Arbeitsvertragliche Bezugnahme - teilgekündigter Tarifvertrag mit Bezugnahme auf Ortszuschlag nach BAT-O
Gesetze: § 1 TVG, § 4 Abs 5 TVG, § 29 BAT, § 29 BAT-O
Instanzenzug: ArbG Chemnitz Az: 3 Ca 954/08 Urteilvorgehend Sächsisches Landesarbeitsgericht Az: 5 Sa 184/09 Urteil
Tatbestand
1Die Parteien streiten über die Höhe des Ortszuschlags.
2Der seit dem verheiratete Kläger ist seit dem im Orchester der Beklagten als Musiker beschäftigt. Die Parteien sind kraft beiderseitiger Verbandszugehörigkeit ua. an den Tarifvertrag für die Musiker in Kulturorchestern vom (TVK) gebunden, der zwischen dem Deutschen Bühnenverein e. V. (DBV) und der Deutschen Orchestervereinigung e. V. (DOV) sowie der damaligen Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr abgeschlossen worden ist. In § 3 ihres Arbeitsvertrages vom haben die Parteien vereinbart, dass
3Die Regelungen des TVK lauten:
4Die maßgebenden Bestimmungen des BAT-O zum Ortszuschlag für die Beklagte mit Standort in dem in Art. 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet (§ 1 BAT-O) ist die Regelung in § 29 BAT-O, in der es heißt:
5Der am in Kraft getretene und den BAT-O ablösende Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) sieht keinen Ortszuschlag mehr vor.
6Mit Schreiben vom kündigte der DBV die §§ 15, 21, 23, 26 und 36 Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 2 TVK zum und später den übrigen TVK zum . Der zwischen dem DBV und der DOV geschlossene „Tarifvertrag für die Musiker in Kulturorchestern“ vom sieht keinen Ortszuschlag als Entgeltbestandteil mehr vor. Der gleichzeitig zwischen diesen Tarifvertragsparteien abgeschlossene Einmalzahlungstarifvertrag vom für Musiker in Kulturorchestern (TV Einmalzahlung) regelt „Familienbezogene Bestandteile des Ortszuschlages“ (§ 5 TV Einmalzahlung).
7Nach erfolgloser Geltendmachung mit Schreiben vom hat der Kläger mit seiner Klage einen monatlichen Ortszuschlag in unstreitiger Höhe von 98,89 Euro für den Zeitraum November 2005 bis einschließlich Oktober 2009 begehrt und die Auffassung vertreten, ihm stehe nach seiner Eheschließung gemäß §§ 21 Buchst. b, 24 TVK iVm. § 29 BAT-O ein Anspruch auf Zahlung eines Ortszuschlags der Stufe 2 zu.
8Der Kläger hat zuletzt beantragt,
9Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, die gekündigten Vergütungsregelungen des TVK würden keine Nachwirkung entfalten. Die arbeitsvertragliche Vereinbarung erfasse die nachwirkenden Regelungen des TVK nicht. Zudem liefe die Verweisung des § 24 TVK ins Leere, nachdem der BAT-O durch den TVöD zum und damit bereits vor der Eheschließung und dem Beschäftigungsbeginn des Klägers ersetzt worden sei.
10Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten im Wesentlichen zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klagabweisungsantrag weiter.
Gründe
11Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zu Recht zurückgewiesen. Die zulässige Klage ist begründet.
12I. Die Klage ist in der Fassung des Berufungsantrages zulässig. Entgegen der Auffassung der Revision bestehen keine prozessualen Bedenken gegen die erst in der Berufungsinstanz erfolgte Umstellung der zuvor nur teilweise bezifferten Klage und des gestellten Feststellungsantrages auf einen nunmehr umfassenden bezifferten Leistungsantrag. Damit hat der Kläger den zuvor mit der Feststellungsklage allgemein geltend gemachten Anspruch lediglich konkret beziffert. Der Klagegrund hat sich nicht geändert (vgl. - Rn. 16, mit Verweis auf - Rn. 6 mwN).
13II. Die Klage ist begründet.
14Der Kläger kann die Zahlung des Ortszuschlags der Stufe 2 für Verheirate für den Zeitraum November 2005 bis einschließlich Oktober 2009 aufgrund der arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel iVm. §§ 21, 24 TVK, § 29 BAT-O in der geltend gemachten Höhe von zuletzt 4.746,72 Euro verlangen.
151. Es kann dahingestellt bleiben, ob ein Anspruch des Klägers auf Zahlung des Ortszuschlags der Stufe 2 für Verheiratete nach §§ 21, 24 TVK iVm. § 29 BAT-O aufgrund beiderseitiger Tarifgebundenheit nach § 4 Abs. 1, § 3 Abs. 1 TVG deshalb nicht besteht, weil die Tarifbestimmungen zum Ortszuschlag vom DBV zum wirksam gekündigt worden sind und das Arbeitsverhältnis der Parteien erst im Nachwirkungszeitraum begründet worden ist (dazu - BAGE 99, 283). Entgegen der Auffassung der Revision finden die genannten Tarifregelungen zum Ortszuschlag auf das Arbeitsverhältnis der Parteien aufgrund der arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel selbst dann Anwendung, wenn sie nur nachwirken. In Anwendung der arbeitsvertraglich in Bezug genommenen Tarifregelungen zum Ortszuschlag steht deshalb dem Kläger, der seit dem verheiratet ist, der geltend gemachte Ortszuschlag der Stufe 2 für verheiratete Angestellte gemäß §§ 21, 24 TVK iVm. § 29 BAT-O für den Streitzeitraum zu.
16a) Die Bezugnahmeklausel in § 3 des Arbeitsvertrages vom erfasst den TVK einschließlich der aufgrund der Teilkündigung von Juni 2005 ab nur noch nachwirkenden §§ 21, 24 TVK iVm. § 29 BAT-O.
17aa) Nachwirkende Tarifverträge können arbeitsvertraglich wirksam in Bezug genommen werden (ua. - Rn. 18; - 4 AZR 319/06 - Rn. 32 mwN; - 10 AZR 715/05 - Rn. 25; - 4 AZR 218/74 - BAGE 27, 22). Ob die Parteien nachwirkende Tarifverträge oder nachwirkende Tarifvertragsbestimmungen einbezogen haben, ist durch Auslegung der Bezugnahmeklausel nach den allgemeinen Regeln zu ermitteln ( - Rn. 32 mwN).
18bb) Die arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel, deren Auslegung vom Senat ohne Einschränkung überprüft werden kann (zum Maßstab - Rn. 21 mwN, BAGE 138, 269), enthält eine zeitdynamische Bezugnahme auf den TVK „in der jeweils geltenden Fassung und den ihn ergänzenden, ändernden oder an seine Stelle tretenden Tarifverträgen“. Zum anwendbaren TVK gehören auch die nachwirkenden Tarifbestimmungen der §§ 21, 24 TVK.
19(1) Nach § 4 Abs. 5 TVG „gelten“ im Nachwirkungsstadium die Rechtsnormen des Tarifvertrages weiter. Inhaltlich beschränkt sich deren Geltung in diesem Zeitraum darauf, dass der Zustand der Tarifnormen bis zum Abschluss einer anderen Abmachung erhalten bleibt ( - zu I 1 b der Gründe), dh. sie wirken kraft Gesetzes unmittelbar, aber nicht mehr zwingend.
20(2) Die Parteien haben im Arbeitsvertrag den gesamten TVK - in dessen jeweils geltender Fassung - in Bezug genommen und keine Ausnahmen für bestimmte Tarifregelungen, insbesondere für nur noch nachwirkende Regelungen, vorgesehen. Sie haben zudem diese Bezugnahme des TVK beim Abschluss des Arbeitsvertrages am vereinbart, also zu einem Zeitpunkt, als bereits Teile dieses Tarifvertrages gekündigt waren. Eine Einschränkung der vereinbarten Bezugnahme auf die ungekündigten Teile des Tarifvertrages lässt sich dem Wortlaut der Klausel nicht einmal in Ansätzen entnehmen.
21cc) Die Tarifvertragsparteien haben eine Nachwirkung der §§ 21, 24 TVK nicht ausgeschlossen.
22(1) Nach § 4 Abs. 5 TVG gelten nach Ablauf eines Tarifvertrages dessen Rechtsnormen unmittelbar weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Die Tarifvertragsparteien können die Nachwirkung jedoch wirksam ausschließen (vgl. - Rn. 14; - 8 AZR 439/89 - BAGE 65, 359; - 4 AZR 536/73 -; - 4 AZR 288/73 -). Der Ausschluss kann ausdrücklich oder konkludent erfolgen ( - Rn. 33; - 4 AZR 87/96 - BAGE 86, 366).
23(2) Entgegen der Auffassung der Revision ergibt sich ein Ausschluss der Nachwirkung der §§ 21, 24 TVK nicht aus § 59 Abs. 2 TVK.
24(a) In § 59 TVK - Inkrafttreten und Laufzeit - heißt es:
25(b) Der Nachwirkungsausschluss in § 59 Abs. 2 Satz 3 TVK erfasst Kündigungen nach § 59 Abs. 1 TVK nicht. Die besondere Kündigungsmöglichkeit nach § 59 Abs. 1 TVK ist in dieser Tarifbestimmung abschließend geregelt und enthält keinen Ausschluss der Nachwirkung. Das ergibt sich nicht nur aus der tariflichen Systematik mit der Trennung der verschiedenen Kündigungsmöglichkeiten in den unterschiedlichen Absätzen, sondern bereits aus dem Wortlaut des § 59 Abs. 2 Satz 1 TVK („Darüber hinaus können … gekündigt werden“). Nur auf eine Kündigung der in § 59 Abs. 2 Satz 1 TVK genannten Bestimmungen beziehen sich die weiteren Regelungen in diesem Absatz und damit auch der Nachwirkungsausschluss des § 59 Abs. 2 Satz 3 TVK.
26b) Der geltend gemachte Ortszuschlag der Stufe 2 ergibt sich aus dem anwendbaren § 29 BAT-O iVm. §§ 21, 24 TVK.
27aa) § 21 TVK bestimmt die Zusammensetzung der Vergütung der Musiker, die aus drei Teilen - Grundvergütung, Ortszuschlag und Tätigkeitszulage - besteht. Die Grundvergütung (§ 23 TVK) und die Tätigkeitszulage (§ 26 TVK) gestaltet der TVK eigenständig aus. Diese Vergütungsbestandteile können nach § 59 Abs. 1 TVK sogar eigenständig - und nicht nur „im Paket“ des § 21 TVK - gekündigt werden. Für den Ortszuschlag enthält der TVK in § 24 TVK eine punktuelle Verweisung auf die jeweils maßgebenden Bestimmungen des BAT und damit zugleich auf den BAT-O, regelt aber noch selbst die Tarifklasse des Ortszuschlags nach § 24 Satz 2 TVK eigenständig in dessen Anlage 2 (Vergütungsordnung). Nach § 29 BAT-O gehören zur Stufe 2 die „verheirateten Angestellten“.
28Mit dieser Verweisungstechnik („Baukastensystem“) haben die Tarifvertragsparteien des TVK verschiedene Vergütungselemente unter punktueller Anleihe an ein externes Normenwerk zu einem eigenständigen, aus drei Elementen bestehenden Regelwerk miteinander verknüpft und im TVK zu einer eigenständigen Vergütungsregelung verschmolzen. Dabei haben sie für den Ortszuschlag die für die unter den BAT/BAT-O fallenden Angestellten des öffentlichen Dienstes maßgebenden Bestimmungen in das Tarifwerk TVK inkorporiert und diesen - in Anlehnung an die familienbezogene Struktur des § 29 BAT/BAT-O - zu einem Bestandteil der eigenen tariflichen Gesamtvergütung gemacht (vgl. zu diesem Aspekt - Rn. 40). Die in § 24 TVK enthaltene Maßgabe zur Tarifklasse des Ortszuschlags aus der Vergütungsordnung (Anlage 2) und die damit nur punktuelle Inbezugnahme „fremder“ Tarifvertragsregelungen verdeutlicht die Eigenständigkeit der tariflichen Vergütungsregelung und deren Bestandteil „Ortszuschlag“.
29bb) Gegen die Zulässigkeit einer solchen Verweisung auf Bestimmungen eines anderen Tarifvertrages bestehen keine rechtlichen Bedenken (vgl. zu den Anforderungen - Rn. 20 mwN; - 4 AZR 332/00 - BAGE 99, 10).
30cc) Damit wird im Entscheidungsfall die letzte, aktuelle Fassung des Ortszuschlags nach dem BAT-O in den § 24 TVK inkorporiert. Entgegen der Auffassung der Revision bedarf es deshalb auch keiner ergänzenden Tarifauslegung vor dem Hintergrund der Tarifsukzession im öffentlichen Dienst und der Ablösung des BAT-O durch den TVöD.
31(1) Der TVK nimmt allein auf den Entgeltbestandteil „Ortszuschlag“ des BAT/BAT-O in seiner jeweiligen Ausgestaltung, nicht aber auf das Entgeltsystem des BAT/BAT-O in seiner Gesamtheit Bezug. Die Tarifvertragsparteien wollten durch die Verweisung eine konkrete Regelung (§ 29 BAT/BAT-O - Ortszuschlag) des BAT/BAT-O in ihr tarifliches Vergütungssystem inkorporieren. Wird der Ortszuschlag im verwiesenen Tarifvertrag nicht mehr dynamisiert oder fortgeführt, verbleibt es bei der letzten gültigen Fassung.
32(2) Die Formulierung in § 24 Satz 1 TVK erfasst nicht die den BAT/BAT-O ersetzenden Tarifverträge. Eine Verweisung auf solche - ersetzenden - Tarifwerke fehlt, die Verweisung ist dementsprechend nicht „inhaltsdynamisch“ ausgestaltet worden (vgl. zu diesem Aspekt für eine vertragliche Bezugnahmeklausel: - Rn. 38). Es obliegt deshalb den Tarifvertragsparteien, ggf. für eine Nachfolgeregelung zu sorgen und die tarifliche Vergütung und deren Bestandteile ggf. anzupassen oder neu zu gestalten.
33(3) Darüber hinaus übersieht die Beklagte, dass die hier betroffenen Teile des TVK sich aufgrund der Kündigung zum zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des TVöD in der Nachwirkung befanden und sich deshalb die im Nachwirkungszeitraum erfolgten Änderungen der in Bezug genommenen Tarifregelungen nicht mehr auswirken konnten (vgl. - zu I 1 b der Gründe mwN).
34dd) Im Übrigen bestätigen die Regelungen des TV Einmalzahlung das vorstehende Ergebnis.
35(1) § 5 TV Einmalzahlung lautet:
36(2) Aus dem Wortlaut dieser Tarifbestimmung wird deutlich, dass die Tarifvertragsparteien bei Abschluss des TV Einmalzahlung offensichtlich davon ausgegangen sind, Ansprüche auf Zahlung von Ortszuschlag einschließlich der ehe- und familienbezogenen Bestandteile könnten in Anlehnung an § 29 BAT-O trotz Kündigung des § 21 TVK im Nachwirkungszeitraum entstehen. Sie haben zur Erfüllung solcher, bisher unerfüllter Ansprüche die Form einer Einmalzahlung aus Vereinfachungsgründen gewählt.
372. Der Anspruch des Klägers ist nicht nach § 52 TVK verfallen.
38a) Nach § 52 TVK verfallen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis, wenn sie nicht innerhalb einer Ausschlussfrist von sechs Monaten nach Fälligkeit vom Musiker schriftlich geltend gemacht werden. Für denselben Sachverhalt reicht eine einmalige Geltendmachung des Anspruchs aus, um die Ausschlussfrist auch für später fällig werdende Leistungen „unwirksam“ zu machen. Nach § 28 Abs. 1 TVK ist die Vergütung am Fünfzehnten eines jeden Monats für den laufenden Monat fällig.
39b) Der Kläger hat die Ausschlussfrist für die ab seinem Beschäftigungsbeginn im November 2005 entstandenen Ansprüche auf einen erhöhten Ortszuschlag gewahrt. Mit Schreiben vom hat er seine Ansprüche auf „Ortszuschlag für Verheiratete“ nach Art und Umfang hinreichend präzise bezeichnet und innerhalb der sechsmonatigen Ausschlussfrist geltend gemacht.
403. Der Zinsanspruch folgt aus § 286 Abs. 2 Nr. 1, § 288 Abs. 1 BGB.
41III. Die Beklagte hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihrer erfolglosen Revision zu tragen.
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Fundstelle(n):
GAAAE-39804