BAG Urteil v. - 4 AZR 78/11

Auslegung einer tarifvertraglichen Kündigungsregelung

Gesetze: § 133 BGB, § 157 BGB, § 1 TVG

Instanzenzug: Az: 9 Ca 52/10 Urteilvorgehend Hessisches Landesarbeitsgericht Az: 3 Sa 894/10 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über die Höhe einer tariflichen Jahressonderzahlung sowie die Zahlung einer monatlichen Zulage und in diesem Zusammenhang über die Wirksamkeit der Kündigung eines Tarifvertrages.

Die Klägerin ist Mitglied der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Gewerkschaft ver.di) und seit dem bei der Beklagten und ihrem Rechtsvorgänger, dem Schwalm-Eder-Kreis, als Krankenschwester beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis der Klägerin ging vom Schwalm-Eder-Kreis auf die Schwalm-Eder-Kliniken GmbH (GmbH) über, deren Gesellschafter zunächst die vormalige Arbeitgeberin war. Die GmbH war bis zum Ende des Jahres 2008 Mitglied im Kommunalen Arbeitgeberverband Hessen e. V. (KAV). Aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten der GmbH beschloss der Kreistag des Schwalm-Eder-Kreises im Jahre 2004 ein Rahmensanierungskonzept, das neben dem Abschluss eines sog. Notlagentarifvertrages ua. einen Krankenhausneubau in O vorsah. Am schlossen die Gewerkschaft ver.di einerseits sowie der KAV und die GmbH andererseits die „Tarifvertragliche Vereinbarung Nr. 761, Bezirklicher Tarifvertrag über einen Beitrag der Arbeitnehmer zur Sanierung der Schwalm-Eder-Kliniken GmbH“ (TV Nr. 761), die die Tarifvertragsparteien mit der „Tarifvertraglichen Vereinbarung Nr. 797“ mit Wirkung zum in Anbetracht des zum gleichen Tag in Kraft tretenden Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst (vom - TVöD) sowie für den Bereich der Krankenhäuser, Pflege- und Betreuungseinrichtungen des Besonderen Teils Krankenhäuser (BT-K) anpassten. Der TV Nr. 761 sieht eine Verkürzung der Arbeitszeit ohne Entgeltausgleich (§ 4) und den Ausschluss von betriebsbedingten Beendigungskündigungen (§ 7) vor. Daneben regelt der Tarifvertrag ua. noch Folgendes:

3Die Gesellschafterversammlung der GmbH beschloss am kein neues Krankenhaus in O zu errichten. Am hob der Kreistag des Schwalm-Eder-Kreises die Beschlüsse zum Rahmensanierungskonzept einschließlich des Krankenhausneubaus in O auf. In dem gegen Ende des Jahres 2006 veröffentlichten Krankenhausinvestitionsprogramm 2007 bis 2011 des Landes Hessen, war ein Krankenhausneubau in O nicht vorgesehen. Der Schwalm-Eder-Kreis veräußerte im Jahre 2007 seine Gesellschaftsanteile an der GmbH, die nachfolgend in die jetzige Beklagte umfirmierte. In den ab Juni 2008 zwischen der Gewerkschaft ver.di und der Beklagten geführten Verhandlungen über einen neuen Sanierungstarifvertrag konnte keine Einigung erreicht werden. Die Gewerkschaft ver.di kündigte im September 2008 den TV Nr. 761 zum unter Hinweis auf das in § 12 Abs. 3 TV Nr. 761 geregelte Kündigungsrecht.

4Die Beklagte zahlte der Klägerin in Anwendung des § 5 Abs. 3 Fall 1 TV Nr. 761 mit dem Entgelt für den Monat November 2008 eine Jahressonderzahlung iHv. 492,97 Euro. Im April 2009 machte die Klägerin gegenüber der Beklagten die Zahlung einer ungekürzten Jahressonderzahlung für das Jahr 2008 sowie einer Zulage nach § 52 Abs. 3 TVöD-BT-K iVm. § 15 Abs. 1 TVöD für die Monate November und Dezember 2008 erfolglos geltend.

5Mit ihrer Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie ist der Auffassung, der TV Nr. 761 sei wirksam zum gekündigt worden.

Die Klägerin hat beantragt,

7Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie ist der Meinung, in § 12 Abs. 3 Satz 1 TV Nr. 761 sei ein außerordentliches Kündigungsrecht vereinbart, das die Gewerkschaft ver.di nicht binnen angemessener Frist nach Kenntnis über die Nichtaufnahme des Krankenhausneubaus in O in das Krankenhausinvestitionsprogramm 2007 bis 2011 ausgeübt habe. Das Kündigungsrecht sei im Jahre 2008 auch verwirkt gewesen. In den Tarifvertragsverhandlungen im Jahre 2008 sei eine vorzeitige Kündigung nie thematisiert worden. Es verstoße gegen Treu und Glauben, wenn eine Partei den Tarifvertrag erst kurz vor Ende der vereinbarten Laufzeit kündige, um eine ungekürzte Jahressonderzahlung zu erreichen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte die Klageabweisung. Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Gründe

9Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat deren Berufung zu Recht zurückgewiesen. Die Klage ist begründet. Die von der Gewerkschaft ver.di ausgesprochene Kündigung hat den TV Nr. 761 mit Ablauf des beendet. Der Klägerin steht daher eine Jahressonderzahlung nach § 20 TVöD zu. Weiterhin kann sie eine Zulage nach § 52 Abs. 3 TVöD-BT-K iVm. § 15 Abs. 1 TVöD verlangen.

10I. Der Anspruch der Klägerin auf Zahlung einer Jahressonderzahlung für das Kalenderjahr 2008 in der nach § 20 TVöD maßgebenden Höhe ergibt sich aufgrund beiderseitiger Tarifgebundenheit der Parteien nach § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG.

111. Die Klägerin kann nach § 20 Abs. 2 TVöD eine Jahressonderzahlung iHv. 90 vH des ihr in den Monaten Juli bis September 2008 durchschnittlich gezahlten Entgelts beanspruchen.

122. Die Regelung des § 20 Abs. 2 TVöD wird nicht durch diejenige in § 5 Abs. 3 Fall 1 TV Nr. 761 nach dem sog. Spezialitätsprinzip verdrängt (dazu etwa  - Rn. 31 mwN, BAGE 125, 314). An dem nach § 20 Abs. 1 TVöD maßgebenden Stichtag () bestand zwischen dem TV Nr. 761 und dem TVöD keine Tarifkonkurrenz mehr, die einer Auflösung bedurft hätte. Der TV Nr. 761 endete aufgrund fristgemäßer Kündigung der Gewerkschaft ver.di mit Ablauf des ohne Nachwirkung iSd. § 4 Abs. 5 TVG, die nach § 12 Abs. 3 Satz 3 TV Nr. 761 in zulässiger Weise ausgeschlossen wurde (dazu etwa  - Rn. 14, EzA BetrVG 2001 § 87 Betriebliche Lohngestaltung Nr. 24; - 4 AZR 87/96 - zu II 2 der Gründe, BAGE 86, 366).

13a) Das Landesarbeitsgericht hat - kurz zusammengefasst - angenommen, § 12 Abs. 3 Satz 1 TV Nr. 761 regele kein außerordentliches Kündigungsrecht, sondern enthalte ein Recht zur ordentlichen Kündigung des Tarifvertrages. Die Nichtaufnahme des Krankenhausneubaus in O in das Krankenhausinvestitionsprogramm 2007 bis 2011 des Landes Hessen rechtfertige die Kündigung des Tarifvertrages. Die Kündigung sei nicht verfristet iSd. § 314 Abs. 3 BGB. Das Kündigungsrecht sei weiterhin weder verwirkt noch stelle sich dessen Ausübung im Übrigen als rechtsmissbräuchlich dar.

14b) Die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts lassen Rechtsfehler nicht erkennen.

15aa) Dies gilt zunächst für die Auslegung der Kündigungsbestimmung in § 12 Abs. 3 Satz 1 TV Nr. 761.

16(1) Die Auslegung von rechtsgeschäftlichen Willenserklärungen, die sich - wie vorliegend das Kündigungsrecht nach § 12 Abs. 3 Satz 1 TV Nr. 761 als Bestandteil der schuldrechtlichen Vereinbarungen eines Tarifvertrages - nicht in typisierten Vertragsvereinbarungen ausdrücken, obliegt in erster Linie den Tatsachengerichten. Das Revisionsgericht kann die Auslegung von Willenserklärungen durch das Landesarbeitsgericht nur daraufhin überprüfen, ob es die Auslegungsgrundsätze der §§ 133, 157 BGB eingehalten hat, ob gegen Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze verstoßen worden ist, ob alle erheblichen Tatsachen für die Auslegung herangezogen worden sind und ob eine gebotene Auslegung unterlassen worden ist ( - Rn. 17, AP AÜG § 10 Nr. 17 = EzA AÜG § 13 Nr. 1).

17(2) Die Beklagte hat keinen revisiblen Auslegungsfehler aufgezeigt.

18(a) Ohne Rechtsfehler ist das Landesarbeitsgericht davon ausgegangen, der Begriff „Sonderkündigungsrecht“ in § 12 Abs. 4 TV Nr. 761 weise bei einem befristeten, für eine feste Laufzeit geschlossenen Tarifvertrag darauf hin, dass eine im Übrigen nicht bestehende ordentliche Kündigungsmöglichkeit geschaffen werden soll. Die Revision übersieht, dass ein außerordentliches Kündigungsrecht grundsätzlich keiner ausdrücklichen Vereinbarung bedarf (vgl. nur  - zu II 1.1 der Gründe, BAGE 88, 81). Deshalb ist nicht ersichtlich, aus welchen Gründen „gerade dieser besonders wichtige Fall“, von dem die Revision ausgeht, die Vereinbarung eines außerordentlichen Kündigungsrechts erforderlich machen soll. In der Folge konnte das Landesarbeitsgericht von einem Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen der Vereinbarung einer ordentlichen und einer außerordentlichen Kündigungsmöglichkeit ausgehen.

19(b) Entgegen der Auffassung der Revision musste das Landesarbeitsgericht auch nicht annehmen, die „Kürze der Frist“ in § 12 Abs. 3 Satz 1 TV Nr. 761 streite für ein Kündigungsrecht aus wichtigem Grund iSd. § 314 Abs. 1 BGB. Es ist rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, dass die Tarifvertragsparteien die Kündigungsfrist autonom bestimmen konnten. Deshalb ist der weitere Einwand der Beklagten, eine vereinbarte Kündigungsfrist, die die dreimonatige Frist des § 77 Abs. 5 BetrVG unterschreite, spreche für ein Kündigungsrecht aus wichtigem Grund, vorliegend unzutreffend. Die Beklagte verkennt, dass in § 12 Abs. 3 Satz 1 TV Nr. 761 nach seinem Wortlaut (nur) „ein Grund“ und nicht „ein wichtiger Grund“ iSd. § 314 Abs. 1 BGB für eine Kündigung bestimmt wird. Ob ein wichtiger Grund gegeben sein muss, ist erst durch Auslegung der Kündigungsbestimmung zu ermitteln, kann aber nicht vorausgesetzt werden.

20(c) Weiterhin konnte das Landesarbeitsgericht davon ausgehen, eine ordentliche Kündigungsmöglichkeit solle nur in den vertraglich bestimmten Fällen bestehen. Zwar können die Tarifvertragsparteien, wie die Revision es meint, eine „ordentliche Kündbarkeit ohne Angabe von Gründen“ vereinbaren. Die Möglichkeit steht aber in Anbetracht des klaren Wortlauts in § 12 Abs. 3 Satz 1 TV Nr. 761 nicht der Annahme des Landesarbeitsgerichts entgegen.

21(d) Es erweist sich auch nicht als revisibler Fehler, wenn das Landesarbeitsgericht das Wort „wenn“ in § 12 Abs. 3 Satz 1 TV Nr. 761 als eine konditionale Verknüpfung versteht. Der Wortlaut „nicht in das Krankenhausinvestitionsprogramm … aufgenommen wird“ kann ohne Rechtsfehler dahingehend ausgelegt werden, die Kündigungsmöglichkeit des § 12 Abs. 3 Satz 1 TV Nr. 761 beziehe sich nur auf den Eintritt der genannten Voraussetzung, bindet die Ausübung des Rechts aber nicht an den Zeitpunkt, in dem die Voraussetzungen gegeben sind. Die Beklagte setzt auch insoweit lediglich ihre Auffassung gegen die des Landesarbeitsgerichts.

22(e) Die weitere Rüge der Revision, das Landesarbeitsgericht sei bei seiner teleologischen Auslegung davon ausgegangen, ein wichtiger Grund setze ein schuldhaftes Verhalten voraus, ist unzutreffend. Das Gericht hat vielmehr ausgeführt, „typische Gründe für eine außerordentliche Kündigung eines Tarifvertrages“ seien schwere Pflichtverletzungen. Die weitere Erwägung, im Falle eines vereinbarten außerordentlichen Kündigungsgrundes läge auch die Vereinbarung einer Nachverhandlungspflicht nahe, ist nicht zu beanstanden und entspricht zudem der Rechtsprechung des Senats (so ausdrücklich - 4 AZR 710/95 - zu II 2.1.4 der Gründe, AP TVG § 1 Kündigung Nr. 2 = EzA TVG § 1 Fristlose Kündigung Nr. 3).

23bb) Die Revision rügt weiterhin ohne Erfolg die vom Senat ebenfalls nur beschränkt überprüfbare Würdigung des Landesarbeitsgerichts (zu den Maßstäben  - Rn. 22 mwN, AP BAT §§ 22, 23 Rückgruppierung Nr. 7) zur fehlenden Verwirkung des Kündigungsrechts auf aufgrund des fehlenden Umstandsmoments (dazu etwa  - Rn. 42 ff. mwN).

24(1) Das Landesarbeitsgericht hat in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise angenommen, etwaige unterlassene betriebsbedingte Kündigungen durch die Beklagte seien dem bis zum Ablauf der Kündigungsfrist wirksamen Verbot betriebsbedingter Kündigungen in § 7 Abs. 1 TV Nr. 761 geschuldet und könnten schon deshalb keine Vermögensdispositionen im Vertrauen auf einen zukünftigen Verzicht der Gewerkschaft ver.di auf ein bestehendes Kündigungsrecht sein.

25(2) Ein „besonders“ schützenswertes Vertrauen, von einem Kündigungsrecht nicht Gebrauch zu machen, musste das Landesarbeitsgericht auch nicht aufgrund des von der Betriebsgruppe im Juli 2008 der Gewerkschaft ver.di verteilten „Infoblatts“ annehmen. In diesem wird - zum damaligen Zeitpunkt zutreffend - lediglich auf die Laufzeit des TV Nr. 761 hingewiesen.

26(3) Das Landesarbeitsgericht ist in der Sache weiterhin rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, es obliege der autonomen Entscheidung einer Tarifvertragspartei, ob und unter welchen Umständen sie von einem „an sich“ bestehenden Kündigungsrecht Gebrauch mache. Nach dem Inhalt der maßgebenden tariflichen Regelung ist diese nicht, wie es offensichtlich die Beklagte meint, an bestimmte Kündigungsmotive gebunden.

27(4) Deshalb ist auch ihr weiterer Einwand unzutreffend, es gelte ein „Verbot des Bereithaltens eines Kündigungsgrundes ‚auf Vorrat‘“. Das entstandene Kündigungsrecht geriet nicht allein durch eine weitere Geltung des Tarifvertrages in Wegfall. Das Landesarbeitsgericht hat in nicht zu beanstandender Weise mit Recht auf die komplexen, bei Tarifvertragsverhandlungen zu berücksichtigenden Umstände hingewiesen, von der eine Ausübung eines Kündigungsrechts abhängen kann. Deshalb könnten die Maßstäbe bei einer arbeitgeberseitigen (verhaltensbedingten) Kündigung eines Arbeitsverhältnisses nicht auf die vorliegende Situation übertragen werden.

28cc) Schließlich lässt die gleichfalls nur eingeschränkt überprüfbare Würdigung des Landesarbeitsgerichts (oben I 2 b bb), die Gewerkschaft ver.di habe „das für die Arbeitnehmer günstige Ergebnis“ der „Jahressonderzahlung“ bei der Ausübung des Kündigungsrechts ohne Verstoß gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) berücksichtigen können, keinen Rechtsfehler erkennen. Dass die Beklagte von dem ihr gleichfalls zustehenden Kündigungsrecht keinen Gebrauch gemacht hat, führt nicht zu einem Rechtsmissbrauch durch die kündigende Gewerkschaft ver.di. Es trifft auch nicht zu, dass durch den Kündigungszeitpunkt nur „zugunsten der Arbeitnehmer alle Vorteile aus dem Notlagentarifvertrag realisiert waren“. Die Beklagte musste ua. in den vorangegangenen Jahren lediglich eine gegenüber § 20 TVöD geminderte Jahressonderzahlung leisten.

29II. Die Klägerin kann weiterhin für die Monate November und Dezember 2008 eine Zulage nach § 52 Abs. 3 TVöD-BT-K iVm. § 15 Abs. 1 TVöD verlangen.

30III. Der Zinsanspruch folgt aus § 286 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1, § 288 Abs. 1 BGB, § 24 Abs. 1 Satz 1, § 20 Abs. 5 Satz 1 TVöD.

IV. Die Beklagte hat die Kosten ihrer erfolglosen Revision zu tragen, § 97 Abs. 1 ZPO.

Fundstelle(n):
BB 2013 S. 1013 Nr. 17
DB 2013 S. 2036 Nr. 36
ZAAAE-33117