Begriff des verarbeitenden Gewerbes bestimmt sich nach der Klassifikation der Wirtschaftszweige
Leitsatz
1. Auch für Gesetzesfassungen vor Inkrafttreten des § 3 Abs. 1 Satz 2 InvZulG 2010 bestimmt sich der Begriff des verarbeitenden Gewerbes im Investitionszulagenrecht nach der für das jeweilige Kalenderjahr geltenden Klassifikation. Die Verbindlichkeit der Klassifikation beruht auf einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage. Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist auch die sich aus den regelmäßigen Überarbeitungen der statistischen Klassifikationen ergebende Dynamik, aufgrund derer sich die Zuordnung von Tätigkeiten zu einem Wirtschaftszweig ändern kann.
2. In einem Rechtsstreit über die Frage, ob ein Betrieb zum verarbeitenden Gewerbe gehört, hat das Finanzgericht die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen festzustellen und zu würdigen. Bei der Auslegung kann es auf das Expertenwissen der Statistikämter zurückgreifen, darf jedoch eine fehlerhafte statistische Einordnung nicht übernehmen.
Gesetze: InvZulG § 2, InvZulG § 3 Abs. 1 Satz 2, GG Art. 19 Abs. 4
Instanzenzug: FG des Landes Sachsen-Anhalt Urteil vom 1 K 1137/07 (Verfahrensverlauf),
Gründe
1 I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine zu einer Firmengruppe gehörende GmbH, wurde am gegründet. Ihre Muttergesellschaft hatte sich Ende 2004 entschieden, in die Herstellung von Ersatzbrennstoffen zu investieren. Im Februar 2005 wurde beschlossen, dass die Klägerin eine Anlage zur Aufarbeitung von Abfällen und zur Produktion von Brennstoffen übernehmen sollte. Die Klägerin investierte im Jahr 2005 u.a. in den Neubau einer Stahlhalle, Hof- und Wegebefestigung sowie verschiedene Großgeräte. Gebäude und Anlagen vermietete sie an ihre Muttergesellschaft, diese übertrug ihr mit Werkvertrag vom das Recyceln von Abfällen.
2 Am beantragte die Klägerin für das Jahr 2005 Investitionszulage nach § 2 des Investitionszulagengesetzes (InvZulG) 2005 in Höhe von insgesamt 306.199,29 € für Gebäude (Zulagensatz 12,5 %) sowie bewegliche Wirtschaftsgüter (Zulagensatz 25 %). Als ausgeübte Tätigkeit gab sie die „Herstellung von Ersatzbrennstoffen” an.
3 Das Statistische Landesamt stufte die Klägerin am nach der Klassifikation der Wirtschaftszweige, Ausgabe 2003 (WZ 2003), als Recyclingbetrieb (Klasse 3720 - Recycling von sonstigen Altmaterialien und Reststoffen) und somit als Betrieb des verarbeitenden Gewerbes ein.
4 Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt —FA—) begann im Februar 2006 eine Investitionszulage-Sonderprüfung und nahm Kontakt zum Statistischen Landesamt auf. Finanzverwaltung und Statistisches Landesamt kamen danach übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass die Herstellung von Ersatzbrennstoffen kein Recycling sei, sondern als thermische Abfallbeseitigung und damit nicht als verarbeitendes Gewerbe, sondern als Erbringung von sonstigen öffentlichen und persönlichen Dienstleistungen, Abteilung Abwasser- und Abfallbeseitigung und sonstige Entsorgung (Abschnitt O der WZ 2003) zu qualifizieren sei. Die statistische Einstufung wurde jedoch nicht geändert.
5 Das FA lehnte daraufhin die Festsetzung von Investitionszulage ab. Der Einspruch blieb erfolglos.
6 Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Es entschied durch Zwischenurteil nach § 99 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO), dem beide Beteiligten zugestimmt hatten, dass das Unternehmen der Klägerin investitionszulagenrechtlich dem verarbeitenden Gewerbe zuzuordnen sei, da das Statistische Landesamt es entsprechend eingeordnet habe und diese Einordnung nicht offensichtlich falsch sei. Bei dieser Einordnung handele es sich um einen Grundlagenbescheid (§ 171 Abs. 10 der Abgabenordnung), denn anderenfalls lasse sich eine Bindungswirkung nicht mit der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) vereinbaren. Das Statistische Landesamt habe die Einordnung der Klägerin nicht im Rahmen der Kontakte mit der Finanzverwaltung aufgehoben, sondern lediglich eine abweichende Meinung geäußert.
7 Das FA rügt die Verletzung materiellen Rechts.
8 Es beantragt sinngemäß, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
9 Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
10 II. Die Revision ist begründet. Sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das FG.
11 1. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InvZulG 2005 sind u.a. abnutzbare bewegliche Wirtschaftsgüter investitionszulagenbegünstigt, die in einem Betrieb des verarbeitenden Gewerbes verbleiben; Gebäude sind nach § 2 Abs. 2 Satz 1 InvZulG 2005 investitionszulagenbegünstigt, wenn sie in einem Betrieb des verarbeitenden Gewerbes verwendet werden.
12 a) Der Begriff des verarbeitenden Gewerbes bestimmt sich nach der Klassifikation der Wirtschaftszweige.
13 Der Gesetzgeber hat die Maßgeblichkeit der vom Statistischen Bundesamt herausgegebenen Klassifikation der Wirtschaftszweige zwar erstmals durch § 3 Abs. 1 Satz 2 InvZulG 2010 ausdrücklich angeordnet. Der Senat hält jedoch an seiner ständigen Rechtsprechung fest, wonach sich der Begriff des verarbeitenden Gewerbes im Investitionszulagenrecht auch für frühere Gesetzesfassungen nach der für das jeweilige Kalenderjahr geltenden Klassifikation bestimmt. Da vorliegend über die Zulage für 2005 gestritten wird, ist daher die WZ 2003 maßgeblich.
14 Obwohl es sich bei der Klassifikation weder um ein Gesetz noch um eine Verordnung handelt, wird sie grundsätzlich wie ein Gesetz ausgelegt und auf den konkreten Fall angewendet. Dies führt indes nicht zu einer Verletzung der Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG), denn es beeinträchtigt weder die Gesetzesbindung der Gerichte noch den Anspruch des Einzelnen auf wirksame gerichtliche Kontrolle, wenn die Konkretisierung eines unbestimmten Rechtsbegriffs durch gesetzliche Verweisung auf bestimmte Verwaltungsvorschriften oder untergesetzliche Regelwerke erfolgt oder wenn die konkretisierende Heranziehung solcher Vorschriften oder Regelwerke in vergleichbarer Weise auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruht (, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung —HFR— 2011, 903, unter B.I.2.b).
15 Die Verbindlichkeit der Klassifikation der Wirtschaftszweige für die Zuordnung von Betrieben zum verarbeitenden Gewerbe im Investitionszulagenrecht beruht auf einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage, da bereits die Gesetzesmaterialien zu früheren Fassungen des InvZulG eindeutig belegen, dass der Gesetzgeber bei deren Erlass von der verbindlichen Anwendung der Klassifikation bei der Zuordnung eines Betriebs zum verarbeitenden Gewerbe ausging. Die Anknüpfung an das Statistikrecht ist auch sachgerecht, da sie ein höheres Maß an Rechtssicherheit und Rechtsklarheit erzeugt als ein vom Statistikrecht abgelöstes, eigenes Verständnis des im Investitionszulagenrecht verwendeten Gesetzesbegriffs „verarbeitendes Gewerbe”. Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist auch die sich aus den regelmäßigen Überarbeitungen der statistischen Klassifikationen ergebende Dynamik (BVerfG-Beschluss in HFR 2011, 903, unter B.I.3.c und 3.d), aufgrund derer sich die Zuordnung von Tätigkeiten zu einem Wirtschaftszweig ändern kann.
16 b) In einem Rechtsstreit über die Frage, ob ein Betrieb zum verarbeitenden Gewerbe —hier nach Abschn. D der WZ 2003— gehört, hat das FG die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen festzustellen und zu würdigen. Bei der Auslegung der Klassifikation als „Quasi-Rechtsnorm” und der Einordnung wirtschaftlicher Tätigkeiten kann es auf das Expertenwissen der Statistikämter zurückgreifen. Die Entscheidungsbefugnis liegt aber in jedem Fall beim Gericht, das eine fehlerhafte statistische Einordnung nicht übernehmen darf, da eine Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle auf offensichtliche Fehler der Statistikämter den individuellen Rechtsschutz in einer mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG unvereinbaren Weise schmälern würde (BVerfG-Beschluss in HFR 2011, 903).
17 2. Aufgrund der Feststellungen des FG kann der Senat nicht beurteilen, ob der Betrieb der Klägerin dem verarbeitenden Gewerbe zuzurechnen ist.
18 Das FG hat seine Entscheidung in Übereinstimmung mit früherer Rechtsprechung des Senats darauf gestützt, dass das Statistische Landesamt den Betrieb der Klägerin dem verarbeitenden Gewerbe zugeordnet habe und dass diese Einstufung nicht offensichtlich falsch sei. Diese Begründung ist nach dem Beschluss des BVerfG in HFR 2011, 903 nicht mehr tragfähig.
19 Das FG wird im zweiten Rechtsgang die für den Zulagenanspruch erheblichen Tatsachen zu ermitteln und zu würdigen haben.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2012 S. 451 Nr. 3
DStZ 2012 S. 93 Nr. 4
NWB-Eilnachricht Nr. 3/2012 S. 171
CAAAD-99560