Betriebliche Sonderzahlung - Anrechnung einer erfolgsorientierten Prämie auf Tarifanspruch - § 4 TV Absicherung betrieblicher Sonderzahlungen für die Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie Tarifgebiete Südbaden und Südwürttemberg-Hohenzollern
Gesetze: § 362 BGB, § 612a BGB, § 1 TVG
Instanzenzug: ArbG Pforzheim Az: 5 Ca 107/10 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg Az: 2 Sa 97/10 Urteil
Tatbestand
1Die Parteien streiten über eine tarifliche Sonderzahlung.
Die Kläger sind langjährige Beschäftigte der Beklagten. Auf die Arbeitsverhältnisse findet kraft Tarifbindung ua. der Tarifvertrag über die Absicherung betrieblicher Sonderzahlungen für die Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie in den Tarifgebieten Südbaden und Südwürttemberg-Hohenzollern vom (TV-Sonderzahlungen) Anwendung. Dieser lautet auszugsweise:
Die Beklagte zahlt jährlich erfolgsorientierte Prämien (EOP) an ihre Mitarbeiter. Die Betriebsvereinbarung bezüglich EOP für das Jahr 2008 vom (BV-EOP) regelt ua. Folgendes:
4Die Beklagte zahlte die sich errechnende EOP mit den Lohnabrechnungen für April 2009 an die Kläger. Auf der Grundlage einer tariflichen Öffnungsklausel führte sie mit den Betriebsräten ihrer Betriebe Verhandlungen darüber, die zum tariflich vereinbarte Entgelterhöhung von 2,1 % wegen der wirtschaftlichen Lage bis zum zu verschieben. Der Betriebsrat des Beschäftigungsbetriebs der Kläger stimmte der Verschiebung nicht zu, hier wurden die Tarifentgelte zum erhöht. Nach Ankündigung durch Schreiben an die Belegschaft vom rechnete die Beklagte die gezahlte EOP mit den Entgeltabrechnungen für November 2009 auf die tarifliche Sonderzahlung an. Auf die Möglichkeit der Anrechnung hatte sie in den Verhandlungen mit dem Betriebsrat hingewiesen.
5Mit der Klage begehren die Kläger die volle tarifliche Sonderzahlung. Die EOP sei keine anrechnungsfähige Leistung iSv. § 4 TV-Sonderzahlungen, weil sie einen anderen Leistungszweck verfolge. Sie sei als „übertarifliche“ Leistung vereinbart und deshalb der Anrechnung entzogen. Schließlich verstoße die Anrechnung als Reaktion auf eine zulässige Rechtsausübung des Betriebsrats gegen § 612a BGB.
Die Kläger haben beantragt, die Beklagte zu verurteilen,
7Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen, und die Auffassung vertreten, mit Zahlung der EOP sei der Anspruch auf die tarifliche Sonderzahlung in dem geltend gemachten Umfang erfüllt worden.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgen die Kläger ihr Klagebegehren weiter.
Gründe
9Die Revision ist unbegründet. Der Anspruch der Kläger auf die betriebliche Sonderzahlung nach § 2 TV-Sonderzahlungen für das Jahr 2009 ist nach § 4 TV-Sonderzahlungen im geltend gemachten Umfang durch Zahlung der EOP im April 2009 erfüllt worden (§ 362 Abs. 1 BGB).
10I. Nach der Rechtsprechung des Senats zu wortgleichen Tarifnormen aus anderen Tarifgebieten der Metall- und Elektroindustrie erfüllen alle vom Arbeitgeber aufgrund eines betrieblichen Systems zusätzlich gewährten Leistungen den tariflichen Anspruch auf die betriebliche Sonderzahlung, sofern sie - ebenso wie die in § 4 Satz 1 TV-Sonderzahlungen aufgeführten zusätzlichen Leistungen - auf das Kalenderjahr bezogen sind ( - zu II 2 a der Gründe, zu § 4 des Tarifvertrags über betriebliche Sonderzahlungen für das Tarifgebiet II Berlin-Ost und Brandenburg vom ; - 10 AZR 532/94 - zu II 2 der Gründe, zu § 5 des Tarifvertrags über betriebliche Sonderzahlungen für gewerbliche Arbeitnehmer und Angestellte für die Metallindustrie Hamburgs und Umgebung sowie Schleswig-Holstein). An diesem weiten Verständnis der Anrechnungsvorschrift hält der Senat fest. Wie schon die genaue Bezeichnung des TV-Sonderzahlungen zum Ausdruck bringt, sollen betriebliche Sonderzahlungen tariflich abgesichert werden. Ziel des Tarifvertrags ist danach nicht die Begründung eines Anspruchs auf tarifliche Sonderzahlungen zusätzlich zu betrieblichen Leistungen. Vielmehr werden bisher übertariflich erbrachte Sonderzahlungen faktisch in die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrags überführt. Nur soweit der Arbeitgeber sie noch nicht erbringt, ergibt sich ein zusätzlicher Anspruch bzw. tritt eine zusätzliche Belastung ein. Dies bestätigen die weiteren Regelungen des Tarifvertrags. Nach § 2 TV-Sonderzahlungen haben Beschäftigte einen Anspruch auf „betriebliche Sonderzahlungen“. Nach § 4 TV-Sonderzahlungen gelten als „betriebliche Sonderzahlungen“, die diesen Anspruch erfüllen, sowohl reine Gratifikationen wie auch im Synallagma zur erbrachten Arbeitsleistung stehende Vergütungen wie Jahresprämien, Jahresabschlussvergütungen und Ergebnisbeteiligungen. Dass alle jahresbezogenen betrieblichen Leistungen nach § 4 TV-Sonderzahlungen den Anspruch erfüllen sollen und deshalb ein weites Verständnis der Norm geboten ist, kommt schließlich darin zum Ausdruck, dass die anrechnungsfähigen betrieblichen Leistungen ausdrücklich nicht abschließend („u. ä.“) benannt sind. Für den Eintritt der Erfüllungswirkung nach § 4 Satz 1 TV-Sonderzahlungen wird damit auch nicht vorausgesetzt, dass der Zweck der betrieblichen Leistung mit dem der Sonderzahlung in § 2 TV-Sonderzahlungen identisch ist.
11II. Die nach Ziff. 4 BV-EOP gezahlte EOP hat den Anspruch auf eine betriebliche Sonderzahlung nach § 2 TV-Sonderzahlungen erfüllt.
121. Die EOP ist eine zumindest ähnliche Leistung iSv. § 4 Satz 1 TV-Sonderzahlungen. Sie wird auf der Grundlage von Kenngrößen der Liefertreue, Quantität, Qualität und Steigerung der Arbeitseffizienz ermittelt, nach Ziff. 2 BV-EOP vorrangig in Abhängigkeit vom Geschäftserfolg und nach Ziff. 4 BV-EOP nur an die Mitarbeiter gezahlt, die zum Stichtag in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis stehen und deren Arbeitsverhältnis mindestens sechs Monate bestanden hat. Damit verbindet die EOP Elemente einer leistungsbezogenen Jahresprämie, einer Ergebnisbeteiligung sowie einer Gratifikation.
132. Unerheblich ist, dass die EOP für das abgelaufene Geschäftsjahr 2008 gezahlt wurde und damit einen anderen Leistungszeitraum betrifft als der Anspruch aus § 2 TV-Sonderzahlungen für das Jahr 2009. Anrechenbare Leistung nach § 4 Satz 1 TV-Sonderzahlungen und Anspruch nach § 2 TV-Sonderzahlungen müssen nicht auf dasselbe Kalenderjahr bezogen sein. Dass die Tarifvertragsparteien in § 4 TV-Sonderzahlungen auch Leistungen erfassen wollten, die für einen zurückliegenden Bezugszeitraum gezahlt werden, zeigt die ausdrückliche Aufnahme der Jahresabschlussvergütungen und der Ergebnisbeteiligungen, die regelmäßig erst nach Ablauf des Bezugszeitraums gezahlt werden. Für die Erfüllungswirkung dieser Leistungen auf den tariflichen Anspruch ist es ohne Bedeutung, wenn sich die Leistungen auf einen bereits abgelaufenen Zeitraum beziehen ( - zu II 1 b der Gründe).
14III. Die Erfüllungswirkung nach § 4 TV-Sonderzahlungen ist nicht dadurch ausgeschlossen, dass die EOP nach Ziff. 2 Satz 2 BV-EOP ein „übertariflicher Anspruch“ ist. Es kann dahinstehen, inwieweit Betriebsparteien eine tariflich geregelte Erfüllungswirkung durch Betriebsvereinbarung ausschließen oder gestalten können. Die BV-EOP bestimmt keinen Anrechnungsausschluss; durchgreifende Anhaltspunkte dafür, dass die EOP grundsätzlich zusätzlich zur betrieblichen Sonderzahlung nach § 2 TV-Sonderzahlungen geleistet werden soll, bestehen nicht.
151. Betriebsvereinbarungen sind wegen ihres normativen Charakters wie Tarifverträge oder Gesetze auszulegen. Auszugehen ist danach vom Wortlaut der Bestimmung und dem durch ihn vermittelten Wortsinn. Insbesondere bei unbestimmtem Wortsinn sind der wirkliche Wille der Betriebsparteien und der von ihnen verfolgte Zweck zu berücksichtigen, sofern und soweit sie im Text ihren Niederschlag gefunden haben. Abzustellen ist ferner auf den Gesamtzusammenhang und die Systematik der Regelungen sowie die von den Betriebsparteien praktizierte Handhabung der Betriebsvereinbarung. Im Zweifel gebührt derjenigen Auslegung der Vorzug, die zu einem sachgerechten, zweckorientierten, praktisch brauchbaren und gesetzeskonformen Verständnis der Regelung führt (BAG - 1 AZR 376/10 - Rn. 15; - 1 AZR 67/09 - Rn. 9, AP BetrVG 1972 § 77 Betriebsvereinbarung Nr. 52 = EzA BetrVG 2001 § 77 Nr. 31).
162. Dass die EOP nach dem Wortlaut der Norm ein „übertariflicher Anspruch“ ist, bedeutet für sich genommen nur, dass sie nicht bereits aus anderem - tariflichen - Rechtsgrund geschuldet wird; daraus ergibt sich nicht, dass eine Anrechnung auf die betriebliche Sonderzahlung nach § 2 TV-Sonderzahlungen ausgeschlossen ist. Vielmehr nimmt der Tarifvertrag gerade auf die übertariflichen jährlichen Sonderzahlungen der Betriebe Rücksicht. Dies bestätigt die Regelungssystematik der BV-EOP. Sie verweist in Ziff. 7 (Berechnungsgrundlage) ausdrücklich auf die Regelungen zur Bemessung der tariflich abgesicherten betrieblichen Sonderzahlungen im Tarifgebiet. Legt die BV-EOP Bestimmungen des TV-Sonderzahlungen zugrunde, hätte eindeutig bestimmt werden müssen, wenn andere Regelungen des Tarifvertrags, wie vorliegend die ausdrücklich vorgesehene Erfüllungswirkung, ausgeschlossen sein sollen. Daran fehlt es. Die EOP macht als übertariflicher Anspruch auch dann einen Sinn, wenn sie von vornherein anrechenbar iSv. § 4 TV-Sonderzahlungen ist; denn ihre Anspruchsvoraussetzungen sind jedenfalls teilweise für die Arbeitnehmer günstiger als die der tariflichen Leistung.
17IV. Die Berufung der Beklagten auf die tariflich bestimmte Erfüllungswirkung des § 4 TV-Sonderzahlungen verstößt nicht gegen das Maßregelungsverbot des § 612a BGB.
181. Nach § 612a BGB darf der Arbeitgeber einen Arbeitnehmer bei einer Vereinbarung oder einer Maßnahme nicht benachteiligen, weil der Arbeitnehmer in zulässiger Weise seine Rechte ausübt. Über den unmittelbaren Anwendungsbereichs der Vorschrift hinaus kann als Rechtsausübung auch ihre kollektive Ausübung durch den Betriebsrat in Betracht kommen ( - Rn. 29, BAGE 124, 71). Eine Benachteiligung liegt nicht nur vor, wenn der Arbeitnehmer eine Einbuße erleidet, sondern auch dann, wenn ihm Vorteile vorenthalten werden, die der Arbeitgeber Arbeitnehmern gewährt, falls diese ihre Rechte nicht ausüben. Das Maßregelungsverbot setzt voraus, dass zwischen der Benachteiligung und der Rechtsausübung ein unmittelbarer Zusammenhang besteht. Die zulässige Rechtsausübung muss der tragende Grund, dh. das wesentliche Motiv für die benachteiligende Maßnahme sein. Es reicht nicht aus, dass die Rechtsausübung nur den äußeren Anlass für die Maßnahme bildet (st. Rspr., - Rn. 23; - 5 AZR 520/10 - Rn. 27, EzA BGB 2002 § 242 Gleichbehandlung Nr. 26).
192. Der Betriebsrat hat zwar, indem er der Verschiebung der Tariflohnerhöhung nicht zugestimmt hat, ein Recht iSv. § 612a BGB ausgeübt. Das Berufen der Beklagten auf die tarifliche Erfüllungswirkung des § 4 Satz 1 TV-Sonderzahlungen ist auch eine benachteiligende Maßnahme des Arbeitgebers; denn die Beklagte hatte, wie auch schon in früheren Jahren und entsprechend der Formulierung im Schreiben vom , ohne Weiteres die Möglichkeit, von ihrem tariflichen Recht keinen „Gebrauch zu machen“. Die zulässige Rechtsausübung des Betriebsrats war aber nicht wesentliches Motiv für die Maßnahme. Die Beklagte wollte die wirtschaftlichen Vorteile, die in der möglichen Verschiebung der Tariflohnerhöhung liegen, realisieren. Entsprechende Vorteile konnte sie nach Ablehnung der Verschiebung der Tariflohnerhöhung durch den Betriebsrat nur über die - bereits in den Verhandlungen mit dem Betriebsrat angekündigte - tariflich geregelte Kürzung der Sonderzahlung erreichen. Tragendes Motiv war somit nicht die Sanktion einer bestimmten Ausübung des Mitbestimmungsrechts, sondern die Realisierung einer im Tarifvertrag angelegten wirtschaftlichen Vergünstigung.
V. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1, § 100 Abs. 1 ZPO.
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Fundstelle(n):
NAAAE-14287