BFH Beschluss v. - XI B 44/12

Bezeichnung des Gegenstands des Klagebegehrens; Wiedereinsetzung in die versäumte Beschwerdefrist

Gesetze: FGO § 54 Abs. 2, FGO § 56 Abs. 1, FGO § 56 Abs. 2, FGO § 65, FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, FGO § 116, AO § 164 Abs. 2, BGB § 187, BGB § 188, ZPO § 85 Abs. 2, ZPO § 222 Abs. 1

Instanzenzug:

Gründe

1 I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) beantragte mit ihrer Klage vom , den Bescheid des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt —FA—) über Umsatzsteuer für 2003 vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom aufzuheben. Der Klageschrift waren Kopien des angefochtenen Umsatzsteuer-Änderungsbescheids und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung beigefügt. Im Verlauf des finanzgerichtlichen Verfahrens gingen beim Finanzgericht (FG) weder eine Klagebegründung noch eine Prozessvollmacht ein.

2 Das FG setzte mit beim Prozessbevollmächtigten am eingegangenem Schreiben vom fruchtlos eine Ausschlussfrist gemäß § 65 Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) von einem Monat, innerhalb derer der Gegenstand des Klagebegehrens hätte bezeichnet werden sollen.

3 Der Prozessbevollmächtigte beantragte durch einen Vertreter unter Vorlage einer von einem Zahnarzt ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung am fernschriftlich um 15:36 Uhr, den Termin zur mündlichen Verhandlung am , 11:00 Uhr wegen Erkrankung aufzuheben und neu zu terminieren.

4 Das FG wies die Klage aufgrund mündlicher Verhandlung vom , zu der weder für die Klägerin noch für das FA jemand erschienen war, als unzulässig ab und legte die Kosten des Verfahrens dem als vollmachtlosen Vertreter aufgetretenen Prozessbevollmächtigten auf.

5 Es führte im Wesentlichen aus, dass der Termin zur mündlichen Verhandlung nicht aufzuheben gewesen sei. Die übermittelte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hätte mit „... Beschwerden 4. Quadrant” keine Umschreibung eines konkreten Krankheitsbildes enthalten, nach der die Verhandlungsfähigkeit des Prozessbevollmächtigten in der angesichts des kurz bevorstehenden Termins gebotenen Schnelligkeit hätte beurteilt werden können.

6 Die Klägerin sei der Aufforderung, den Gegenstand des Klagebegehrens zu bezeichnen, innerhalb der vom Gericht mit Schreiben vom gesetzten Ausschlussfrist nicht nachgekommen. Es sei nicht ausreichend, mit der Klageerhebung die ersatzlose Aufhebung eines Steuerbescheids zu beantragen.

7 In der Rechtsmittelbelehrung der angefochtenen Entscheidung hat das FG darauf hingewiesen, dass eine Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision beim Bundesfinanzhof (BFH) einzulegen sei.

8 Das Urteil vom wurde dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am zugestellt.

9 Die an das FG gerichtete Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision, mit der die Klägerin zugleich ihre Beschwerdegründe darlegt, ging bei diesem am Donnerstag, dem fernschriftlich ein. Das FG leitete die Beschwerde mit am eingegangenem Schreiben vom an den BFH weiter.

10 Mit Schreiben vom , das dem Prozessbevollmächtigten am zugestellt wurde, setzte der BFH die Klägerin unter Hinweis auf § 56 FGO darüber in Kenntnis, dass die gemäß § 116 Abs. 2 Satz 1 FGO beim BFH einzulegende Beschwerde verspätet eingegangen sei.

11 II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG.

12 1. Nach § 116 Abs. 1 FGO kann die Nichtzulassung der Revision durch Beschwerde (Nichtzulassungsbeschwerde) angefochten werden. Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils beim BFH einzulegen (§ 116 Abs. 2 Satz 1 FGO). Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach der Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen (§ 116 Abs. 3 Satz 1 FGO).

13 a) Das Urteil vom ging dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am zu. Die Einlegungsfrist des § 116 Abs. 2 Satz 1 FGO endete mithin mit Ablauf des (§ 54 Abs. 2 FGO, § 222 Abs. 1 der ZivilprozessordnungZPO— i.V.m. § 187 Abs. 1 und § 188 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs). Die Beschwerde —zugleich auch Beschwerdebegründung— ging beim BFH aber erst am und damit verspätet ein.

14 b) Der Klägerin war jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 56 Abs. 1 FGO zu gewähren. Sie war ohne Verschulden verhindert, die Frist zur Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde einzuhalten.

15 aa) Einer Wiedereinsetzung steht nicht entgegen, dass die Klägerin gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO keinen Antrag auf Wiedereinsetzung binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses am stellte. Vorliegend bedurfte es gemäß § 56 Abs. 2 Satz 4 FGO keines formellen Wiedereinsetzungsantrags, weil die Rechtshandlung —hier Beschwerdeerhebung— am nachgeholt worden war.

16 bb) Die verspätete Einlegung der vorliegenden Beschwerde ist der Klägerin zwar als Verschulden anzulasten. Die Fristversäumnis ist darauf zurückzuführen, dass die Klägerin die Beschwerdeschrift entgegen § 116 Abs. 2 Satz 1 FGO und der zutreffenden Rechtsmittelbelehrung des FG nicht an den BFH, sondern an das FG gerichtet hat. Als Klägerin trägt sie das Risiko des verspäteten Eingangs der Beschwerde beim BFH (vgl. BFH-Beschlüsse vom XI B 130/02, BFH/NV 2005, 563; vom XI B 99/08, BFH/NV 2009, 778, jeweils m.w.N.). Ein etwaiges Verschulden des Prozessbevollmächtigten ist ihr zuzurechnen (§ 155 FGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO).

17 cc) Jedoch ist eine Mitverantwortung der Geschäftsstelle des FG für die Fristversäumnis mit der Folge gegeben, dass sich das Verschulden der Klägerin nicht auswirkt. Das FG, das mit der Sache bereits befasst gewesen war, musste den bei ihm eingereichten fristgebundenen Schriftsatz für das Beschwerdeverfahren an den BFH als das zuständige Rechtsmittelgericht weiterleiten. Einem Beteiligten ist —wie hier— Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn ein solcher Schriftsatz —hier am — so zeitig eingereicht worden ist, dass die fristgerechte Weiterleitung an das Rechtsmittelgericht im ordentlichen Geschäftsgang —hier bis zum — ohne weiteres erwartet werden kann (vgl. Beschlüsse des , BVerfGE 93, 99, unter C.II.2.b; vom 1 BvR 476/01, BStBl II 2002, 835; BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2005, 563; in BFH/NV 2009, 778, jeweils m.w.N.).

18 2. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist auch begründet. Das vorinstanzliche Urteil beruht auf einem Verfahrensfehler. Es war daher aufzuheben und der Rechtsstreit an das FG zurückzuverweisen (§ 116 Abs. 6 i.V.m. § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).

19 a) Weist das FG die Klage zu Unrecht als unzulässig ab, liegt ein Verfahrensmangel vor, auf dem das Urteil beruht (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom II B 97/05, BFH/NV 2006, 1129; vom VIII B 12/10, BFH/NV 2010, 1846). Ein solcher Verfahrensmangel kann auch gegeben sein, wenn das FG zu Unrecht annimmt, der Kläger habe den Gegenstand des Klagebegehrens i.S. des § 65 Abs. 1 FGO nicht in ausreichender Weise bezeichnet (vgl. , BFH/NV 2011, 1713).

20 b) Mit der Rüge, das angefochtene Urteil hätte aus „rechtlichen Gesichtspunkten” heraus nicht als klageabweisendes Urteil ergehen dürfen (Beschwerdeschrift, S. 2), hat die Klägerin einen solchen Verfahrensmangel schlüssig geltend gemacht. Denn ihr Vorbringen ist —rechtsschutzgewährend— auch dahingehend zu verstehen, dass das FG die Klage nicht durch Prozessurteil hätte abweisen dürfen.

21 c) Der geltend gemachte Verfahrensmangel liegt vor. Das FG hat die Klage zu Unrecht als unzulässig abgewiesen. Die Klägerin hatte den Gegenstand des Klagebegehrens in ihrer Klageschrift bereits hinreichend bezeichnet.

22 aa) Zum notwendigen Inhalt einer Anfechtungsklage gehört gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO —neben der Angabe des Klägers, des Beklagten und des angefochtenen Verwaltungsaktes sowie der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf— die Bezeichnung des Gegenstands des Klagebegehrens. Entspricht die Klage diesen Anforderungen nicht, hat der Vorsitzende oder ein von ihm bestimmter Richter (Berichterstatter) den Kläger zu der erforderlichen Ergänzung innerhalb einer bestimmten Frist aufzufordern (§ 65 Abs. 2 Satz 1 FGO). Dem Kläger kann für die Ergänzung eine Frist mit ausschließender Wirkung gesetzt werden, wenn es an einem der in § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO genannten Erfordernisse fehlt (§ 65 Abs. 2 Satz 2 FGO). Entspricht die eingereichte Klage den in § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO genannten Erfordernissen, ist eine gleichwohl verfügte Ausschlussfrist hinfällig (vgl. BFH-Beschlüsse vom VI B 114/01, BFHE 198, 1, BStBl II 2002, 306; vom VI B 89/02, BFH/NV 2004, 1541; in BFH/NV 2011, 1713, jeweils m.w.N.).

23 bb) Wie weit das Klagebegehren im Einzelnen zu substantiieren ist, hängt der höchstrichterlichen Rechtsprechung zufolge von den Umständen des jeweiligen Streitfalles ab, insbesondere von dem Inhalt des angefochtenen Verwaltungsaktes, der Steuer- und der Klageart. Entscheidend ist, ob das Gericht durch die Angaben des Klägers in die Lage versetzt wird, zu erkennen, worin die den Kläger treffende Rechtsverletzung nach dessen Ansicht liegt (vgl. BFH-Beschlüsse in BFHE 198, 1, BStBl II 2002, 306; in BFH/NV 2004, 1541; in BFH/NV 2011, 1713, jeweils m.w.N.).

24 Gegebenenfalls muss der Gegenstand des Klagebegehrens im Wege der Auslegung festgestellt werden (vgl. BFH-Beschlüsse vom XI B 213/01, BFH/NV 2004, 514; in BFH/NV 2011, 1713, jeweils m.w.N.). Ein bloßer Aufhebungsantrag kann daher genügen, wenn für das FG zweifelsfrei erkennbar ist, dass der Kläger sich gegen die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids dem Grunde nach wendet (vgl. BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2004, 1541; in BFH/NV 2011, 1713).

25 cc) Im Streitfall hat die Klägerin mit der Klageerhebung die Aufhebung des Bescheids über Umsatzsteuer für 2003 vom —ein die Steuerfestsetzung nach § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung ändernder Bescheid— in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom beantragt. Aus dem der Klageerhebung beigefügten angefochtenen Bescheid und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung ist zu entnehmen, dass die geänderte Steuerfestsetzung die Nachversteuerung der Umsätze aus den Verkäufen der betrieblichen Fahrzeuge A in Höhe von . € netto und B in Höhe von . € netto betrifft. Im finanzgerichtlichen Verfahren war —nachdem wie aus der Einspruchsentscheidung vom entnommen werden konnte, der Einspruch der Klägerin hinsichtlich des Verkaufs des B begründet war— noch der Verkauf des A streitig. In der Einspruchsentscheidung ist mithin der zwischen der Klägerin einerseits und dem FA andererseits noch verbleibende Streitpunkt unter Schilderung des zugrunde liegenden Lebenssachverhalts aufgeführt. Der Gegenstand des Klagebegehrens i.S. des § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO ergibt sich dementsprechend im Streitfall mit hinreichender Klarheit aus der Zusammenschau von Klageantrag, Steuerbescheid und Einspruchsentscheidung. Das FG hätte daher die Ausschlussfrist nach § 65 Abs. 2 Satz 2 FGO nicht setzen und die Klage nicht als unzulässig abweisen dürfen.

26 3. Der BFH kann gemäß § 116 Abs. 6 FGO auf die Nichtzulassungsbeschwerde hin das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverweisen, sofern —wie hier— die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vorliegen.

27 Es erscheint sachgerecht, entsprechend dieser Vorschrift zu verfahren, da im Streitfall von einer Revisionsentscheidung keine weitere rechtliche Klärung zu erwarten ist (vgl. BFH-Beschlüsse vom I B 18/03, BFH/NV 2004, 207; vom II B 107/09, BFH/NV 2010, 938; vom XI B 1/12, nicht veröffentlicht, juris, unter II.3.).

28 4. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 116 Abs. 5 Satz 2 FGO).

Fundstelle(n):
AO-StB 2012 S. 338 Nr. 11
BFH/NV 2012 S. 1811 Nr. 11
PAAAE-17156