BAG Urteil v. - 10 AZR 744/11

Sozialkassenverfahren im Baugewerbe - Abbruchgewerbe - rückwirkende Allgemeinverbindlicherklärung

Gesetze: § 1 Abs 2 Abschn V Nr 29 VTV-Bau, § 5 Abs 4 TVG, § 4 Abs 1 S 1 Halbs 1 TVGDV, § 7 S 3 TVGDV

Instanzenzug: ArbG Wiesbaden Az: 4/5 Ca 1675/09 Urteilvorgehend Hessisches Landesarbeitsgericht Az: 10 Sa 909/10 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten noch über die Verpflichtung des Beklagten zur Zahlung von Beiträgen nach dem Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom idF des Änderungstarifvertrags vom (VTV) für den Zeitraum von Januar bis April 2006.

2Die Klägerin ist eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes und Einzugstelle für die Beiträge zu den Sozialkassen des Baugewerbes.

3Der Beklagte unterhielt bis zum als Einzelunternehmer einen gewerblichen Betrieb, in dem überwiegend Abbrucharbeiten ausgeführt wurden, ohne dass diese im Zusammenhang mit baulichen Leistungen standen. Er war im Wesentlichen als Subunternehmer für die M Abbruch und Rückbau GmbH (im Folgenden: M GmbH) tätig. Diese war Mitglied im Deutschen Abbruchverband e. V.

4Bis zum waren Abbruchbetriebe, deren Arbeit nicht im Zusammenhang mit baulichen Leistungen stand, von der Allgemeinverbindlichkeit des VTV ausgenommen.

5Mit Schreiben vom teilte die Klägerin dem Beklagten mit, sie gehe nach derzeitigem Kenntnisstand entsprechend seinen Angaben davon aus, dass eine Teilnahme an dem Sozialkassenverfahren der Bauwirtschaft ausgeschlossen sei.

Am beantragten die Tarifvertragsparteien, den VTV idF des Änderungstarifvertrags vom mit Wirkung zum für allgemeinverbindlich zu erklären. Dieser Antrag wurde am veröffentlicht (BAnz. Nr. 248 S. 17325 ff.). In der Bekanntmachung wurde darauf hingewiesen, dass die Allgemeinverbindlicherklärung mit Rückwirkung erfolgen könne. Die Bekanntmachung lautet auszugsweise:

7Am wurde dem Antrag mit den beantragten Einschränkungen entsprochen. Die Allgemeinverbindlicherklärung des VTV wurde am bekannt gemacht (BAnz. Nr. 71 S. 2729 ff.).

8Beim Arbeitsgericht Wiesbaden ist zwischen den Parteien unter dem Aktenzeichen - 5/11 Ca 352/09 - ein Verfahren anhängig, in welchem die Klägerin eine Beitragsnachforderung für den Zeitraum Februar 2006 bis Oktober 2007 geltend macht. Diese Forderung beruht auf Nachmeldungen, die der Beklagte für den genannten Zeitraum vorgenommen hat.

9Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, der Betrieb des Beklagten falle in den betrieblichen Geltungsbereich des VTV. Dieser sei zulässigerweise rückwirkend zum für allgemeinverbindlich erklärt worden. Bereits aus § 7 der Verordnung zur Durchführung des Tarifvertragsgesetzes (DVO TVG) ergebe sich, dass eine Rückwirkung ohne weitere Voraussetzung jedenfalls bis zum Tag der Bekanntmachung des Antrags der Tarifvertragsparteien möglich sei.

Die Klägerin hat, soweit noch von Interesse, beantragt,

11Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat die Auffassung vertreten, die rückwirkende Allgemeinverbindlicherklärung des VTV zum sei unzulässig. Auch sei zu berücksichtigen, dass der Beklagte Subunternehmer der M GmbH gewesen sei und deshalb von der Mitgliedschaft dieser Firma im Deutschen Abbruchverband e. V. profitiere. Der Beklagte genieße zudem Vertrauensschutz. Aufgrund des Schreibens der Klägerin vom habe er darauf vertrauen dürfen, dass er nicht am Sozialkassenverfahren teilnehmen müsse. Die Klägerin sei verpflichtet gewesen, ihn über eine Änderung der Rechtslage schriftlich zu informieren. Im Übrigen bestehe eine doppelte Rechtshängigkeit der streitgegenständlichen Ansprüche.

Das Arbeitsgericht hat der - ursprünglich die Zeit bis Juni 2007 umfassenden - Klage stattgegeben, das Landesarbeitsgericht hat sie hinsichtlich des noch streitgegenständlichen Zeitraums abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht insoweit zugelassenen Revision begehrt die Klägerin die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.

Gründe

13Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.

14I. Die Klage ist zulässig. Eine anderweitige Rechtshängigkeit der Sache (§ 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO) besteht nicht. Grundlage der hier streitgegenständlichen Beitragsforderungen sind die Meldungen des Steuerberaters des Beklagten vom . Das beim Arbeitsgericht Wiesbaden anhängige Verfahren - 5/11 Ca 352/09 - betrifft hingegen Beitragsnachforderungen auf der Grundlage von darüber hinausgehenden Nachmeldungen des Beklagten. Es handelt sich um unterschiedliche Streitgegenstände.

15II. Die Klage ist begründet. Die Klägerin hat gemäß § 18 Abs. 2 VTV Anspruch auf Zahlung der Sozialkassenbeiträge für die Monate Januar bis April 2006.

161. In dem Betrieb des Beklagten wurden im maßgeblichen Zeitraum überwiegend Abbrucharbeiten ausgeführt. Er war damit vom betrieblichen Geltungsbereich des VTV erfasst (§ 1 Abs. 2 Abschn. V Nr. 29 VTV).

172. Der VTV findet Anwendung. Der Beklagte ist zwar nicht Mitglied des tarifschließenden Arbeitgeberverbands und deshalb nicht nach § 3 Abs. 1 TVG tarifgebunden. Die Tarifgeltung ergibt sich jedoch aus § 5 Abs. 4 TVG. Der VTV wurde ab rechtswirksam für allgemeinverbindlich erklärt. Der Betrieb des Beklagten unterfällt keiner Einschränkung der Allgemeinverbindlichkeit.

18a) Der VTV ist wirksam rückwirkend zum für allgemeinverbindlich erklärt worden.

19aa) Bei der Rückwirkung von Allgemeinverbindlicherklärungen sind die Grundsätze über die Rückwirkung von Gesetzen, wie sie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelt worden sind, entsprechend anzuwenden ( - zu I 2.6.1 der Gründe mwN, BAGE 84, 147). Die Rückwirkung einer Allgemeinverbindlicherklärung verletzt danach nicht die vom Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) umfassten Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, soweit die Betroffenen mit ihr rechnen mussten ( - Rn. 27, BAGE 124, 1; vgl. auch  - zu 4 b der Gründe, BVerwGE 80, 355).

20(1) Ein solcher Fall liegt vor, wenn ein Tarifvertrag rückwirkend für allgemeinverbindlich erklärt wird, durch den ein früherer allgemeinverbindlicher Tarifvertrag erneuert oder geändert wird. Bei dieser Sachlage müssen die Tarifgebundenen nicht nur mit einer Allgemeinverbindlicherklärung des Nachfolgetarifvertrags, sondern auch mit der Rückbeziehung der Allgemeinverbindlicherklärung auf den Zeitpunkt seines Inkrafttretens rechnen (st. Rspr., zB  - Rn. 27, BAGE 124, 1; - 10 AZR 782/06 - Rn. 25, AP TVG § 1 Tarifverträge: Bau Nr. 297 = EzA AEntG § 1 Nr. 11).

21(2) Bei der erstmaligen Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags in einer Berufssparte kommt eine Rückwirkung hingegen nur in Betracht, wenn auf diese Möglichkeit bereits bei der Veröffentlichung des Antrags der Tarifvertragsparteien hingewiesen worden ist. Eine Rückwirkung ist in diesen Fällen nur bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Antrags im Bundesanzeiger möglich ( - BAGE 40, 288). Dem trägt auch § 7 Satz 3 DVO TVG (im Streitfall idF vom , BGBl. I S. 2304) Rechnung. Danach liegt der Beginn der Allgemeinverbindlichkeit, „sofern es sich nicht um die Erneuerung oder die Änderung eines bereits für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags handelt, in aller Regel nicht vor dem Tag der Bekanntmachung des Antrags“.

22bb) Nach diesen Grundsätzen bestehen keine Bedenken gegen die rückwirkende Allgemeinverbindlicherklärung des VTV zum .

23(1) Der VTV war bereits vor dem allgemeinverbindlich. Die Allgemeinverbindlicherklärung betraf damit die Änderung eines bereits für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags. Allerdings war der Beklagte an den Vorgängertarifvertrag nicht gemäß § 5 Abs. 4 TVG gebunden, weil nach den bis zum maßgeblichen Allgemeinverbindlicherklärungen Abbruchbetriebe, deren Arbeit nicht im Zusammenhang mit baulichen Leistungen stand, insgesamt von der Allgemeinverbindlichkeit ausgenommen waren. Auf die unmittelbare oder mittelbare Mitgliedschaft im Deutschen Abbruchverband e. V. kam es damals nicht an ( - Rn. 11, 16, AP TVG § 1 Tarifverträge: Bau Nr. 320). Eine Tarifbindung des Beklagten konnte damit erstmals durch die ab geltende Allgemeinverbindlicherklärung entstehen.

24(2) Es kann im Streitfall dahinstehen, ob ein solcher Fall nach den Maßstäben für die Änderung eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrags zu beurteilen ist oder sich nach den (strengeren) Grundsätzen richten muss, die für die erstmalige Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags gelten. Auch wenn man die Grundsätze anwendet, die für die rückwirkende erstmalige Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags gelten, war die Rückwirkung zulässig. Der Antrag der Tarifvertragsparteien auf Allgemeinverbindlicherklärung des VTV vom wurde am und damit vor dem Zeitpunkt des beabsichtigten Inkrafttretens am im Bundesanzeiger veröffentlicht. Die Bekanntmachung enthielt, wie in § 4 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 DVO TVG vorgesehen, den Hinweis, dass die Allgemeinverbindlicherklärung rückwirkend erfolgen kann, und benannte den Umfang der beantragten Einschränkungen der Allgemeinverbindlicherklärung im Wortlaut. Damit mussten die betroffenen Kreise und insbesondere auch Arbeitgeber, die von der Allgemeinverbindlichkeit des Vorgängertarifvertrags nicht erfasst waren, damit rechnen, dass der VTV rückwirkend zum für allgemeinverbindlich erklärt werden würde. Dementsprechend hat der Senat die Rückwirkung der hier streitgegenständlichen Allgemeinverbindlicherklärung auch in früheren Entscheidungen nicht beanstandet ( -; - 10 AZR 351/09 -; - 10 AZR 362/09 - Rn. 27 f., AP TVG § 1 Tarifverträge: Bau Nr. 328).

25b) Der Betrieb des Beklagten ist nicht durch die Einschränkungen der Allgemeinverbindlicherklärung von der Geltung des VTV ausgenommen.

26aa) Die Voraussetzungen der Einschränkung iSd. Abschn. III Nr. 2 des Ersten Teils der Allgemeinverbindlicherklärung vom sind nicht erfüllt. Der Beklagte war im streitgegenständlichen Zeitraum weder unmittelbar noch mittelbar Mitglied im Deutschen Abbruchverband e. V. Eine unmittelbare Mitgliedschaft behauptet der Beklagte selbst nicht. Es liegt auch keine mittelbare Mitgliedschaft vor. Eine solche setzt die Mitgliedschaft in einer Vereinigung voraus, die ihrerseits Mitglied im Deutschen Abbruchverband e. V. ist (vgl. zu Fällen der mittelbaren Mitgliedschaft:  - Rn. 5, 28, AP TVG § 1 Tarifverträge: Bau Nr. 328; - 4 AZR 934/08 - Rn. 44, AP TVG § 1 Tarifverträge: Bau Nr. 324; - 10 AZR 386/07 - Rn. 21, 23, NZA-RR 2009, 145). Daran fehlt es hier. Die bloße Geschäftsbeziehung zur M GmbH, welche Mitglied im Deutschen Abbruchverband e. V. war, führt nicht zu einer mittelbaren Mitgliedschaft in diesem Verband.

27bb) Dass die Voraussetzungen einer anderen Einschränkung der Allgemeinverbindlicherklärung erfüllt sind, hat der insoweit darlegungs- und beweisbelastete Beklagte ( - Rn. 15, NZA-RR 2009, 145) nicht vorgetragen.

283. Die Geltendmachung der Beitragsansprüche durch die Klägerin verstößt nicht gegen Treu und Glauben. Zwar kann eine Rechtsausübung gemäß § 242 BGB unzulässig sein, wenn sich der Anspruchsteller damit in Widerspruch zu seinem eigenen vorausgegangenen Verhalten setzt und für den anderen Teil ein schützenswerter Vertrauenstatbestand geschaffen worden ist oder wenn sonstige besondere Umstände die Rechtsausübung als treuwidrig erscheinen lassen ( - Rn. 31 mwN, AP TVG § 1 Tarifverträge: Bau Nr. 318). Diese Voraussetzungen liegen jedoch nicht vor.

29a) Durch die Geltendmachung der Beitragsansprüche setzt sich die Klägerin nicht in Widerspruch zu ihrem eigenen früheren Verhalten. Aus dem Schreiben vom folgt weder, dass die Klägerin den Beklagten auch in der Zukunft nicht zu dem Sozialkassenverfahren heranziehen werde, noch die Verpflichtung, den Beklagten über eine Änderung der maßgeblichen Umstände persönlich zu informieren. Vielmehr gibt das Schreiben lediglich die zum damaligen Zeitpunkt bestehende Rechtslage wieder. Dies folgt aus dem Hinweis, die Teilnahme an dem Sozialkassenverfahren sei „nach derzeitigem Kenntnisstand“ ausgeschlossen, und aus der Aufforderung, die Klägerin bei einer Änderung der Tätigkeit zu informieren.

30b) Zudem war ein etwaiges Vertrauen des Beklagten nicht schützenswert. Eine unzulässige Rechtsausübung in Form eines „venire contra factum proprium“ setzt voraus, dass die maßgebliche Sach- und Rechtslage im Wesentlichen gleich geblieben ist. Nur dann kann der Schuldner aus einem bestimmten Verhalten des Gläubigers folgern, dass er auch in Zukunft nicht in Anspruch genommen werde ( - zu II 3 der Gründe). Daran fehlt es hier. Durch die gegenüber den Vorgängertarifverträgen modifizierten Einschränkungen der Allgemeinverbindlicherklärung änderte sich die Rechtslage. Mit der Bekanntmachung des Antrags auf Allgemeinverbindlicherklärung des VTV am musste der Beklagte damit rechnen, ab dem zum Sozialkassenverfahren herangezogen zu werden.

31c) Auch sonstige Umstände lassen die Geltendmachung durch die Klägerin nicht als treuwidrig erscheinen. Im Gegenteil ist zu berücksichtigen, dass die zugunsten der Klägerin bestehenden Auskunfts- und Beitragspflichten nicht nur das Verhältnis zwischen den Parteien, sondern auch schutzwürdige Drittinteressen betreffen. Das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe soll den besonderen tatsächlichen Arbeits- und Produktionsbedingungen dieses Wirtschaftszweigs Rechnung tragen. Die von den Tarifvertragsparteien geschaffenen gemeinsamen Einrichtungen dienen in erster Linie den Interessen der Arbeitnehmer. Diesen soll beispielsweise durch besondere Urlaubsregelungen ermöglicht werden, trotz eines Wechsels des Arbeitgebers einen zusammenhängenden Urlaubsanspruch zu erwerben. Durch eine Zusatzversorgung wird einer Minderung der Rente durch häufige Arbeitsausfälle entgegengewirkt. Auf Arbeitgeberseite kommt es zu einer Form des gemeinsamen Lastenausgleichs. Aus diesem Grund legte § 32 Abs. 1 VTV (jetzt § 31 Abs. 1 VTV) der Klägerin ausdrücklich die Pflicht auf, die von ihr einzuziehenden Beiträge rechtzeitig und vollständig zu erheben. Dies hat gleichmäßig von allen tarifunterworfenen Arbeitgebern zu erfolgen. Der Erlass von Ansprüchen war nur unter den in § 32 Abs. 2 VTV (jetzt § 31 Abs. 2 VTV) besonders geregelten Voraussetzungen möglich ( - Rn. 25, AP TVG § 1 Tarifverträge: Bau Nr. 328; - 10 AZR 850/08 - Rn. 37 f., AP TVG § 1 Tarifverträge: Bau Nr. 318).

324. Die Höhe der Sozialkassenbeiträge für den Zeitraum Januar bis April 2006 ist von der Klägerin schlüssig dargelegt und vom Beklagten nicht bestritten worden.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 und § 97 Abs. 1 ZPO.

Fundstelle(n):
BB 2013 S. 1203 Nr. 20
DB 2013 S. 1616 Nr. 29
YAAAE-35563