BSG Urteil v. - B 11 AL 5/12 R

Anspruch auf Gründungszuschuss - Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit im Ausland - Wohnsitz im Ausland - keine verfassungsrechtlichen Bedenken

Leitsatz

Bei einem Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt im außereuropäischen Ausland besteht kein Anspruch auf Gründungszuschuss.

Gesetze: § 30 Abs 1 SGB 1, § 30 Abs 3 S 1 SGB 1, § 57 Abs 1 SGB 3 vom , § 58 SGB 3, Art 3 Abs 1 GG, Art 14 Abs 1 S 2 GG

Instanzenzug: Az: S 1 AL 97/08 Urteilvorgehend Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Az: L 9 AL 100/11 Urteil

Tatbestand

1Streitig ist, ob der Kläger Anspruch auf Gewährung eines Gründungszuschusses (GZ) hat.

2Der Kläger war bis als Ingenieur selbstständig tätig und stand seit in einem Versicherungspflichtverhältnis auf Antrag gemäß § 28a Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III). In der Zeit vom bis zum bezog er Arbeitslosengeld. Seit dem übt der Kläger in Katar eine Tätigkeit als freiberuflicher Ingenieur aus.

3Den am gestellten Antrag auf Gewährung eines GZ zur Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit als international tätiger Ingenieur lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, es handle sich nicht um eine Neugründung iS des § 57 SGB III (Bescheid vom ). Nachdem der Kläger Widerspruch eingelegt hatte, ermittelte die Beklagte über eine Anfrage beim Einwohnermeldeamt, dass der Kläger am seinen Wohnsitz nach Katar verlegt hatte. Die Beklagte wies den Widerspruch zurück und führte zur Begründung ua aus, die Voraussetzungen für die Gewährung eines GZ seien jedenfalls deshalb nicht erfüllt, weil die Tätigkeit nicht im Geltungsbereich des SGB III ausgeübt werde (Widerspruchsbescheid vom ).

4Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom ). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückgewiesen (Urteil vom ). In den Entscheidungsgründen hat das LSG ua ausgeführt: Es könne dahinstehen, ob der Kläger die Voraussetzungen für einen GZ gemäß § 57 SGB III erfülle. Denn aus § 30 Abs 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) folge, dass die Vorschriften des deutschen Sozialrechts einschließlich des § 57 SGB III nicht anwendbar seien. Der Kläger habe seit Beginn der Ausübung der selbstständigen Tätigkeit weder seinen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Er habe seinen Lebensmittelpunkt bereits mit Beginn der selbstständigen Tätigkeit nach Katar verlagert, um sich hier aufzuhalten und eine wirtschaftliche Existenz aufzubauen. Eine Anwendbarkeit des § 57 SGB III ergebe sich nicht aus abweichenden Kollisionsnormen in den besonderen Teilen des Sozialgesetzbuchs (SGB). Etwas anderes folge weder aus Sinn und Zweck des GZ noch aus einer verfassungskonformen Auslegung des § 30 Abs 1 SGB I unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und des Bundessozialgerichts (BSG).

5Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 30 Abs 1 SGB I. Für die Gewährung eines GZ reiche es aus, dass die Beendigung der Arbeitslosigkeit in Deutschland erreicht werde (Hinweis auf ). Selbst bei Zugrundelegung der Rechtsauffassung des LSG stehe ihm jedenfalls bis Februar 2009 ein GZ zu. Er habe nämlich seine Wohnung in Deutschland zunächst noch beibehalten, weil er bei der Einreise nach Katar hinsichtlich des Gelingens der Existenzgründung noch unsicher gewesen sei, und er habe die Wohnung erst zum Ende des Monats Februar 2009 gekündigt.

6Der Kläger beantragt,das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom und das Urteil des Sozialgerichts Münster vom sowie den Bescheid der Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab einen GZ zu gewähren.

7Die Beklagte beantragt,die Revision des Klägers zurückzuweisen.

8Sie hält das angefochtene Urteil des LSG für zutreffend und trägt ergänzend vor, der territoriale Bezug zum Geltungsbereich des SGB müsse bei Eintritt des leistungsbegründenden Ereignisses (Aufnahme der selbstständigen Tätigkeit) sowie während des gesamten Förderungszeitraums gegeben sein und könne nicht allein durch einen in der Vergangenheit liegenden Bezug zur Versichertengemeinschaft in Deutschland hergestellt werden.

Gründe

9Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das LSG hat zutreffend entschieden, dass der Kläger keinen Anspruch auf einen GZ hat.

101. Als Anspruchsgrundlage für das Begehren des Klägers kommt nur § 57 SGB III in der ab geltenden Fassung des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom (BGBl I 1706) in Betracht. Nach § 57 Abs 1 SGB III haben Arbeitnehmer, die durch Aufnahme einer selbstständigen, hauptberuflichen Tätigkeit die Arbeitslosigkeit beenden, zur Sicherung des Lebensunterhalts und zur sozialen Sicherung in der Zeit nach der Existenzgründung Anspruch auf einen GZ, wenn sie die im Einzelnen in § 57 Abs 2 SGB III genannten Voraussetzungen erfüllen (ua Anspruch auf eine Entgeltersatzleistung nach dem SGB III bzw Ausübung einer als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme geförderten Beschäftigung bis zur Aufnahme der selbstständigen Tätigkeit, Nachweis der Tragfähigkeit der Existenzgründung). Dagegen kann § 421l SGB III idF des Fünften Gesetzes zur Änderung des SGB III und anderer Gesetze vom (BGBl I 3676) nicht als Rechtsgrundlage herangezogen werden, weil nach dessen Abs 5 die Regelungen vom an nur noch Anwendung finden, wenn der Anspruch auf Förderung vor diesem Tag bestanden hat, was bei Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit am nicht der Fall sein kann.

112. Das LSG hat zu Recht offengelassen, ob die Anspruchsvoraussetzungen des § 57 SGB III erfüllt sind. Denn ein Anspruch des Klägers scheitert bereits an § 30 Abs 1 SGB I, der die Vorschriften des SGB auf Personen begrenzt, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Geltungsbereich haben (Territorialitätsprinzip). Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG hatte der Kläger in der streitgegenständlichen Zeit ab in Deutschland weder seinen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt.

12a) Den Feststellungen des LSG ist zu entnehmen, dass der Kläger ab seinen Wohnsitz in Katar hatte. Nach § 30 Abs 3 S 1 SGB I hat jemand seinen Wohnsitz dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Entscheidend sind die tatsächlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse; der Wohnsitz liegt dort, wo jemand den Schwerpunkt der Lebensverhältnisse hat (vgl BSG SozR 3-5870 § 2 Nr 36 S 140 ff; BSG SozR 4-7837 § 12 Nr 1 RdNr 18; Seewald in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 30 SGB I, RdNr 15 ff, Stand Einzelkommentierung September 2007).

13Das LSG hat ausgeführt, der Kläger habe seinen Lebensmittelpunkt bereits mit Beginn der selbstständigen Tätigkeit, also ab , nach Katar verlagert, weil er sich dort in Zukunft habe aufhalten und sich eine wirtschaftliche Existenz habe aufbauen wollen. Bei diesen Ausführungen handelt es sich um tatsächliche Feststellungen, an die der Senat gebunden ist (§ 163 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Der Kläger hat gegen diese Feststellungen keine zulässigen und begründeten Revisionsrügen erhoben.

14Soweit der Kläger im Revisionsverfahren vorträgt, er habe zunächst noch seine Wohnung in Deutschland beibehalten, weil er hinsichtlich des Gelingens der Existenzgründung noch unsicher gewesen sei, handelt es sich um tatsächliches Vorbringen, das offen lässt, wo der Schwerpunkt der Lebensverhältnisse gewesen ist. Die Tatsache der Zahlung von Miete für die bisherige Wohnung in Deutschland für eine Übergangszeit hat das LSG ohnehin berücksichtigt; es hat dazu ausgeführt, die Mietzahlung ändere nichts an der Verlagerung des Lebensmittelpunkts nach Katar. Soweit der Sachvortrag des Klägers allerdings die genannten Feststellungen des LSG in Frage stellen will, ist er im Revisionsverfahren unbeachtlich (vgl nur BSGE 89, 250, 252 = SozR 3-4100 § 119 Nr 24 mwN; BSG SozR 4-2700 § 8 Nr 24 RdNr 23).

15b) Aus den Feststellungen des LSG zum Lebensmittelpunkt des Klägers folgt auch, dass der Kläger ab seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Katar und damit nicht mehr im Geltungsbereich des SGB hatte. Denn den gewöhnlichen Aufenthalt hat gemäß § 30 Abs 3 S 2 SGB I jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Das insoweit erforderliche subjektive Element, nämlich der Wille, auf längere Dauer an dem betreffenden Ort zu verweilen (vgl BSGE 60, 262, 263 = SozR 1200 § 30 Nr 10 mwN), der im Wege einer vorausschauenden Betrachtungsweise (Prognose) festzustellen ist (vgl BSG SozR 4-1200 § 30 Nr 6 RdNr 25 mwN), war nach den im Revisionsverfahren maßgebenden Ausführungen des LSG gegeben.

163. Ebenfalls zu Recht hat das LSG angenommen, dass im vorliegenden Fall § 30 SGB I nicht durch abweichende Regelungen des deutschen Rechts (vgl § 37 S 1 SGB I) oder des über- und zwischenstaatlichen Rechts verdrängt wird. Insbesondere ist § 57 SGB III in der hier anzuwendenden Fassung (s oben 1.) nicht zu entnehmen, es reiche bereits ein in der Vergangenheit liegender Bezug zur Versichertengemeinschaft aus.

17Zwar trifft es zu, dass der GZ an Arbeitnehmer geleistet wird, die durch Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit die Arbeitslosigkeit in Deutschland beenden (§ 57 Abs 1 SGB III), die (ua) bis zur Aufnahme einen Anspruch auf eine Entgeltersatzleistung nach dem SGB III haben und die bei Aufnahme noch über eine bestimmte Dauer eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld verfügen (§ 57 Abs 2 S 1 Nr 1 und 2 SGB III). Aus § 57 SGB III in der einschlägigen Fassung ergibt sich über die genannten Regelungen hinaus aber auch, dass die Tragfähigkeit der Existenzgründung nachgewiesen sein muss (§ 57 Abs 2 S 1 Nr 3 SGB III) und dass die Leistung zur Sicherung des Lebensunterhalts und zur sozialen Sicherung erbracht wird (§ 57 Abs 1 SGB III, vgl auch § 58 SGB III). Insofern kann die zu § 421l SGB III idF des Zweiten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom , BGBl I 4621, ergangene Rechtsprechung des Senats ( - BSGE 101, 224 = SozR 4-4300 § 421l Nr 2) nicht auf die vorliegende Fallgestaltung übertragen werden, weil für den Existenzgründungszuschuss nach der vorgenannten Vorschrift weder die Prüfung einer Erfolgsaussicht noch eine Zweckbindung zur sozialen Sicherung vorgeschrieben war (vgl Urteil vom aaO RdNr 22, 29).

18Durch die Gesamtregelung des § 57 iVm § 58 SGB III kommt somit zum Ausdruck, dass während des Leistungsbezugs auch die weitere Ausübung der selbstständigen Tätigkeit gegeben sein muss, weshalb ein territorialer Bezug auch für die Zeit ab Aufnahme dieser Tätigkeit als erforderlich anzusehen ist. Es kann folglich - wie das LSG zutreffend ausgeführt hat - nicht angenommen werden, durch § 57 SGB III sei die allgemeine Regel des § 30 SGB I modifiziert worden. Dem Vorbringen der Revision, § 57 SGB III erfordere ausschließlich die Beendigung der Arbeitslosigkeit in Deutschland (so - nicht entscheidungserheblich - zu § 57 SGB III in der ab geltenden Fassung: ), ist nicht zu folgen.

194. Dass der Kläger unter den gegebenen Umständen keinen Anspruch auf GZ hat, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Es ist weder eine Verletzung des Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG) noch eine Verletzung des Art 14 GG ersichtlich.

20Insbesondere steht dem Ausschluss eines Leistungsanspruchs nicht die Rechtsprechung des BVerfG und des BSG entgegen, wonach es dem Gesetzgeber nicht frei steht, ohne gewichtige sachliche Gründe den Anknüpfungspunkt zwischen Beitragserhebung und Leistungsberechtigung zu wechseln ( - SozR 3-1200 § 30 Nr 20; - SozR 4-4300 § 119 Nr 7 und vom - B 11 AL 25/08 R - BSGE 104, 280 = SozR 4-1200 § 30 Nr 5). Denn die dieser Rechtsprechung zugrunde liegenden Fallgestaltungen, die vor allem Personen mit zeitweiligem grenznahen Auslandswohnsitz betreffen, sind mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbar. In einem Fall wie dem des Klägers, der während der Versicherungspflicht gemäß § 28a SGB III im Inland gewohnt und danach den Wohnsitz und den gewöhnlichen Aufenthalt in das außereuropäische Ausland verlegt hat, ist der Gesetzgeber nicht gehindert, den Leistungsanspruch von einem fortbestehenden Bezug zum Inland abhängig zu machen. Insoweit stellt die gesetzliche Regelung nach § 57 SGB III iVm § 30 Abs 1 SGB I auch eine zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung iS des Art 14 Abs 2 S 1 GG dar.

215. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2013:060313UB11AL512R0

Fundstelle(n):
NAAAE-42702