Anwendung des § 129 AO bei Nichtberücksichtigung von Lohnersatzleistungen als Folge eines versehentlichen Erfassungsfehlers
Leitsatz
Ein Fehler ist dann "offenbar" i.S. des § 129 AO, wenn er auf der Hand liegt, durchschaubar, eindeutig oder augenfällig ist. Insoweit kommt es nicht darauf an, ob der Steuerpflichtige die Unrichtigkeit anhand des Bescheids und der ihm vorliegenden Unterlagen erkennen konnte. Maßgebend ist, ob der Fehler bei Offenlegung des Sachverhalts für jeden unvoreingenommenen Dritten klar und deutlich als offenbare Unrichtigkeit erkennbar ist (hier: Nichtberücksichtigung von Lohnersatzleistungen im Einkommensteuerbescheid als Folge eines versehentlichen Erfassungsfehlers).
Gesetze: AO § 129, FGO § 118 Abs. 2
Instanzenzug: FG des Landes Sachsen-Anhalt Urteil vom 5 K 98/08 (Verfahrensverlauf),
Gründe
1 I. Im Streitjahr 2005 erzielte die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Wegen Arbeitslosigkeit bezog sie vom 1. Juni bis zum Lohnersatzleistungen in Höhe von 10.764 €. Die Bescheinigung hierüber legte sie ihrer Steuererklärung für das Streitjahr bei, die am beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt —FA—) einging.
2 Der zuständige Bearbeiter trug in Sachbereich 47 zu Kennziffer 120 „Lohnersatzleistungen” den Betrag „10764” ein und vermerkte vor der Kennziffer „lag vor”.
3 Der Einkommensteuerbescheid vom erging ohne Berücksichtigung der Lohnersatzleistungen. Es wurde Einkommensteuer in Höhe von 1.720 € festgesetzt.
4 Im Rahmen der Bearbeitung des Einspruchs gegen den Einkommensteuerbescheid 2006 stellte das FA fest, dass die Lohnersatzleistungen im Streitjahr 2005 nicht berücksichtigt worden waren. Es berichtigte den Steuerbescheid nach § 129 der Abgabenordnung (AO) und setzte die Einkommensteuer unter Einbeziehung der Tarifprogression nach § 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a des Einkommensteuergesetzes auf nunmehr 2.795 € fest.
5 Nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhob die Klägerin Klage. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage aus den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2010, 1757 veröffentlichten Gründen statt.
6 Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts.
7 Das FA beantragt,
das Urteil des FG des Landes Sachsen-Anhalt vom 5 K 98/08 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
8 Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
9 II. 1. Die Revision des FA ist unbegründet. Sie war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).
10 2. Nach § 129 AO können Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit berichtigt werden. Offenbare Unrichtigkeiten i.S. des § 129 AO sind mechanische Versehen, wie beispielsweise Eingabe- und Übertragungsfehler. Nicht erfasst sind hingegen Fehler bei der Auslegung oder Anwendung einer Rechtsnorm, unrichtige Tatsachenwürdigung, die unzutreffende Annahme eines in Wirklichkeit nicht vorliegenden Sachverhalts oder Fehler, die auf mangelnder Sachaufklärung bzw. der Nichtbeachtung feststehender Tatsachen beruhen. Nach § 129 AO zu berichtigende Fehler müssen auf einem „Versehen” beruhen; hingegen dürfen sie nicht auf die unzulängliche Erfassung oder rechtliche Würdigung eines Sachverhalts zurückzuführen sein (, BFHE 90, 468, BStBl II 1968, 191; vom IV R 44/74, BFHE 122, 393, BStBl II 1977, 853; vom VIII R 53/77, BFHE 127, 302, BStBl II 1979, 458).
11 Besteht die Möglichkeit, dass der Fehler auf Mängel bei der Ermittlung oder Würdigung des Sachverhalts zurückgeht, kommt eine Berichtigung nach § 129 AO nicht in Betracht. Diese Möglichkeit darf allerdings nicht nur theoretischer Natur sein. Vielmehr muss sie sich durch vom Gericht festgestellte Tatsachen belegen lassen (, BFHE 113, 169, BStBl II 1974, 727; vom VI R 138/72, BFHE 114, 346, BStBl II 1975, 350). Deuten die Gesamtumstände des Falles auf ein mechanisches Versehen hin und liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Fehler auf rechtliche oder tatsächliche Erwägungen zurückzuführen ist, so kann berichtigt werden (, BFHE 57, 14, BStBl III 1953, 6; vom V R 21/66, BFHE 95, 484, BStBl II 1969, 474; vom III R 28/68, BFHE 105, 439, BStBl II 1972, 679).
12 Mechanische Versehen können auch Übertragungsfehler sein. Eine offenbare Unrichtigkeit kann daher auch vorliegen, wenn der Veranlagungsbeamte den Eingabewertbogen falsch ausfüllt (vgl. , BFHE 123, 1, BStBl II 1977, 853; vom VIII R 226/77, BFHE 129, 5, BStBl II 1980, 62) oder Daten versehentlich nicht in ein Computerprogramm eingibt (, BFH/NV 2008, 814).
13 Ein Fehler ist dann „offenbar” i.S. des § 129 AO, wenn er auf der Hand liegt, durchschaubar, eindeutig oder augenfällig ist (, BFHE 149, 490, BStBl II 1987, 762; vom X R 47/91, BFH/NV 1993, 638; , BFHE 142, 13, BStBl II 1984, 834). Insoweit kommt es nicht darauf an, ob der Steuerpflichtige die Unrichtigkeit anhand des Bescheids und der ihm vorliegenden Unterlagen erkennen konnte. Maßgebend ist, ob der Fehler bei Offenlegung des Sachverhalts für jeden unvoreingenommenen Dritten klar und deutlich als offenbare Unrichtigkeit erkennbar ist (, BFH/NV 1988, 277).
14 3. Im Streitfall hat das FG die Nichtberücksichtigung der Lohnersatzleistungen im Einkommensteuerbescheid vom als Folge eines versehentlichen Erfassungsfehlers angesehen, weil insbesondere die Eintragung der Lohnersatzleistungen im Erklärungsvordruck unter Sachbereich 47 Kennziffer 120 darauf schließen lasse, dass diese hätten erfasst werden sollen. Einen Sach- oder Rechtsirrtum schloss es insoweit aus, weil der Progressionsvorbehalt für —dem Grunde nach steuerfreie— Lohnersatzleistungen Veranlagungsbeamten bekannt sei. Diese nachvollziehbare Würdigung des festgestellten Sachverhalts ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
15 Auch die Würdigung des FG, der Fehler sei bei Offenlegung des aktenkundigen Sachverhalts nicht für jeden unvoreingenommenen Dritten klar und deutlich zu erkennen, hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand. Das FG konnte auf der Grundlage seiner tatsächlichen Feststellungen zu dem Ergebnis kommen, es sei weder aus dem Steuerbescheid noch aus dem übrigen Akteninhalt für jeden unvoreingenommenen Dritten augenfällig und ohne weitere Informationen erkennbar, dass die Eingabe der streitigen Lohnersatzleistungen versehentlich unterblieben war. An diese Feststellungen einschließlich der tatsächlichen Würdigung der Umstände des Streitfalles sieht sich der Senat revisionsrechtlich gebunden (§ 118 Abs. 2 FGO; vgl. , BFHE 185, 345, BStBl II 1998, 535; BFH-Beschlüsse vom VII B 179/01, BFH/NV 2002, 1316; vom VII B 305/05, BFH/NV 2006, 1793).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2012 S. 694 Nr. 5
DStR 2012 S. 755 Nr. 15
DStRE 2012 S. 587 Nr. 9
EStB 2012 S. 133 Nr. 4
HFR 2012 S. 583 Nr. 6
StBW 2012 S. 247 Nr. 6
Ubg 2012 S. 360 Nr. 5
DAAAE-03555