Haftbeschwerdeverfahren: Umfang der Nachprüfung der Beurteilung dringenden Tatverdachts durch das erkennende Gericht während laufender Hauptverhandlung
Gesetze: § 120 Abs 1 StPO, § 304 StPO
Instanzenzug: Az: XX Beschluss
Gründe
1I. Der Angeklagte befindet sich seit dem aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des ) in Untersuchungshaft. Danach liegt dem Angeklagten zur Last, sich mindestens seit September 2009 als Mitglied an der "Islamischen Bewegung Usbekistan" (im Folgenden: IBU) und damit an einer Vereinigung im Ausland beteiligt zu haben, deren Zwecke und deren Tätigkeiten darauf gerichtet seien, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen, strafbar als Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland außerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (§ 129b Abs. 1 Satz 1 und 2, § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB). Er habe sich dieser in W. ansässigen Organisation angeschlossen, dort ein Ausbildungslager besucht und sei bei Kampfhandlungen verletzt worden. Auch nach seiner Rückkehr nach Deutschland habe er sich weiterhin mit den Zielen und Zwecken der Vereinigung identifiziert. Wegen dieser Tatvorwürfe hat der Generalbundesanwalt unter dem Anklage zum Oberlandesgericht Düsseldorf erhoben. Das die Anklage zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Die Hauptverhandlung hat am begonnen.
2Der Senat hatte zuvor im Haftprüfungsverfahren nach §§ 121 f. StPO mit Beschlüssen vom (AK 17/11) und (AK 3/12) jeweils die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet und darin den dringenden Tatverdacht mit Blick auf die dem Angeklagten zur Last gelegten Taten bejaht.
3Die Verteidigung des Angeklagten hat mit Schriftsatz vom die Aufhebung des Haftbefehls, hilfsweise dessen Außervollzugsetzung, beantragt. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ausgeführt, die bisherige Hauptverhandlung genüge nicht dem Beschleunigungsgebot. Zudem könne dem Angeklagten seine am abgegebene Einlassung durch die in die Hauptverhandlung eingeführten Beweismittel nicht widerlegt werden; diese erkläre seinen Aufenthalt in W. abweichend von dem Anklagevorwurf schlüssig, weshalb ihm eine mitgliedschaftliche Beteiligung an der IBU nicht nachzuweisen sei. Auch sei angesichts seiner gesundheitlichen Probleme und seiner Mittellosigkeit die Fluchtgefahr nicht gegeben. Das Oberlandesgericht hat diesen Antrag mit Beschluss vom zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Angeklagten, der weiterhin einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot geltend macht und vorträgt, ein dringender Tatverdacht der Mitgliedschaft in der IBU bestehe nicht. Das Oberlandesgericht hat dem Rechtsmittel durch Beschluss vom nicht abgeholfen. Der Generalbundesanwalt beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen. Die Einlassung des Angeklagten habe den dringenden Tatverdacht nicht entfallen lassen, sie erweise sich vielmehr in zahlreichen Punkten als nicht nachvollziehbar und widersprüchlich. Ihre Überprüfung in der Hauptverhandlung sei zudem noch nicht abgeschlossen. Es bestehe damit weiterhin der dringende Verdacht, dass der Angeklagte der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung schuldig sei. Ebenso sei nach wie vor der Haftgrund der Fluchtgefahr gegeben; das Verfahren sei schließlich mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung gefördert worden.
4II. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
51. Gegen den Angeklagten besteht weiterhin der dringende Tatverdacht der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 StGB).
6a) Nach der Rechtsprechung des Senats unterliegt die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während laufender Hauptverhandlung vornimmt, im Haftbeschwerdeverfahren nur in eingeschränktem Maße der Nachprüfung durch das Beschwerdegericht (BGH, Beschlüsse vom - StB 9/12 mwN; vom - StB 17/07, juris Rn. 5; vom - StB 21/03, BGHR StPO § 112 Tatverdacht 3 mwN). Allein das Gericht, vor dem die Beweisaufnahme stattfindet, ist in der Lage, deren Ergebnisse aus eigener Anschauung festzustellen und zu würdigen sowie auf dieser Grundlage zu bewerten, ob der dringende Tatverdacht nach dem erreichten Verfahrensstand noch fortbesteht. Das Beschwerdegericht hat demgegenüber keine eigenen unmittelbaren Erkenntnisse über den Verlauf der Beweisaufnahme ().
7Es muss allerdings in die Lage versetzt werden, seine Entscheidung über das Rechtsmittel des Angeklagten auf einer hinreichend tragfähigen tatsächlichen Grundlage zu treffen, damit den erhöhten Anforderungen, die nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an die Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen zu stellen sind (vgl. etwa , juris Rn. 23), ausreichend Rechnung getragen werden kann. Daraus folgt indes nicht, dass das Tatgericht alle bislang erhobenen Beweise in der von ihm zu treffenden Entscheidung einer umfassenden Darstellung und Würdigung unterziehen muss. Die abschließende Bewertung der Beweise durch das Oberlandesgericht und ihre entsprechende Darlegung ist den Urteilsgründen vorbehalten. Das Haftbeschwerdeverfahren führt insoweit nicht zu einem über die Nachprüfung des dringenden Tatverdachts hinausgehenden Zwischenverfahren, in dem sich das Tatgericht zu Inhalt und Ergebnis aller Beweiserhebungen erklären müsste (vgl. BGH, Beschlüsse vom - StB 9/12 - und vom - StB 11/03, NStZ-RR 2003, 368).
8b) Bei Anwendung dieses Prüfungsmaßstabs hat das Oberlandesgericht ausreichend dargelegt, dass die Ergebnisse der bisherigen Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung das Vorliegen des dringenden Tatverdachts der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung derzeit nicht in Frage stellen. Dabei hat die Beweisaufnahme zunächst vor dem Hintergrund des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen, wie es in der Anklageschrift zusammengefasst ist, den dringenden Tatverdacht bestätigt, den der Senat auf der Grundlage des jeweiligen Ermittlungsergebnisses in seinen Haftprüfungsentscheidungen ebenfalls bejaht hatte. Ob sich dabei Beweismittel für eine Beteiligung des Angeklagten an Kampfhandlungen ergeben haben, oder ob dieser Vorwurf - wie die Verteidigung behauptet - mittlerweile nicht einmal mehr vom Generalbundesanwalt aufrecht erhalten wird, kann der Senat nicht beurteilen; angesichts der zahlreichen Beweismittel, die weitere Beteiligungshandlungen des Angeklagten belegen können, kommt diesem Aspekt aber für die Frage des die Untersuchungshaft rechtfertigenden dringenden Tatverdachts keine entscheidende Bedeutung zu. Dass und warum - jedenfalls derzeit - die am 34. Hauptverhandlungstag abgegebene Einlassung des Angeklagten, die zudem in erheblichem Widerspruch zu seinen früheren Angaben im Ermittlungsverfahren steht, mit Blick auf den dringenden Tatverdacht nicht zu einer anderen Beurteilung führt, hat das Oberlandesgericht in seinen Beschlüssen vom 11. und im Einzelnen dargelegt. Dabei ist insbesondere maßgeblich, dass die - im Hinblick auf den insoweit abzuarbeitenden Verfahrensstoff notwendig zeitintensive - Überprüfung der Einlassung noch nicht abgeschlossen ist; angesichts der zuvor an 33 Hauptverhandlungstagen durchgeführten Beweisaufnahme wäre eine ungeprüfte Übernahme der Einlassung des Angeklagten auch schlechterdings nicht nachvollziehbar. Bei dieser Sachlage ist die Annahme des weiterhin bestehenden dringenden Tatverdachts nicht zu beanstanden.
9Gleiches gilt hinsichtlich der von der Verteidigung anders als vom Oberlandesgericht und dem Generalbundesanwalt gedeuteten Beweisergebnisse aus der Gutachtenerstattung durch den Sachverständigen Dr. S. zur Frage des Gefolgschaftseides: Der Sachverständige soll zur Beantwortung ergänzender Fragen geladen werden. Bevor diese Befragung nicht durchgeführt worden ist, kann der Angeklagte nicht verlangen, dass sein einseitiges Verständnis der bisherigen Beweisaufnahme als ausschließlich maßgebliches festgeschrieben wird.
102. Zu Recht hat das Oberlandesgericht auch das weitere Vorliegen des Haftgrundes der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) bejaht. Insoweit nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden Ausführungen in dem angefochtenen Beschluss vom sowie im Nichtabhilfebeschluss des Bezug. Da der dringende Tatverdacht der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland nach wie vor besteht, erübrigt sich ein Eingehen auf die Erwägungen der Verteidigung, wie der Angeklagte unter Zugrundelegung seiner Einlassung zu bestrafen sein könnte. Zudem besteht der weitere Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO.
113. Die Fortdauer der Untersuchungshaft ist auch mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 112 Abs. 1 Satz 2 StPO) zu vereinbaren.
12a) Ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot als spezielle Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes liegt nicht vor.
13aa) Das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung ist bei jeder Entscheidung betreffend die Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft zu beachten. Nicht nur die Anordnung sondern auch die Dauer der Untersuchungshaft muss verhältnismäßig sein. Nach dem verfassungsrechtlich ebenfalls in Art. 2 Abs. 2 GG verankerten Beschleunigungsgebot in Haftsachen haben die Strafverfolgungsbehörden und -gerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen (Beschluss vom - 2 BvR 1113/10, juris Rn. 19 ff.). Bei der danach gebotenen auf den Einzelfall bezogenen Prüfung des Verfahrensablaufs sind etwa der Umfang und die Komplexität der Rechtssache, die Anzahl der beteiligten Personen und das Verhalten der Verteidigung zu beachten (vgl. , StV 2008, 198 f.).
14bb) Bei Anwendung dieser Grundsätze ist - im Gegensatz zur Auffassung der Verteidigung - die Planung und Durchführung der Hauptverhandlung nicht zu beanstanden.
15Das Oberlandesgericht hat die (ohne Anlage) 134 Seiten umfassende Anklageschrift vom mit Beschluss vom zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Der Vorsitzende hat bereits am Termine zur Hauptverhandlung ab dem bestimmt, und zwar regelmäßig auf dienstags und mittwochs sowie - fakultativ - auf donnerstags. Insgesamt ist bis zum an 40 Tagen die Hauptverhandlung durchgeführt worden. In der Regel fanden zwei Sitzungstermine pro Woche statt, nur in fünf Wochen wurde lediglich an einem Tag in der Woche verhandelt, wobei die in zwei Wochen im Juli ausgefallenen Verhandlungstage zu Gesprächen mit den Verfahrensbeteiligten genutzt wurden, die zur Abtrennung des Verfahrens gegen den Bruder des Angeklagten, den früheren Mitangeklagten C. , führten; gegen ihn ist das Verfahren zwischenzeitlich durch - rechtskräftiges - beendet. Somit sah nicht nur die Planung der Hauptverhandlung mehr als einen Verhandlungstag pro Woche vor, sondern es ist durchschnittlich auch an mehr als einem Tag pro Woche verhandelt worden (vgl. dazu , BVerfGK 12, 166). Soweit der Angeklagte die zu geringe Zeitdauer der einzelnen Verhandlungstage bemängelt, ist zu berücksichtigen, dass bei der zeitlichen Planung eines Verhandlungstages, an dem etwa Zeugen vernommen werden sollen, auch das Fragerecht der Verfahrensbeteiligten einzukalkulieren ist. Wenn dieses alsdann nicht oder nur in geringem Umfang wahrgenommen wird, so dass das Programm des Verhandlungstages früher als erwartet abgearbeitet worden ist, liegt darin kein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot. Gleiches gilt mit Blick auf die Terminsaufhebungen wegen des Urlaubs des Ergänzungsrichters und der Unterbrechung zur Sommerpause für den Urlaub sämtlicher Verfahrensbeteiligter: Unterbrechungen für eine angemessene Zeit sind bei einer ansonsten hinreichenden Terminsdichte zulässig (vgl. , StV 2008, 198).
16Auch im Übrigen hat das Oberlandesgericht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung verhandelt. Dies ergibt sich hinsichtlich der einzuführenden Urkunden bereits aus dem Umstand, dass solche weitgehend zum Gegenstand von Selbstleseverfahren gemacht worden sind. Soweit die Verteidigung dies in Abrede stellt, weil die beteiligten Richter den Inhalt dieser Urkunden doch bereits aus den Akten kennten, geht dies ersichtlich fehl, ergibt sich doch nicht zuletzt aus § 261 StPO, dass für die richterliche Überzeugungsbildung nur die Beweismittel herangezogen werden dürfen, die in die Hauptverhandlung eingeführt worden sind. Auch die von der Verteidigung als zu spät gerügte Beauftragung eines medizinischen Sachverständigen stellt angesichts der von dem Angeklagten erst am erteilten Erklärungen zur Entbindung der ihn behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht keinen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot dar.
17b) Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft verstößt auch im Übrigen nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die bisherige Dauer der Untersuchungshaft steht nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und - angesichts des dringenden Verdachts, der Angeklagte habe sich des Verbrechens der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung schuldig gemacht - der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden erheblichen Strafe. Dies gilt auch mit Blick auf das hypothetische Strafende unter Berücksichtigung einer etwaigen Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests zur Bewährung gemäß § 57 StGB (vgl. , juris Rn. 25). Der Zweck der Untersuchungshaft kann durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug nicht erreicht werden (§ 116 Abs. 1 StPO).
Becker Pfister Gericke
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Fundstelle(n):
NJW 2012 S. 8 Nr. 48
NJW 2013 S. 247 Nr. 4
PAAAE-22103