BGH Beschluss v. - 1 StR 68/12

Beweiswürdigung im Strafverfahren wegen Vergewaltigung: Erfordernis eines richterlichen Hinweises vor Verwertung einer gerichtskundigen Tatsache

Gesetze: § 261 StPO, § 271 StPO, Art 103 Abs 1 GG, § 177 StGB

Instanzenzug: LG Mannheim Az: 702 Js 11565/10 - 7 KLs

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung (Fall II. B. 1. der Urteilsgründe), Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung (Fall II. B. 2. der Urteilsgründe), Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung (Fall II. B. 3. der Urteilsgründe) sowie wegen Bedrohung (Fall II. B. 4. der Urteilsgründe) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf eine Verfahrens- und die Sachrüge gestützten Revision. Das im Übrigen unbegründete Rechtsmittel hat mit der Verfahrensrüge nur im tenorierten Umfang Erfolg.

21. Nach den Feststellungen zur Tat II. B. 2. hat der Angeklagte in der ersten Stunde des seine damalige Freundin Y.    durch Androhung von Schlägen dazu gebracht, gegen ihren Willen den vaginalen Geschlechtsverkehr ungeschützt bis zum Samenerguss zu erdulden.

3a) Der in diesem Zusammenhang erhobenen Verfahrensrüge, der Anspruch des Angeklagten auf rechtliches Gehör sei verletzt worden, liegt - auch unter Berücksichtigung der durch die Sachrüge eröffneten schriftlichen Urteilsgründe - folgendes Prozessgeschehen zugrunde:

4Der Angeklagte hat angegeben, seine Freundin niemals zum Geschlechtsverkehr gezwungen zu haben. Zu der Frage, ob es in der Tatnacht überhaupt zum Geschlechtsverkehr gekommen ist, hat er sich unterschiedlich geäußert: Während er in der Hauptverhandlung bekundet hat, er glaube dies, „sei sich da aber nicht sicher“ (UA S. 13), hat er bei seiner polizeilichen Vernehmung am ausgesagt, er „könne (dies) nicht ausschließen, … glaube dies aber nicht“ (UA S. 14), und vor dem Haftrichter am angegeben, „dass es seiner - nicht sicheren - Erinnerung nach … zu Geschlechtsverkehr gekommen sei“ (UA S. 15).

5Y.   hat die Tat im Rahmen ihrer polizeilichen Zeugenvernehmungen so geschildert, wie sie zu II. B. 2. der Urteilsgründe festgestellt worden ist. In der Hauptverhandlung hatte sie allerdings „keine konkrete Erinnerung mehr …, sondern war nur in der Lage zu schildern, wie der Angeklagte … üblicherweise … den Geschlechtsverkehr erzwang“ (UA S. 17).

6Bei einer am gegen 22.50 Uhr durchgeführten gynäkologischen Untersuchung von Y.    wurden keine Spermatozoen festgestellt. Dies hat das Landgericht als nicht gegen die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben sprechend bewertet, weil der ungeschützte Geschlechtsverkehr zum Untersuchungszeitpunkt bereits etwa 23 Stunden zurücklag, und diesbezüglich ausgeführt: „Wie der Kammer, die häufig mit Sexualdelikten befasst ist, bekannt ist, können Spermatozoen innerhalb eines solchen Zeitraums bereits zersetzt und damit nicht mehr nachweisbar sein“ (UA S. 23).

7Die Revision rügt, das Landgericht habe über diese Tatsache keinen Beweis erhoben, sondern sie als gerichtskundig angesehen und bei seiner Beweiswürdigung herangezogen, ohne den Angeklagten zuvor auf die in Anspruch genommenen gerichtlichen Kenntnisse hingewiesen zu haben.

8b) Diese - zulässig erhobene (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) - Rüge greift durch (§ 349 Abs. 4 StPO).

9aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist vor der Verwertung einer gerichtskundigen Tatsache in aller Regel ein Hinweis zu erteilen, das Tatgericht werde sie (möglicherweise) seiner Entscheidung als offenkundig zugrunde legen (, BGHR StPO § 261 Gerichtskundigkeit 2; ebenso Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß, 5. Aufl., S. 570 f. mwN). Hierdurch soll dem Angeklagten rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) gewährt und ihm insbesondere die Möglichkeit wirksamer Verteidigung eröffnet werden (, BGHR StPO § 261 Gerichtskundigkeit 1; s. auch , BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Offenkundigkeit 3).

10bb) Ein solcher Hinweis ist vorliegend nicht gegeben worden. Dies folgt allerdings nicht schon daraus, dass das Hauptverhandlungsprotokoll insoweit schweigt. Denn die Erörterung einer gerichtskundigen Tatsache gehört nicht zu den wesentlichen Förmlichkeiten, deren Beachtung das Protokoll ersichtlich machen muss (, BGHSt 36, 354, 359 f.).

11Der geltend gemachte Verfahrensfehler wird jedoch durch die vom Senat eingeholten dienstlichen Erklärungen bewiesen. Nach der Stellungnahme der Vorsitzenden Richterin vom „hat sich die Kammer nicht veranlasst gesehen, noch einmal ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass die Annahme eines stattgefundenen Geschlechtsverkehrs mit“ dem gynäkologischen „Untersuchungsergebnis durchaus zu vereinbaren sein kann“. In vergleichbarer Weise haben sich die beisitzenden Richterinnen in ihren Stellungnahmen vom 10. bzw. geäußert. Die staatsanwaltschaftlichen Sitzungsvertreter haben sich diesbezüglich nicht mehr erinnern können.

12cc) Der Senat vermag nicht auszuschließen, dass der Schuldspruch wegen der zu II. B. 2. festgestellten Tat auf dem Verfahrensfehler beruht, weil der vom Landgericht als gerichtskundig angesehene Umstand (Dauer der Nachweisbarkeit von Spermatozoen) für die Frage, ob es zum Tatzeitpunkt überhaupt zum Geschlechtsverkehr gekommen ist, bedeutsam sein kann. Anders verhielte es sich zwar, wenn dies den Einlassungen des Angeklagten entnommen werden könnte. Hierzu erweisen sich diese aber als zu unsicher.

132. Die zu II. B. 1. und 3. der Urteilsgründe festgestellten Taten richteten sich zwar ebenfalls gegen Y.   . Ebenso wie beim Fall II. B. 4. der Urteilsgründe, den der Angeklagte gestanden hat, vermag der Senat insofern aber auszuschließen, dass sich der dargelegte Verfahrensfehler - namentlich auf die zugrunde liegende Beweiswürdigung - ausgewirkt hat. Denn das Landgericht hat die Verurteilung jeweils auf eine sorgfältige Würdigung der erzielten Beweisergebnisse gestützt und hierbei berücksichtigt, dass der Angeklagte einen der Vorwürfe (Fall zu II. B. 1. der Urteilsgründe) - wenn auch in abgeschwächter Form - selbst eingeräumt hat.  

143. Die Aufhebung des Schuldspruchs im Fall II. B. 2. der Urteilsgründe zieht den Wegfall der für diese Tat verhängten Einzelstrafe von zwei Jahren und neun Monaten sowie, da es sich dabei um die Einsatzstrafe handelt, die Aufhebung des Ausspruchs über die Gesamtstrafe nach sich. Die übrigen gegen den bereits zuvor wegen mehrerer Körperverletzungen verurteilten Angeklagten verhängten Einzelstrafen (neun- und sechsmonatige Freiheitsstrafe, Geldstrafe vom 90 Tagessätzen zu je 5 €) können bestehen bleiben.

154. Im Übrigen hat die Nachprüfung des Urteils einen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten nicht ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).

Nack                            Wahl                                Graf

                 Jäger                             Sander

Diese Entscheidung steht in Bezug zu

Fundstelle(n):
AO-StB 2013 S. 28 Nr. 1
CAAAE-16479