Instanzenzug: ArbG Offenbach Az: 6 Ca 325/09 Urteilvorgehend Hessisches Landesarbeitsgericht Az: 14 Sa 284/10 Urteil
Tatbestand
1Die Parteien streiten über eine Tariflohnerhöhung.
2Der Kläger ist bei der Beklagten und deren Rechtsvorgängern seit 1989 als Arbeitnehmer beschäftigt. Die Beklagte ist OT-Mitglied im Verband der hessischen Metall- und Elektrounternehmen; in ihren Betrieben sind Betriebsräte gebildet.
Nach dem zwischen der IG Metall und dem Verband der Metall- und Elektro-Unternehmen Hessen e.V. abgeschlossenen Tarifvertrag über Löhne, Gehälter und Ausbildungsvergütungen vom (LTV 2008) erhöhte sich der Grundlohn für die Zeit-, Akkord- und Prämienlohnarbeiter ab dem um 2,1 % und um weitere 2,1 % ab dem (§ 2 Nr. 1 Buchst. a, b LTV 2008). § 5 LTV 2008 lautet:
4Die Beklagte hatte Tariferhöhungen jedenfalls in der Vergangenheit an ihre Arbeitnehmer weitergegeben. Ende April 2009 gab sie allerdings durch Aushang bekannt, dass Entscheidungen über mögliche Erhöhungen der Löhne und Gehälter für das Jahr 2009 bis Mitte/Ende Juni 2009 ausgesetzt werden. In einer Mitarbeiterinformation von Ende Juni 2009 kündigte sie an, aufgrund des gegenwärtigen schwierigen wirtschaftlichen Gesamtumfeldes eine Entscheidung über die Lohnerhöhungen nicht vor Ende September 2009 treffen zu können.
5Die Beklagte schloss mit ihrem Gesamtbetriebsrat am eine Gesamtbetriebsvereinbarung zur Entgeltanpassung (GBV 2009) ab, wonach die zweite Stufe der Gehaltserhöhung erst ab dem wirksam werden sollte.
6Mit der vorliegenden Klage hat der Kläger die Zahlung der 2,1%igen Lohnerhöhung für die Monate Mai bis September 2009 verlangt. Er hat gemeint, die Beklagte sei nach den vertraglichen Vereinbarungen sowie aufgrund betrieblicher Übung zur Weitergabe der tariflich vereinbarten Lohnerhöhungen verpflichtet. Durch die erst am abgeschlossene Gesamtbetriebsvereinbarung könne der Zeitpunkt der vorgesehenen Lohnerhöhung nicht mehr verschoben werden.
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
8Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
Das Arbeitsgericht hat der Klage entsprochen, das Landesarbeitsgericht hat sie auf die Berufung der Beklagten abgewiesen. Mit der Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung der arbeitsgerichtlichen Entscheidung.
Gründe
10Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Ob der Kläger auch aufgrund einer arbeitsvertraglichen Vereinbarung oder aufgrund betrieblicher Übung eine Lohnerhöhung entsprechend § 2 Nr. 1 b) LTV 2008 verlangen kann, bedarf keiner Entscheidung. Die GBV 2009 hat den Zeitpunkt für die zweite Stufe der Tariferhöhung wirksam auf den hinausgeschoben.
111. Nach § 5 Satz 1 LTV 2008 kann der Beginn der Tarifperiode für das Wirksamwerden der zweiten Stufe der Lohnerhöhung entsprechend der wirtschaftlichen Lage des Betriebs durch freiwillige Betriebsvereinbarung vom bis längstens zum verschoben werden. Entgegen der Auffassung des Klägers konnte diese Betriebsvereinbarung auch noch nach dem abgeschlossen werden. Dies ergibt die Auslegung des LTV 2008.
12a) Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags erfolgt nach den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Dabei ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen verfolgte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit dies in den tariflichen Normen Niederschlag gefunden hat. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags oder die praktische Tarifübung ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt ( - Rn. 14).
b) Eine Tariföffnungsklausel, die den Betriebsparteien die abweichende Ausgestaltung der Tarifnormen durch eine nicht erzwingbare Betriebsvereinbarung ermöglicht, ist ohne Hinzutreten besonderer Umstände dahingehend auszulegen, dass diese entsprechend den für tarifliche Normen geltenden Grundsätzen auch rückwirkende Regelungen treffen können. Ein solches Verständnis belässt den Betriebsparteien in zeitlicher Hinsicht den ihnen durch eine Tariföffnungsklausel geschaffenen Freiraum. Wollen die Tarifvertragsparteien diesen begrenzen, muss das im Tarifvertrag deutlich zum Ausdruck kommen.
13c) Anhaltspunkte dafür, dass der Abschluss der in § 5 Satz 1 LTV 2008 vorgesehenen Betriebsvereinbarung nur bis zum erfolgen durfte, bestehen nicht.
14aa) Die Tarifvertragsparteien haben den Zeitpunkt, bis zu dem die nach § 5 Satz 1 LTV 2008 mögliche freiwillige Betriebsvereinbarung abgeschlossen werden konnte, nicht ausdrücklich bestimmt. Der Wortlaut der Tarifnorm rechtfertigt nicht die Annahme, die betriebliche Regelung habe bis zum zustande gekommen sein müssen. In zeitlicher Hinsicht bedeutet das Verb „verschieben“ ein Ereignis auf einen späteren Zeitpunkt verlegen oder dafür einen späteren Zeitpunkt bestimmen. Das in § 5 Satz 1 LTV 2008 bezeichnete Ereignis war der Termin des Wirksamwerdens der zweiten Stufe der Tariflohnerhöhung des Jahres 2009. Über den Zeitpunkt, bis zu dem die dafür erforderliche Betriebsvereinbarung abgeschlossen sein musste, verhält sich die Tarifnorm jedoch nicht.
15bb) Auch der Regelungszweck von § 5 Satz 1 LTV 2008 spricht gegen eine datumsmäßige Beschränkung der betrieblichen Regelungsbefugnis.
16Mit der Möglichkeit, den Zeitpunkt für die zweite Stufe der Tariflohnerhöhung um bis zu sieben Monate zu verschieben, sollte es den Betriebsparteien gestattet werden, den mit der Tariflohnerhöhung verbundenen Personalkostenanstieg zu begrenzen. Dies setzt den Abschluss einer freiwilligen Betriebsvereinbarung (§ 88 BetrVG) voraus. Deren Zustandekommen erfordert die Offenlegung der gegenwärtigen wirtschaftlichen Verhältnisse durch den Arbeitgeber. Erst nach deren Kenntnis kann der Betriebsrat sachgerecht beurteilen, ob er einer betrieblichen Regelung zustimmt, durch die der Belegschaft für einen Zeitraum von bis zu sieben Monaten ein Teil der Tariflohnerhöhung des Jahres 2009 vorenthalten wird. Die Tarifvertragsparteien konnten daher davon ausgehen, dass die Betriebsparteien die nach § 5 Satz 1 LTV 2008 erforderliche Betriebsvereinbarung erst abschließen, wenn sie die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betriebs im Zeitraum zwischen Mai und November 2009 einschätzen können. Dies spricht gegen ein Verständnis der Tarifnorm, das einen Abschluss der Betriebsvereinbarung bereits vor dem gebietet.
172. Das Hinausschieben der zweiten Stufe der Tariflohnerhöhung auf einen nach dem liegenden Zeitpunkt verstößt nicht gegen das für Tarifnormen geltende rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot.
18a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts tragen tarifvertragliche Regelungen auch während der Laufzeit des Tarifvertrags den immanenten Vorbehalt ihrer rückwirkenden Abänderbarkeit durch Tarifvertrag in sich. Dies gilt selbst für bereits entstandene und fällig gewordene, aber noch nicht abgewickelte Ansprüche. Die Gestaltungsfreiheit der Tarifvertragsparteien zu einem rückwirkenden Eingriff in ihr Regelwerk ist durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes für die Normunterworfenen begrenzt. Insoweit gelten die gleichen Regeln wie nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Rückwirkung von Gesetzen (zB - zu C III 2 a der Gründe, BVerfGE 95, 64). Ob und wann die Tarifunterworfenen mit einer rückwirkenden Regelung rechnen müssen, ist eine Frage des Einzelfalls ( - Rn. 26, BAGE 119, 374). Dabei ist das Vertrauen in den Bestand des tariflichen Anspruchs unabhängig davon schutzwürdig, ob der Tarifvertrag für das Arbeitsverhältnis kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Parteien gilt oder ob dessen Anwendung vertraglich vereinbart ist ( - Rn. 26, AP BAT § 53 Nr. 9). In der Regel müssen Arbeitnehmer nicht damit rechnen, dass in bereits entstandene Ansprüche eingegriffen wird, auch wenn sie noch nicht erfüllt oder noch nicht fällig sind. Etwas anderes gilt nur dann, wenn bereits vor der Entstehung des Anspruchs hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Tarifvertragsparteien diesen Anspruch zuungunsten der Arbeitnehmer ändern werden. Dabei hat der Wegfall des Vertrauensschutzes nicht zur Voraussetzung, dass der einzelne Tarifunterworfene positive Kenntnis von den maßgeblichen Umständen hat. Entscheidend und ausreichend ist vielmehr die Kenntnis der betroffenen Kreise ( - zu II 3 a der Gründe, BAGE 108, 176).
19b) Die Betriebsparteien haben in der GBV 2009 die zweite Stufe der Tariflohnerhöhung wirksam bis zum hinausgeschoben.
Der GBV 2009 kommt keine echte Rückwirkung zu. Sie greift nicht zulasten des Klägers in einen bereits abgeschlossenen Tatbestand ein. Die Beklagte hatte die nach § 2 Nr. 1 b) LTV 2008 entstandenen und fällig gewordenen Ansprüche bis zum Abschluss der GBV 2009 noch nicht erfüllt. Der von den Betriebsparteien geregelte Lebenssachverhalt war deshalb noch nicht abgewickelt. Der Grundsatz des Vertrauensschutzes ist nicht verletzt. Ein schutzwürdiges Vertrauen des Klägers auf die Weitergabe der zweiten Stufe der Tariflohnerhöhung bereits ab dem war nicht entstanden. Der Kläger musste nach den an die Belegschaft gerichteten Mitteilungen der Beklagten von Ende April 2009 und dessen Bestätigung durch Schreiben vom Juni 2009 damit rechnen, dass die Betriebsparteien von der in § 5 Satz 1 LTV 2008 vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch machen und den in § 2 Nr. 1 b) LTV 2008 bestimmten Zeitpunkt bis zum hinausschieben. Dazu brauchte die Beklagte auch nicht ausdrücklich auf den Abschluss der dazu notwendigen freiwilligen Betriebsvereinbarung hinweisen.
Fundstelle(n):
QAAAE-18158