Erklärung der Verrechnung - Zulässigkeit - Verwaltungsakt
Gesetze: § 51 SGB 1, § 52 SGB 1, § 24 Abs 2 Nr 7 SGB 10, § 31 SGB 10, § 48 SGB 10, § 155 Abs 3 SGG
Instanzenzug: SG Hildesheim Az: S 4 R 280/06 Urteilvorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Az: L 10 R 480/07 Urteil
Tatbestand
1Die Beteiligten streiten über die Berechtigung des beklagten Rentenversicherungsträgers, Ansprüche der beigeladenen Bundesagentur für Arbeit gegen den Kläger mit dessen Altersrente durch Verwaltungsakt zu verrechnen.
2Der Kläger bezieht von der Beklagten seit Oktober 2003 Altersrente wegen Arbeitslosigkeit, deren monatlicher Zahlbetrag sich ab Oktober 2005 auf 873,83 Euro netto belief. Die Beigeladene ermächtigte die Beklagte mit Schreiben vom zur Verrechnung einer ihr zustehenden Forderung in Höhe von 53 012,27 Euro (aus Überzahlung von Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen sowie Mahnkosten) mit Leistungsansprüchen des Klägers. Nach dessen Anhörung erklärte die Beklagte im Bescheid vom , der Anspruch der Beigeladenen werde mit seinem Anspruch auf Rente derart verrechnet, dass ab dem nächstmöglichen Zeitpunkt monatlich 436 Euro von der Rentenzahlung einbehalten und an die Beigeladene bis zur Tilgung der Forderung gezahlt würden. Den Widerspruch des Klägers, der geltend gemacht hat, aufgrund der Höhe des Einbehalts sozialhilfebedürftig zu werden, wies die Beklagte zurück, weil dieser die angeforderte Bescheinigung (Grundsicherungsbedarfsberechnung) des Sozialamts zum Nachweis, dass er bei einer Verrechnung sozialhilfebedürftig werde, nicht vorgelegt habe (Widerspruchsbescheid vom ).
3Während des anschließenden Klageverfahrens hat die Beklagte ab Juli 2006 monatlich 436 Euro von der Altersrente des Klägers einbehalten und auf ein Verwahrkonto eingezahlt. Auf seinen Antrag hin hat das festgestellt, dass dessen Klage aufschiebende Wirkung habe. Zudem hat der Kläger, der im Oktober 2006 geheiratet hat, im Juli 2007 eine Bescheinigung des örtlichen Sozialhilfeträgers vom vorgelegt, die einen monatlichen sozialhilferechtlichen Gesamtbedarf der Einstandsgemeinschaft in Höhe von 1005 Euro auswies.
4Nachfolgend hat das SG den Bescheid der Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids aufgehoben (Urteil vom ). Die in dem Verwaltungsakt enthaltene öffentlich-rechtliche Willenserklärung in Form der Verrechnungserklärung stehe nicht zur Überprüfung, weil der (durch einen Rechtsanwalt vertretene) Kläger hierfür eine Leistungsklage auf Auszahlung bereits einbehaltener Beträge hätte erheben müssen, dies aber trotz eines Hinweises nicht getan habe. Daher beschränke sich die Prüfung des Gerichts darauf, ob die Beklagte berechtigt gewesen sei, die Verrechnungserklärung in Form eines Verwaltungsakts abzugeben. Hierfür fehle es jedoch an einer gesetzlichen Ermächtigung (Hinweis auf - SozR 4-1200 § 52 Nr 1). Obwohl es sich bei der Verrechnungserklärung mittels "Bescheids" nicht um einen Verwaltungsakt handele, müsse dieser "Schein-Verwaltungsakt" aufgehoben werden, weil der Betroffene hierdurch beschwert sei.
5Während des Verfahrens über die Berufung der Beklagten hat der Kläger seinen Wohnsitz nach Thailand verlegt. Das LSG hat die Berufung im Wesentlichen aus den Gründen des erstinstanzlichen Urteils zurückgewiesen (Urteil vom ).
6Sowohl die Beklagte als auch die Beigeladene haben die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Beide haben sich zur Begründung im Wesentlichen darauf bezogen, dass sie dem Urteil des 4. Senats des nicht folgten und eine Verrechnung durch Verwaltungsakt für zulässig hielten.
7Die Beklagte und die Beigeladene beantragen jeweils,die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom und des Sozialgerichts Hildesheim vom aufzuheben und die Klage abzuweisen.
8Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend und beantragt,die Revisionen zurückzuweisen.
10Die Beteiligten haben Gelegenheit erhalten, sich hierzu zu äußern. Die Beigeladene hat ausgeführt, sie sehe sich durch die Entscheidung des Großen Senats vollumfänglich in ihrer Rechtsauffassung zur Erklärung einer Verrechnung bestätigt. Es seien keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die der Beklagten erteilte Verrechnungsermächtigung oder die Entscheidung der Beklagten zur Durchführung der Verrechnung formell oder materiell-rechtlich fehlerhaft sein könnten. Die Beklagte habe ihr zudem mitgeteilt, sie behalte weiterhin monatlich 430 Euro von den laufenden Rentenzahlungen an den Kläger ein und deponiere die Beträge bis zum Abschluss des Rechtsstreits auf einem Verwahrkonto.
11Alle Beteiligten haben sich nach der Beschlussfassung durch den Großen Senat mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 165 S 1 iVm § 153 Abs 1, § 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.
Gründe
12Die Revisionen der Beklagten und der Beigeladenen haben im Sinne der Aufhebung des LSG-Urteils und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an dieses Gericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung Erfolg (§ 170 Abs 2 S 2 SGG). Auf der Grundlage der vom LSG getroffenen Feststellungen ist dem Senat eine abschließende Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom nicht möglich.
131. Die Revisionen sind zulässig. Keine Bedenken bestehen hinsichtlich des Rechtsschutzbedürfnisses der Beklagten und der Beigeladenen. Bei einem Rechtsmittelführer besteht ein solches in aller Regel, wenn er - wie hier die Beklagte und die Beigeladene - durch die Entscheidung der Vorinstanz formell beschwert ist (BSGE 86, 126, 129 = SozR 3-2500 § 85 Nr 37 S 289 mwN). Einer der Ausnahmefälle (vgl BSG SozR 4-2700 § 136 Nr 3 RdNr 13) liegt hier nicht vor. Die Beklagte hat nach wie vor ein berechtigtes Interesse an der Klärung der Rechtmäßigkeit ihrer Bescheide über die Verrechnung; sie ist jedenfalls nicht aufgrund Verwirkung an der Durchführung der streitigen oder an einer neuen Verrechnung gegenüber dem Kläger gehindert. Die Forderung der Beigeladenen gegenüber dem Kläger besteht - abgesehen von der Problematik, ob die von der Beklagten erklärte Verrechnung wirksam ist - weiterhin.
142. Ein von Amts wegen - als absoluter Revisionsgrund - zu beachtender Verfahrensmangel des Berufungsgerichts liegt nicht vor. Zwar hat der Vorsitzende des LSG-Senats als Berichterstatter gemäß § 155 Abs 3 und 4 SGG im Einverständnis der Beteiligten anstelle des Senats entschieden und hierbei die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Eine solche Vorgehensweise mag regelmäßig verfahrensfehlerhaft sein (so BSGE 99, 189 = SozR 4-1500 § 155 Nr 2, RdNr 11 ff, 22 f <9. Senat>; s aber auch BSGE 103, 106 = SozR 4-2500 § 94 Nr 2, RdNr 31 <6. Senat>; BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 24 RdNr 11 ff <3. Senat>; BSG SozR 4-4300 § 53 Nr 4 RdNr 13 f <11. Senat>). Sie ist es im vorliegenden Fall jedoch schon deshalb nicht, weil das Berufungsgericht erkennbar im Interesse der Verfahrensbeschleunigung eine möglichst baldige Klärung des Streits zur Rechtsnatur der Verrechnungserklärung durch das BSG herbeiführen wollte (vgl im Einzelnen BSG <GrS> Beschluss vom - GS 2/10 - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-1200 § 52 Nr 4 vorgesehen, RdNr 7 f).
153. Der angefochtene Bescheid ist nicht allein deswegen - als sog "formeller Verwaltungsakt" - aufzuheben, weil die durch ihn - nach dem Empfängerhorizont objektiv in der Gestalt eines Verwaltungsakts (vgl Wolff/Brink in Bader/Ronellenfitsch, VwVfG, 2010, § 35 RdNr 31) - ausgesprochene Verrechnung nicht in dieser Handlungsform hätte erklärt werden dürfen. Die Beklagte durfte vielmehr einseitig die Verrechnung nur durch Verwaltungsakt erklären (BSG <GrS> Beschluss vom - aaO). Anhaltspunkte für einen - alternativ vom Großen Senat erwogenen - Abschluss eines entsprechenden öffentlich-rechtlichen Vertrags (vgl § 8 - 2. Alt - SGB X; s auch § 53 Abs 1 S 2 SGB X) zwischen Kläger und Beklagter bestehen hier von vornherein nicht.
16a) Nach § 31 S 1 SGB X ist "Verwaltungsakt … jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist". Die Regelung eines Einzelfalls mit unmittelbarer Rechtswirkung nach außen liegt bei dem Verrechnungsbescheid vom darin, dass die durch ihn erklärte Verrechnung eine unmittelbare Wirkung auf den Rentenauszahlungsanspruch des Klägers hat, diesen nämlich hinsichtlich der im Rentenbescheid festgelegten Art und Weise der Erfüllung (dh - wie in der Regel, vgl § 47 SGB I - durch Überweisung auf das dort benannte Konto des Klägers bei einem Geldinstitut) modifiziert (vgl § 48 Abs 1 S 1 SGB X) und zum Erlöschen bringt, soweit die Verrechnung reicht und wirksam wird (vgl BSG <GrS> aaO RdNr 15). Das Tatbestandsmerkmal "auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts" in § 31 SGB X ist erfüllt, weil § 52 SGB I eine spezifische Gestaltung von Rechtsbeziehungen zwischen Leistungsempfängern und Sozialleistungsträgern durch mit hoheitlichen Befugnissen ausgestattete Leistungsträger (wie die Beklagte) ermöglicht. Die Erklärung einer Verrechnung nach § 52 SGB I enthält schließlich eine hoheitliche Maßnahme, also eine einseitige behördliche Handlung, die nur dem Sozialleistungsträger, nicht aber ihrem Adressaten - dem Sozialleistungsempfänger - in dieser Form ihrer Art nach zusteht (vgl zu diesem Merkmal U. Stelkens in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl 2008, § 35 RdNr 104 mwN; Wolff/Brink, aaO, § 35 RdNr 72 ff). Im Übrigen ist - anders als im Zivilrecht - nach dem SGB I die Verrechnung (§ 52 SGB I) ebenso wie die Aufrechnung (§ 51 SGB I) nicht nur davon abhängig, dass sich der verrechnende (aufrechnende) Leistungsträger hierfür frei entscheidet und dies erklärt. Vielmehr ist ihre Ausübung an die Betätigung pflichtgemäßen Ermessens gebunden (§ 52 iVm § 51 Abs 1 Halbs 1, Abs 2 Halbs 1 SGB I) und zudem an die Pfändbarkeit der Geldleistungen (§ 51 Abs 1 Halbs 2 SGB I) bzw an die Höhenbegrenzung (§ 51 Abs 2 SGB I: bis zur Hälfte der laufenden Geldleistung) sowie das Nichteintreten von Hilfebedürftigkeit aufgrund der Verrechnung (Aufrechnung).
17b) Auch der Gesetzgeber sieht in der Durchführung einer Verrechnung nach § 52 SGB I einen Verwaltungsakt. Dies ergibt sich aus der Regelung des § 24 Abs 2 Nr 7 SGB X, die durch das Zweite Gesetz zur Änderung des SGB vom (BGBl I 1229) mit Wirkung ab eingefügt wurde. Spätestens mit dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber von seiner Befugnis Gebrauch gemacht, die Verrechnung (Aufrechnung) jedenfalls für den Bereich des Sozialrechts der Handlungsform "Verwaltungsakt" zu unterstellen:
18Nach § 24 Abs 1 SGB X ist (nur) vor Erlass eines Verwaltungsakts, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Dies gilt jedoch nach Abs 2 Nr 7 der Vorschrift nicht, wenn gegen Ansprüche oder mit Ansprüchen von weniger als (in der ursprünglichen Fassung: 100 DM, jetzt:) 70 Euro (aufgerechnet oder) verrechnet werden soll. Hieraus kann nur geschlossen werden, dass - unabhängig von der Höhe - die Verrechnung nach § 52 SGB I (ebenso wie die Aufrechnung nach § 51 SGB I) durch Verwaltungsakt zu erklären ist (vgl ferner die Entwurfsbegründung zu § 24 Abs 2 Nr 7 SGB X, BT-Drucks 12/5187 S 35 - Zu Art 6, Zu Nr 1, wonach "materielle Einwände gegen die Aufrechnung bzw Verrechnung … im Widerspruchsverfahren geltend gemacht werden" können). An den hierin zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers sind die Gerichte gemäß Art 20 Abs 3 GG selbst dann gebunden, wenn sie eine solche Zuordnung aufgrund rechtssystematischer Erwägungen für unzutreffend oder aus praktischen Überlegungen heraus für unerwünscht halten sollten (vgl Wolff/Brink, aaO, § 35 RdNr 28 f; U. Stelkens, aaO, § 35 RdNr 13 - beide unter Hinweis auf BVerwGE 70, 77, 82; zur Respektierung der gesetzgeberischen Grundentscheidung s auch BVerfGE 128, 193, 210).
19Im Übrigen hat der Gesetzgeber erst jüngst in § 42a Abs 2 S 2 bzw § 43 Abs 4 S 1 SGB II (mit Wirkung ab idF von Art 2 Nr 32 des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom , BGBl I 453) ausdrücklich angeordnet, dass Aufrechnungen im Sozialleistungsbereich des SGB II "durch Verwaltungsakt zu erklären" sind. Hinweise darauf, dass der Gesetzgeber damit für den Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende eine vom allgemeinen Sozialverwaltungsverfahrensrecht abweichende Sonderregelung hat treffen wollen, finden sich in den Materialien zum Gesetzgebungsverfahren an keiner Stelle (vgl BT-Drucks 17/3404 S 117 - Zu § 43, Zu Abs 3; BT-Drucks 17/3958 S 19 - Zu Art 2 Nr 32 <§ 42a Abs 2 S 2 SGB II>; BT-Drucks 17/4095 S 35 - Zu Buchst n, Zu Doppelbuchst cc <§ 42a Abs 2 SGB II>).
20c) Einer über die Bestimmung des § 52 SGB I hinausgehenden ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung für den Erlass eines Verwaltungsakts mit dem Inhalt der Verrechnung bedarf es nicht (s hierzu BSG <GrS> aaO RdNr 16 ff).
22Da das Berufungsurteil - auf der Grundlage seiner abweichenden Rechtsauffassung konsequent - insoweit keine ausreichenden tatsächlichen Feststellungen getroffen hat, ist der Rechtsstreit zur Nachholung noch fehlender Feststellungen und zu deren Bewertung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 S 2 SGG). Das Berufungsgericht wird sich bei seiner erneuten Entscheidung insbesondere auch damit auseinanderzusetzen haben, welche Folgerungen hinsichtlich der Sozialhilfebedürftigkeit des Klägers sich aus dessen Heirat und der Übersiedlung nach Thailand ergeben.
23Das Berufungsgericht wird abschließend auch über die Kosten des Rechtsstreits zu befinden haben.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2012:070212UB13R10911R0
Fundstelle(n):
QAAAE-09449