dieses Ergebnis. Der Tarifvertrag über die Einmalzahlung ist Teil eines am Ende der Lohnrunde 2010 von den Tarifvertragsparteien vereinbarten Verhandlungsergebnisses. Die ausweislich der Tarifeinigung vom erzielten Übereinkünfte sehen unter der Rubrik „Entgelt“ drei Kategorien vor, nämlich einmal eine „lineare Erhöhung“, die in Vomhundertsätzen ausgedrückte Entgeltsteigerungen regelt, ferner eine ebenso angelegte Erhöhung von Leistungsentgelten sowie als „soziale Komponente“ eine Einmalzahlung. Da die Einmalzahlung keinem besonderen Zweck zugeordnet ist und im Wesentlichen unterschiedslos an alle Arbeitnehmer gezahlt wird, kann sie nur Bestandteil der allgemeinen Erhöhung sein. Der Begriff „soziale Komponente“ steht dem nicht im Wege, sondern bestätigt das Ergebnis. Er soll den Umstand kennzeichnen, dass pauschale, in Festbeträgen vereinbarte Einmalzahlungen in den unteren Entgeltgruppen einem höheren Vomhundertsatz entsprechen als in den oberen Entgeltgruppen. Insofern begünstigt die Regelung die Bezieher niedrigerer Entgelte prozentual stärker als die Bezieher höherer Entgelte.

17e) Unterstrichen wird dieses Verständnis durch § 2 Abs. 4 TV Sonderzahlung 2011, nach dem die Sonderzahlung bei der Bemessung sonstiger Leistungen nicht zu berücksichtigen ist. Die Bestimmung stellt klar, dass die Einmalzahlung keinen Einfluss auf Leistungen des Arbeitgebers hat, die sich nach dem regelmäßigen Entgelt berechnen, zB Fortzahlung von Vergütung im Krankheitsfall. Dieser Vorschrift hätte es nicht bedurft, wenn es sich nicht um eine pauschale Erhöhung des Entgelts handeln würde. Durchgreifende Anhaltspunkte dafür, mit „sonstigen Leistungen“ seien auch gesetzliche Zahlungsansprüche - und insbesondere die Ausgleichszahlungen nach § 6c Abs. 5 Satz 3 SGB II - gemeint, liegen nicht vor, zumal die betreffenden gesetzlichen Regelungen erst etwa ein halbes Jahr nach Abschluss des Tarifvertrags eingeführt wurden.

182. Damit hatte die Klägerin für den Monat Januar 2011 einen um 240,00 Euro erhöhten Anspruch auf Entgelt gegen den Beklagten. Unstreitig betrug ihr Anspruch auf das Tabellenentgelt beim Beklagten 3.485,24 Euro. Einschließlich der Einmalzahlung belief sich der Anspruch auf Arbeitsentgelt für den Monat Januar 2011 auf 3.725,24 Euro. Erhalten hat die Klägerin für den Monat Januar 2011 3.775,56 Euro. Der Unterschiedsbetrag in Höhe von 50,32 Euro zwischen dem Entgeltanspruch (einschließlich Einmalzahlung) gegen den Beklagten und dem zuletzt bei der Bundesagentur für Arbeit bestehenden Entgeltanspruch (3.775,56 Euro) stand ihr nach § 6c Abs. 5 Satz 3 SGB II als Ausgleich zu. Einen weiter gehenden Anspruch gewährt die Vorschrift nicht.

19a) Die Vorschrift des § 6c Abs. 5 SGB II will zugunsten der nach § 6c Abs. 1 und Abs. 3 SGB II von dem Wechsel des Arbeitgebers betroffenen Arbeitnehmer die bisherige Vergütungshöhe sichern. Der Nachteil, den diejenigen Arbeitnehmer erleiden, denen beim kommunalen Träger keine tarifrechtlich mit der bisher für die Bundesagentur ausgeübten Arbeit gleichwertige Tätigkeit zugewiesen werden kann, soll nach näherer Maßgabe der Vorschrift aufgefangen werden. Spätere Erhöhungen des Grundgehalts beim aufnehmenden Träger sind anzurechnen. Diese für Beamte in § 6c Abs. 4 SGB II ausdrücklich vorgeschriebene Regelung sollte im Ergebnis auch für Angestellte gelten (vgl. BT-Drucks. 17/1555 S. 20). Es handelt sich demnach um eine Besitzstandsregelung, die die im Dezember 2010 bezogene regelmäßige monatliche Arbeitsvergütung als Untergrenze für die ab Januar 2011 zu zahlende monatliche Vergütung festschreibt. Die Höhe der Ausgleichszahlung ist monatlich durch Abzug des beim Beklagten an sich zu zahlenden Monatsentgelts von dem im Dezember des Vorjahres bei der Bundesagentur für Arbeit bezogenen Monatsentgelt zu berechnen. Zwar sieht § 6c Abs. 5 Satz 3 SGB II die monatliche Berechnungsweise nicht ausdrücklich vor. Sie ergibt sich aber daraus, dass das Arbeitsentgelt zum Zeitpunkt des Übertritts mit dem jeweiligen Arbeitsentgelt bei dem aufnehmenden Träger vergleichen wird; das Arbeitsentgelt ist in den maßgeblichen Tarifverträgen als Monatsvergütung geregelt und nur so kann das Ziel des Gesetzgebers erreicht werden, eine verlässliche, zeitnahe und in ihrer Höhe leicht berechenbare Bestandssicherung zu erreichen.

20b) Da sich der der Klägerin gegen den Beklagten zustehende Entgeltanspruch nach § 2 Abs. 1 TV Sonderzahlung 2011 um 240,00 Euro erhöhte, betrug die nach § 6c Abs. 5 Satz 3 SGB II auszugleichende Differenz für Januar 2011 lediglich 50,32 Euro, während sie sich in den Folgemonaten auf die Differenz zwischen dem gesicherten Entgeltanspruch Dezember 2010 und dem (geringeren) jeweiligen monatlichen Entgeltanspruch belief.

21c) Zu Unrecht meint die Revision, die auf die Sonderzahlung gerichtete Forderung sei deshalb nicht mit der Vergütungsleistung zuzüglich Ausgleichszahlung für Januar 2011 erfüllt worden, weil der Beklagte offenbar in der zunächst für Januar 2011 erteilten Abrechnung den Betrag von 240,00 Euro nicht gesondert ausgewiesen hat.

22aa) Diese Auffassung ist nicht richtig. Der Beklagte hat mit Zahlung in der geschuldeten Höhe für Januar 2011 eine Tilgungsbestimmung iSd. § 366 Abs. 1 BGB getroffen, die zum Erlöschen des Anspruchs auf die Einmalzahlung geführt hat. Eine Tilgungsbestimmung braucht nicht ausdrücklich getroffen zu werden, sondern kann sich auch konkludent aus den Umständen des Einzelfalls, insbesondere aus der Interessenlage ergeben ( - zu II 1 c der Gründe). Ihr Inhalt ist der Auslegung nach den allgemeinen Grundsätzen zugänglich (§§ 133, 157 BGB). Die Tilgungsbestimmung des Leistenden setzt keine rechtlich zutreffende Qualifizierung der geschuldeten Forderung voraus ( - zu II 3 c aa der Gründe, BAGE 101, 247).

23bb) Im Streitfall ist bei der Auslegung der Tilgungsbestimmung von entscheidender Bedeutung, dass die Klägerin einen Entgeltanspruch für Januar 2011 in Höhe von 3.775,56 Euro brutto einschließlich Sonderzahlung und Ausgleichszahlung hatte. In dieser Höhe hat der Beklagte Zahlung geleistet. Mangels entgegenstehender Erklärungen bei Zahlung ist davon auszugehen, dass der Beklagte den gesamten der Klägerin zustehenden Entgeltanspruch für Januar 2011 erfüllen wollte. Es handelt sich hierbei um einen einheitlichen Lebenssachverhalt. Der Beklagte bekundete durch die Zahlung, der Klägerin eben den Betrag zahlen zu wollen, auf den sie nach Gesetz und Tarifvertrag Anspruch hatte. Die Annahme, er habe einen Anspruch erfüllen wollen, der der Klägerin nach seiner zutreffenden Auffassung gar nicht zustand, liegt fern. Die Ausführungen der Revision zu Fragen der Aufrechnung gehen daher ins Leere.

24III. Die Kosten der Revision hat die Klägerin nach § 97 Abs. 1 ZPO zu tragen.

Fundstelle(n):
BB 2013 S. 2676 Nr. 44
MAAAE-46473