Strafverfahren: Anforderungen an die Revisionsbegründung bei Rüge eines Verstoßes gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz
Gesetze: § 238 Abs 2 StPO, § 250 StPO, § 251 Abs 1 Nr 1 StPO
Instanzenzug: LG Kleve Az: 233 KLs 14/10 - 701 Js 176/10 Urteil
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung in zwei Fällen, wegen Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung und Bedrohung sowie wegen Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
2I. Die Revision beanstandet zu Recht, das Landgericht habe seiner Entscheidung unter Verstoß gegen § 250 StPO Erkenntnisse zugrunde gelegt, die nicht durch Verlesung in die Hauptverhandlung hätten eingeführt werden dürfen.
31. Der Rüge liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:
4Das Landgericht vernahm im Verlauf der eintägigen Hauptverhandlung die Nebenklägerin zu den Tatvorwürfen. Während dieser Vernehmung wurde auf Anordnung des Vorsitzenden in Auszügen ein Bericht über die psychotraumatologische und allgemeinpsychiatrische Behandlung der Nebenklägerin verlesen, der von Ärzten eines Krankenhauses in der Trägerschaft einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung erstellt worden war. Die Verlesung wurde von keinem Verfahrensbeteiligten als unzulässig beanstandet. Ein Gerichtsbeschluss über die Verlesung erging nicht. In den Urteilsgründen zog das Landgericht den Bericht als Beleg für die Folgen der Taten und für die Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin heran, die in wesentlichen Teilen in Widerspruch zu denen des überwiegend nicht geständigen Angeklagten standen. Es führte aus, der Umstand, dass die Nebenklägerin von Vergewaltigungen des Angeklagten nicht sogleich berichtet habe, sei auf ihre erhebliche Traumatisierung zurückzuführen, die durch den mittels Verlesung in die Hauptverhandlung eingeführten Bericht bestätigt worden sei.
52. Dies beanstandet die Revision zu Recht.
6a) Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts ist die Rüge zulässig erhoben. Es bedurfte keines Vortrags, dass in der Hauptverhandlung gegen die Anordnung des Vorsitzenden, den Bericht zu verlesen, durch den Angeklagten oder seinen Verteidiger gemäß § 238 Abs. 2 StPO auf Entscheidung der gesamten Kammer angetragen worden sei; denn ein entsprechender Antrag ist nicht Voraussetzung dafür, dass der Verstoß gegen § 250 StPO mit der Revision zulässig geltend gemacht werden kann.
7Dem Protokoll der Hauptverhandlung lässt sich nicht entnehmen, auf welcher rechtlichen Grundlage der Bericht "auszugsweise" verlesen wurde. Es erscheint bereits fraglich, ob ein (verteidigter) Angeklagter in einem Fall, in dem hierfür mehrere Verfahrensvorschriften in Betracht kommen, überhaupt verpflichtet sein kann zu prüfen, auf welche Norm der Vorsitzende sich gestützt haben könnte, und ihm, wenn insoweit (auch) eine Vorschrift in Betracht kommt, deren fehlerhafte Anwendung nur nach Anrufung des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO mit der Revision gerügt werden kann, obliegt, vorsorglich diesen Zwischenrechtsbehelf zu erheben. Doch kann dies dahinstehen; denn die Verletzung beider Bestimmungen, auf die sich der Vorsitzende hier gestützt haben könnte, kann auch ohne Vorgehen nach § 238 Abs. 2 StPO mit der Revision zulässig beanstandet werden. Im Einzelnen:
8aa) Sollte der Vorsitzende - wofür allerdings nichts ersichtlich ist und was angesichts der Umstände eher fernliegt - § 251 Abs. 1 StPO herangezogen haben, so bedurfte seine Anordnung schon wegen der mit ihr verbundenen Kompetenzüberschreitung keiner Beanstandung nach § 238 Abs. 2 StPO.
9(1) Gemäß § 251 Abs. 4 Satz 1 StPO obliegt es nicht dem Vorsitzenden, sondern dem gesamten Spruchkörper, über die Verlesung nach § 251 Abs. 1 StPO zu beschließen. Bedarf aber eine Maßnahme in der Hauptverhandlung von vornherein eines Gerichtsbeschlusses, so ist schon der Anwendungsbereich des § 238 Abs. 1 StPO nicht eröffnet und es besteht demgemäß kein Anlass für ein Verfahren nach § 238 Abs. 2 StPO. Dieses kann damit auch nicht Voraussetzung einer zulässigen Rüge im Revisionsverfahren sein (vgl. , BGHSt 4, 364, 366; Beschluss vom - 3 StR 44/11, NStZ 2011, 647). Einen Verstoß gegen § 250 StPO wegen einer kompetenzwidrigen Anordnung des Vorsitzenden auf der Grundlage des § 251 Abs. 1 StPO konnte der Angeklagte daher mit der Revision auch dann geltend machen, wenn er diese Verfahrensweise in der Hauptverhandlung nicht gemäß § 238 Abs. 2 StPO beanstandet hatte (, NJW 1999, 1724, 1725, insoweit nicht abgedruckt in BGHSt 44, 361 ff.; vgl. auch ; Beschluss vom - 4 StR 51/88, NStZ 1988, 283; Beschluss vom - 4 StR 3/00, BGHR StPO § 251 Abs. 4 Gerichtsbeschluss 4).
10(2) Dies gilt auch dann, wenn der Rechtsprechung des 1. Strafsenats zuzustimmen wäre, wonach die Verletzung eines Rechts, auf das der Angeklagte nach seinem Belieben verzichten kann, mit der Revision nur rügbar ist, wenn der Angeklagte zuvor nach § 238 Abs. 2 StPO auf eine Entscheidung des gesamten Spruchkörpers angetragen hat (, NStZ 2011, 300, 301). Zwar folgt aus § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO, dass der Angeklagte unter den dort näher bestimmten Umständen auf die Einhaltung des Grundsatzes der persönlichen Vernehmung nach § 250 StPO verzichten kann. § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO lässt aber einen Verzicht des Angeklagten (und seines Verteidigers) nicht genügen, sondern fordert ausdrücklich das Einverständnis der Staatsanwaltschaft und eine durch Beschlussfassung dokumentierte Ermessensentscheidung des gesamten Spruchkörpers zugunsten der Verlesung. Steht die Abweichung von einem Prozessgrundsatz unter solchen qualifizierten Voraussetzungen, so gibt das Gesetz damit zu erkennen, dass von seiner Einhaltung nicht formlos durch allseitiges Schweigen auf eine Anordnung des Vorsitzenden abgesehen werden kann. Entsprechend greifen die Erwägungen des 1. Strafsenats in dieser Konstellation nicht, ohne dass der Senat entscheiden müsste, ob er sich dem vom 1. Strafsenat vertretenen Ansatz als solchem anzuschließen vermöchte.
11bb) Aber auch dann, wenn sich der Vorsitzende - was näher liegt - für die teilweise Verlesung des Berichts auf § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a oder Nr. 2 StPO gestützt haben sollte, könnte der Angeklagte mit seiner Revision zulässig geltend machen, dass die Voraussetzungen dieser Bestimmungen für die Verlesung des Berichts nicht vorgelegen haben, obwohl er dies in der Hauptverhandlung nicht durch Anrufung des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO beanstandet hat (im Ergebnis ebenso , NJW 1999, 1724, 1725, insoweit nicht abgedruckt in BGHSt 44, 361 ff.).
12Zwar trifft die Anordnung über die Verlesung eines Schriftstücks nach § 256 Abs. 1 StPO der Vorsitzende im Rahmen seiner Sachleitungsbefugnis nach § 238 Abs. 1 StPO (Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 256 Rn. 29). Soweit er hierbei über die Zulässigkeit der Verlesung befindet, hat er indes nach den bindenden Vorgaben des § 256 Abs. 1 StPO die gegebenen Verfahrenstatsachen unter die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm zu subsumieren. Es handelt sich insoweit mithin um die Anwendung zwingenden Rechts. Die Verletzung zwingenden Rechts oder das Unterlassen unverzichtbarer Maßnahmen durch den Vorsitzenden kann ein Revisionsführer nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aber auch dann rügen, wenn er in der tatrichterlichen Hauptverhandlung nicht nach § 238 Abs. 2 StPO vorgegangen ist (, BGHSt 42, 73, 77 f.; Beschluss vom - 4 StR 606/09, BGHSt 55, 65, 69; s. etwa auch , BGHSt 54, 184, 185; Beschluss vom - 5 StR 460/08, StV 2010, 562; Beschluss vom - 3 StR 504/10, NStZ-RR 2011, 151). Es liegt somit keine Fallgestaltung vor, in der die Rechtsprechung die Erhebung eines Zwischenrechtsbehelfs nach § 238 Abs. 2 StPO deshalb als Zulässigkeitsvoraussetzung einer späteren entsprechenden Revisionsrüge erachtet, weil dem Vorsitzenden bei der Bewertung der tatbestandlichen Voraussetzungen seiner prozessleitenden Anordnung ein Beurteilungsspielraum oder auf der Rechtsfolgenseite Ermessen zusteht, und die rechtsmittelbefugten anderen Prozessbeteiligten durch die Nichtbeanstandung der Maßnahme zu erkennen gegeben haben, dass sie den dem Vorsitzenden zustehenden Entscheidungsspielraum durch seine Anordnung nicht in unzulässiger Weise als überschritten ansehen (, BGHSt 51, 144, 148; Beschluss vom - 1 StR 155/10; noch offen , BGHR StPO § 55 Abs. 1 Verfolgung 7; vgl. auch , BGHSt 55, 65, 69: "Bewertung der tatsächlichen Grundlagen" eines Verlöbnisses im Hinblick auf § 52 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 Satz 1 StPO). Die Revision macht nicht geltend, der Vorsitzende habe das ihm durch § 256 Abs. 1 StPO eingeräumte Ermessen ("Verlesen werden können …") in unzulässiger Weise ausgeübt, sondern vielmehr, dass er die zwingenden tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Verlesung nach dieser Vorschrift verkannt habe.
13Hinzu kommt hier folgendes: Wird gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO ein ärztliches Attest verlesen, so wird sich regelmäßig erst in der Urteilsberatung ergeben, ob das Gericht das Schriftstück allein zum Nachweis einer Körperverletzung, die nicht zu den schweren gehört, heranzieht oder - unter Überschreitung der durch die Bestimmung gezogenen Grenzen - unzulässig als Beleg für darüber hinausgehende Umstände verwertet. Für den Angeklagten wird ein solcher Rechtsfehler erst aus den schriftlichen Urteilsgründen ersichtlich, mithin zu einem Zeitpunkt, zu dem er von dem Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO keinen Gebrauch mehr machen kann. Dieser kann daher schwerlich Zulässigkeitsvoraussetzung einer Rüge der Verletzung des § 250 StPO sein (vgl. , BGHR StPO § 59 Abs. 1 Rügevoraussetzungen 2; ähnlich , BGHSt 7, 281, 282 f.). Zwar lag der Sachverhalt hier ausnahmsweise anders, weil der verlesene Bericht keine Aussagen zu einer Körperverletzung enthielt, die nicht zu den schweren zählt, so dass seine Verlesung nicht auf § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO gestützt werden konnte. Dies rechtfertigt indes keine Relativierung obiger Überlegungen; denn im Interesse der Rechtsklarheit muss die Frage, ob die zulässige Rüge einer Verletzung von § 256 Abs. 1 Nr. 2, § 250 StPO die Erhebung des Zwischenrechtsbehelfs nach § 238 Abs. 2 StPO in der tatrichterlichen Hauptverhandlung voraussetzt, nicht nach - tatsächlich schwer abgrenzbaren - Einzelfallumständen entschieden, sondern einheitlich behandelt werden.
14b) Die Verfahrensrüge ist auch begründet.
15Die Vernehmung der die Nebenklägerin behandelnden Ärzte durfte nach § 250 StPO nicht durch die Verlesung ihrer schriftlichen Erklärung ersetzt werden. Einer der in § 251 StPO oder § 256 Abs. 1 StPO genannten Fälle, der die Einführung mittels Urkundenbeweises ausnahmsweise erlaubte, lag nicht vor. Insbesondere handelte es sich bei dem Bericht weder um das Zeugnis oder Gutachten einer öffentlichen Behörde noch diente er zum Nachweis einer Körperverletzung, die nicht zu den schweren gehört. Vielmehr zog ihn das Landgericht als Beleg für die Folgen insbesondere der von ihm festgestellten Vergewaltigungen und für die Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin heran.
16Das Urteil beruht auf dem Verstoß gegen § 250 StPO. Es ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht die Folgen der von ihm festgestellten Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und die Glaubhaftigkeit der für eine Verurteilung in allen Fällen maßgeblichen Angaben der Nebenklägerin anders eingeschätzt hätte, wenn es sich über das Vorliegen bzw. Art und Umfang einer Traumatisierung als einem medizinischen Befund prozessordnungsgemäß durch Vernehmung der behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen unterrichtet hätte.
17II. Das Urteil ist auf die zulässige und begründete Verfahrensrüge insgesamt mit den von der Gesetzesverletzung betroffenen Feststellungen aufzuheben (§ 353 Abs. 2 StPO), ohne dass es noch auf die von der Revision weiter vorgetragenen Beanstandungen ankäme. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf folgendes hin:
18Ob deutsches Strafrecht nach den §§ 3 ff. StGB Anwendung findet, ist nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens offen. Es ist nicht ersichtlich, dass die Nebenklägerin - wie für eine Eröffnung der deutschen Strafgewalt nach § 7 Abs. 1 StGB erforderlich - deutsche Staatsangehörige ist. Das Vorliegen der Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB, dem das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege zugrunde liegt (, NJW 1995, 1844, 1845), ist bisher nicht hinreichend geklärt. Zum einen fehlen Erkenntnisse dazu, der Angeklagte werde, obwohl die Tat auslieferungsfähig sei, nicht ausgeliefert, weil ein Auslieferungsersuchen innerhalb angemessener Frist nicht gestellt oder abgelehnt oder die Auslieferung nicht ausführbar sei. Zum anderen ist unklar, ob die vom Angeklagten begangenen Taten in der Türkei mit Strafe bedroht sind, wobei der Senat dazu neigt, trotz des für alle Varianten des § 7 StGB einheitlichen Bezugs auf eine "am Tatort mit Strafe" bedrohte Tat im Falle des § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB die Zuständigkeit der deutschen Strafgerichte davon abhängig zu machen, dass die Tat am Tatort nicht nur strafbar, sondern auch verfolgbar ist (offen , BGHR StGB § 7 Abs. 2 Strafbarkeit 1; Beschluss vom - StB 4/93, BGHR StGB § 7 Abs. 2 Strafbarkeit 2; Beschluss vom - 3 StR 437/99, BGHR StGB § 7 Abs. 2 Strafbarkeit 4).
19Sollte das Landgericht sich von der Anwendbarkeit deutschen Strafrechts nicht überzeugen können, wird das Verfahren in den Fällen II. 2. a) und II. 2. b) wegen eines von Amts wegen zu beachtenden Verfahrenshindernisses im Sinne des § 260 Abs. 3 StPO einzustellen sein (, BGHSt 34, 1, 3; Urteil vom - 1 StR 681/94, NJW 1995, 1844, 1845).
Becker Hubert Schäfer
Mayer Menges
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
SAAAD-99345