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BVerfG Urteil v. - 2 BvR 2134/92, 2 BvR 2159/92

Verfassungsmäßigkeit des Vertrages von Maastricht

Leitsatz

1. Im Anwendungsbereich des Art 23 GG schließt Art 38 GG aus, die durch die Wahl bewirkte Legitimation und Einflußnahme auf die Ausübung von Staatsgewalt durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so zu entleeren, daß das demokratische Prinzip, soweit es Art 79 Abs 3 in Verbindung mit Art 20 Abs 1 und 2 GG für unantastbar erklärt, verletzt wird.

2. Das Demokratieprinzip hindert die Bundesrepublik Deutschland nicht an einer Mitgliedschaft in einer – supranational organisierten – zwischenstaatlichen Gemeinschaft. Voraussetzung der Mitgliedschaft ist aber, daß eine vom Volk ausgehende Legitimation und Einflußnahme auch innerhalb des Staatenverbundes gesichert ist.

3. a) Nimmt ein Verbund demokratischer Staaten hoheitliche Aufgaben wahr und übt dazu hoheitliche Befugnisse aus, sind es zuvörderst die Staatsvölker der Mitgliedstaaten, die dies über die nationalen Parlamente demokratisch zu legitimieren haben. Mithin erfolgt demokratische Legitimation durch die Rückkopplung des Handelns europäischer Organe an die Parlamente der Mitgliedstaaten; hinzu tritt – im Maße des Zusammenwachsens der europäischen Nationen zunehmend – innerhalb des institutionellen Gefüges der Europäischen Union die Vermittlung demokratischer Legitimation durch das von den Bürgern der Mitgliedstaaten gewählte Europäische Parlament.

b) Entscheidend ist, daß die demokratischen Grundlagen der Union schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden und auch im Fortgang der Integration in den Mitgliedstaaten eine lebendige Demokratie erhalten bleibt.

4. Vermitteln – wie gegenwärtig – die Staatsvölker über die nationalen Parlamente demokratische Legitimation, sind der Ausdehnung der Aufgaben und Befugnisse der Europäischen Gemeinschaften vom demokratischen Prinzip her Grenzen gesetzt. Dem Deutschen Bundestag müssen Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben.

5. Art 38 GG wird verletzt, wenn ein Gesetz, das die deutsche Rechtsordnung für die unmittelbare Geltung und Anwendung von Recht der – supranationalen – Europäischen Gemeinschaften öffnet, die zur Wahrnehmung übertragenen Rechte und das beabsichtigte Integrationsprogramm nicht hinreichend bestimmbar festlegt (vgl BVerfG, 1981-06-23, 2 BvR 1107/77, BVerfGE 58, 1 <37>). Das bedeutet zugleich, daß spätere wesentliche Änderungen des im Unions-Vertrag angelegten Integrationsprogramms und seiner Handlungsermächtigungen nicht mehr vom Zustimmungsgesetz zu diesem Vertrag gedeckt sind. Das Bundesverfassungsgericht prüft, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen (vgl BVerfG, 1987-04-08, 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223).

6. Bei der Auslegung von Befugnisnormen durch Einrichtungen und Organe der Gemeinschaften ist zu beachten, daß der Unions-Vertrag grundsätzlich zwischen der Wahrnehmung einer begrenzt eingeräumten Hoheitsbefugnis und der Vertragsänderung unterscheidet, seine Auslegung deshalb in ihrem Ergebnis nicht einer Vertragserweiterung gleichkommen darf; eine solche Auslegung von Befugnisnormen würde für Deutschland keine Bindungswirkung entfalten.

7. Auch Akte einer besonderen, von der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten geschiedenen öffentlichen Gewalt einer supranationalen Organisation betreffen die Grundrechtsberechtigten in Deutschland. Sie berühren damit die Gewährleistungen des Grundgesetzes und die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts, die den Grundrechtsschutz in Deutschland und insoweit nicht nur gegenüber deutschen Staatsorganen zum Gegenstand haben (Abweichung von BVerfGE 58, 1 <27>). Allerdings übt das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in Deutschland in einem „Kooperationsverhältnis” zum Europäischen Gerichtshof aus.

8. Der Unionsvertrag begründet einen Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der – staatlich organisierten – Völker Europas (Art A EUV, juris = EUVtr), keinen sich auf ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat.

9. a) Art F Abs 3 EUV ermächtigt die Union nicht, sich aus eigener Macht die Finanzmittel oder sonstige Handlungsmittel zu verschaffen, die sie zur Erfüllung ihrer Zwecke für erforderlich erachtet.

b) Art L EUV schließt die Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs nur für solche Vorschriften des Unions-Vertrags aus, die nicht zu Maßnahmen der Union mit Durchgriffswirkung auf den Grundrechtsträger im Hoheitsbereich der Mitgliedstaaten ermächtigen.

c) Die Bundesrepublik Deutschland unterwirft sich mit der Ratifikation des Unions-Vertrags nicht einem unüberschaubaren, in seinem Selbstlauf nicht mehr steuerbaren „Automatismus” zu einer Währungsunion; der Vertrag eröffnet den Weg zu einer stufenweisen weiteren Integration der europäischen Rechtsgemeinschaft, der in jedem weiteren Schritt entweder von gegenwärtig für das Parlament voraussehbaren Voraussetzungen oder aber von einer weiteren, parlamentarisch zu beeinflussenden Zustimmung der Bundesregierung abhängt.

Orientierungssatz

1. Zu Ls 1: Die Einräumung von Hoheitsbefugnissen an die Europäische Union und die ihr zugehörigen Gemeinschaften prüft das BVerfG am Maßstab des Gewährleistungsinhalts von GG Art 38, der auch das Recht umfaßt, durch die Wahl an der Legitimation der Staatsgewalt durch das Volk auf Bundesebene mitzuwirken und auf ihre Ausübung Einfluß zu nehmen.

2. Zu Ls 8: Zu beurteilen ist das Zustimmungsgesetz zu einer Mitgliedschaft Deutschlands in einem Staatenverbund, nicht die Frage, ob das GG eine deutsche Mitgliedschaft in einem europäischen Staat erlaubt oder ausschließt.

Der Unions-Vertrag nimmt auf die Unabhängigkeit und Souveränität der Mitgliedstaaten Bedacht, indem er die Union zur Achtung der nationalen Identität ihrer Mitgliedstaaten verpflichtet (EUVtr Art F Abs 1). Eine Gründung „Vereinigter Staaten von Europa” ist derzeit nicht beabsichtigt.

Die BRD ist auch nach dem Inkrafttreten des Unions-Vertrags Mitglied in einem Staatenverbund, dessen Gemeinschaftsgewalt sich von den Mitgliedstaaten ableitet und im deutschen Hoheitsbereich nur kraft des deutschen Rechtsanwendungsbefehls verbindlich wirken kann.

Deutschland könnte seine Zugehörigkeit an den „auf unbegrenzte Zeit” geschlossenen Unions-Vertrag (EUVtr Art Q) mit dem Willen zur langfristigen Mitgliedschaft aber letztlich durch einen gegenläufigen Akt auch wieder aufheben und somit wahrt es die Qualität eines souveränen Staates aus eigenem Recht sowie den Status der souveränen Gleichheit mit anderen Staaten.

3. Der Unions-Vertrag genügt den Bestimmtheitsanforderungen, weil er den künftigen Vollzugsverlauf – auch im Hinblick auf die Zuweisung weiterer Aufgaben und Befugnisse an die EU und die EG – hinreichend voraussehbar normiert. Der Vertrag folgt durch eine deutliche Unterscheidung der Art und Intensität der eingeräumten Befugnisse dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung; dieses wird durch EUVtr Art F Abs 3, der keine Kompetenz-Kompetenz der Union begründet, nicht in Frage gestellt.

Ferner ist die Inanspruchnahme weiterer Aufgaben und Befugnisse durch die Europäische Union und die Europäischen Gemeinschaften von Vertragsergänzungen und -änderungen abhängig gemacht und daher der zustimmenden Entscheidung der nationalen Parlamente vorbehalten.

4. Die Handhabung des Prinzips der beschränkten Einzelermächtigung wird durch das Subsidiaritätsprinzip verdeutlicht und weiter begrenzt. Seine Anwendung darf jedoch die hergebrachten Grundsätze des Gemeinschaftsrechts nicht berühren, da zu diesen eine Kompetenz-Kompetenz der Gemeinschaft gerade nicht gehört. Gemeinschaftskompetenzen müssen jeweils durch den Vertrag eingeräumt sein, wie dies EGVtr Art 3b Abs 1 festlegt.

Das Subsidiaritätsprinzip (EGVtr Art 3b Abs 2) begründet mithin keine Befugnisse der EG, sondern begrenzt die Ausübung bereits anderweitig eingeräumter Befugnisse. Besteht eine vertragliche Handlungsbefugnis, so bestimmt das Subsidiaritätsprinzip, ob und wie die EG tätig werden darf. Damit sollen die nationale Identität gewahrt und ihre Befugnisse erhalten bleiben.

5. Neben dem Prinzip der beschränkten Einzelermächtigung und der Subsidiarität regelt als drittes grundlegendes Prinzip der Gemeinschaftsverfassung EGVtr Art 3b Abs 3 den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mit dem darin enthaltenen Übermaßverbot, um damit die Aufgaben und Befugnisse ihrer Parlamente gegen ein Übermaß europäischer Regelungen zu wahren.

6. Der Vertrag über die Europäische Union trifft eine völkerrechtliche Vereinbarung über einen auf Fortentwicklung angelegten mitgliedstaatlichen Verbund. Vollzug und Entwicklung des Vertrages müssen vom Willen der Vertragspartner getragen sein. Die in EGVtr Art 102a ff vorgesehene Wirtschafts- und Währungsunion läßt sich wegen der wechselseitigen Bedingtheit von vertraglich vereinbarter Währungsunion und vorausgesetzter Entwicklung auch zu einer Wirtschaftsunion nur bei der stetigen ernsthaften Vollzugsbereitschaft aller Mitgliedstaaten verwirklichen.

7. Zu Ls 9c: Die im Unions-Vertrag vorgesehene Einräumung von Aufgaben und Befugnissen europäischer Organe beläßt dem Deutschen Bundestag noch hinreichende Aufgaben und Befugnisse von substantiellem politischem Gewicht. Der Vertrag setzt der in ihm angelegten Dynamik einer weiteren Integration auch eine hinreichend verläßliche Grenze, die eine Ausgewogenheit zwischen der Struktur gouvernementaler Entscheidung im europäischen Staatenverbund und den Entscheidungsvorbehalten sowie Mitentscheidungsrechten des Deutschen Bundestages wahrt. Soweit die Einflußmöglichkeiten des Bundestages und damit auf die Wahrnehmung von Hoheitsrechten durch europäische Organe nahezu vollständig zurückgenommen sind (Ausstattung der Europäischen Zentralbank mit Unabhängigkeit gegenüber den Mitgliedstaaten gemäß EGVtr Art 107), so ist durch diese Einschränkung der demokratischen Legitimation zwar das Demokratieprinzip berührt. Die nach dem gesetzgeberischen Willen auf die Institution der Europäischen Zentralbank begrenzte Einräumung unabhängig gestellter Befugnisse ist jedoch als eine – im Hinblick auf die Sicherung des in eine Währung gesetzten Einlösevertrauens – vertretbare und mit GG Art 79 Abs 3 vereinbare Modifikation des Demokratieprinzips zu werten (GG Art 88 S 2).

8. Die Europäische Union achtet nach EUVtr Art F Abs 1 die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten, deren Regierungssysteme auf demokratischen Grundlagen beruhen. Entscheidend ist sowohl aus vertraglicher wie aus verfassungsrechtlicher Sicht, daß diese schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden und auch im Fortgang der Integration in den Mitgliedstaaten eine lebendige Demokratie erhalten bleibt.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


Fundstelle(n):
ZAAAE-41256

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