Erwerb und Besitz von Schuldverschreibungen keine wirtschaftliche Tätigkeit
Leitsatz
Art. 4 Abs. 2 der EWGRL 388/77 ist dahin auszulegen, daß der bloße Eigentumserwerb und Besitz von Schuldverschreibungen, die nicht einer anderen Unternehmenstätigkeit dienen, und der Zufluß des Ertrages aus diesen nicht als wirtschaftliche Tätigkeiten anzusehen sind, die den Urheber dieser Umsätze zum Stpfl. machen.
Instanzenzug: ,
Gründe:
1 Der Hoge Raad der Nederlanden hat mit Urteil vom , beim Gerichtshof eingegangen am , gemäß Artikel 177 EG-Vertrag mehrere Fragen nach der Auslegung der Artikel 4 Absatz 2, 13 Teil B Buchstabe d Nummer 5 und 17 Absatz 3 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; im folgenden: Sechste Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt, um eine genauere Bestimmung der Begriffe der wirtschaftlichen Tätigkeit und des Rechts auf Vorsteuerabzug im Sinne dieser Richtlinie zu erhalten.
2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Kommanditgesellschaft Harnas & Helm (im folgenden: Harnas) und dem niederländischen Staatssecretaris van Financiën wegen eines an Harnas gerichteten Bescheides über die Nachveranlagung zur Umsatzsteuer.
3 Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Sechsten Richtlinie bestimmen:
„(1) Als Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis.
(2) Die in Absatz 1 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten sind alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden … Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt auch eine Leistung, die die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen umfaßt.”
4 Nach Artikel 13 Teil B befreien die Mitgliedstaaten bestimmte Tätigkeiten von der Umsatzsteuer, darunter
„d) die folgenden Umsätze:
die Gewährung und Vermittlung von Krediten und die Verwaltung von Krediten durch die Kreditgeber,
…
die Umsätze – einschließlich der Vermittlung, jedoch mit Ausnahme der Verwahrung und der Verwaltung – die sich auf Aktien, Anteile an Gesellschaften und Vereinigungen, Schuldverschreibungen oder sonstige Wertpapiere beziehen, mit Ausnahme von
– Warenpapieren
…”
5 Gemäß Artikel 17 Absatz 3 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie erlauben die Mitgliedstaaten jedem Steuerpflichtigen den Vorsteuerabzug oder erstatten ihm die Mehrwertsteuer, soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner nach Artikel 13 Teil B Buchstaben a und d Nummern 1 bis 5 befreiten Umsätze verwendet werden, wenn der Leistungsempfänger außerhalb der Gemeinschaft ansässig ist oder wenn diese Umsätze unmittelbar mit Gegenständen zusammenhängen, die zur Ausfuhr in ein Land außerhalb der Gemeinschaft bestimmt sind.
6 Aus den Akten ergibt sich, daß die in Amsterdam ansässige Harnas zumindest in der Zeit vom bis Inhaberin von Aktien und Schuldverschreibungen war, die von in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Kanada ansässigen Einrichtungen und Unternehmen ausgegeben worden waren. Harnas erhielt während dieser Zeit Dividenden bzw. Zinsen für diese Wertpapiere.
7 1984 gewährte Harnas der Gesellschaft All American Metals ein Darlehen, das am zurückgezahlt wurde. Am gewährte sie einem anderen Darlehensnehmer, der Opticast International Corporation, ein Darlehen. In ihrer Steuererklärung zog Harnas die ihr für diese Umsätze in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer ab.
8 Die zuständige Steuerbehörde vertrat den Standpunkt, Harnas könne ab dem nicht als Unternehmerin im Sinne des Artikels 7 der Wet op de omzetbelasting 1968 (niederländisches Umsatzsteuergesetz 1968) angesehen werden, und erließ einen Nachveranlagungsbescheid, um den Mehrwertsteuerbetrag von 124 517 HFL einzutreiben, den die Klägerin für die Zeit vom bis abgezogen hatte.
9 Der Gerechtshof Amsterdam wies die Klage von Harnas gegen diesen Bescheid mit der Begründung ab, daß diese im betreffenden Nachveranlagungszeitraum keine wirtschaftlichen Tätigkeiten im Sinne des Artikels 4 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie ausgeübt habe, so daß sie nicht als Steuerpflichtige im Sinne des Artikels 4 Absatz 1 angesehen werden könne. Der Gerechtshof entschied, daß der Erwerb von Schuldverschreibungen auch keine Gewährung von Darlehen im Sinne der Sechsten Richtlinie darstelle. Zwar diene die Ausgabe von Schuldverschreibungen vor allem der Befriedigung des Finanzbedarfs des Schuldners, doch stelle dieser damit ein Wertpapier aus, in dem Rechte verbrieft seien, für die auf dem Finanzmarkt Interesse erwartet werden könne.
10 Harnas erhob gegen diese Entscheidung Klage beim Hoge Raad, der das Verfahren ausgesetzt und den Gerichtshof um Vorabentscheidung über folgende Fragen ersucht hat:
Sind der bloße Eigentumserwerb und Besitz von Schuldverschreibungen – Schuldtitel in Form von Handelseffekten –, die nicht einer anderen Unternehmenstätigkeit dienen, und der Zufluß des Ertrages aus diesen als wirtschaftliche Tätigkeiten im Sinne des Artikels 4 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie anzusehen?
Wenn diese Frage zu bejahen ist: Sind solche Tätigkeiten als Umsätze im Sinne des Artikels 13 Teil B Buchstabe d Nummer 1 oder 5 der Sechsten Richtlinie anzusehen, die nach Artikel 17 Absatz 3 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie zum Abzug der Umsatzsteuer für Verwahrung und Verwaltung von Schuldverschreibungen berechtigen, soweit sich die Tätigkeiten auf Schuldverschreibungen beziehen, die von einer außerhalb der Gemeinschaft ansässigen Einrichtung ausgegeben worden sind?
Wenn die zweite Frage zu bejahen ist: Kann ein Steuerpflichtiger, der die in den vorstehenden Fragen beschriebenen Tätigkeiten ausübt und daneben Aktien besitzt, die nach dem Urteil des Gerichtshofes vom in der Rechtssache C-333/91 (Sofitam) nicht in den Anwendungsbereich der Umsatzsteuer fallen, die ihm in Rechnung gestellte Umsatzsteuer in vollem Umfang abziehen, oder ist die auf den Aktienbesitz entfallende Umsatzsteuer vom Vorsteuerabzug ausgeschlossen?
Wenn die vorstehende Frage im letztgenannten Sinne zu beantworten ist: Nach welchem Maßstab ist dann der vom Abzug ausgeschlossene Betrag zu berechnen?
Zur ersten Frage
11 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob Artikel 4 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, daß der bloße Eigentumserwerb und Besitz von Schuldverschreibungen, die nicht einer Unternehmenstätigkeit dienen, und der Zufluß des Ertrages aus diesen nicht als wirtschaftliche Tätigkeiten anzusehen sind, die den Urheber dieser Umsätze zum Steuerpflichtigen machen.
12 Der Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit nach Artikel 4 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie schließt insbesondere eine Leistung ein, die die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen umfaßt.
13 Ferner erkennt Artikel 4 der Sechsten Richtlinie, wie der Gerichtshof wiederholt festgestellt hat (vgl. Urteil vom in der Rechtssache C-186/89, Van Tiem, Slg. 1990, I-4363, Randnr. 17), der Mehrwertsteuer einen sehr weiten Anwendungsbereich zu, der sämtliche Stadien der Erzeugung, des Handels und der Erbringung von Dienstleistungen umfaßt.
14 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes geht außerdem hervor, daß sich der Begriff „Nutzung” im Sinne des Artikels 4 Absatz 2 entsprechend den Erfordernissen des Grundsatzes der Neutralität des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems auf alle Vorgänge ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform bezieht, die darauf abzielen, aus dem betroffenen Gegenstand nachhaltig Einnahmen zu erzielen (Urteil Van Tiem, a. a. O., Randnr. 18).
15 Der Gerichtshof hat allerdings auch klargestellt, daß der bloße Erwerb und das bloße Halten von Gesellschaftsanteilen nicht als wirtschaftliche Tätigkeiten im Sinne der Sechsten Richtlinie angesehen werden können, die den Erwerber und Inhaber zum Steuerpflichtigen machen würden (Urteil vom in der Rechtssache C-60/90, Polysar Investments Netherlands, Slg. 1991, I-3111, Randnr. 13). Der bloße Erwerb von Beteiligungen an anderen Unternehmen stellt keine Nutzung eines Gegenstands zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen dar, weil eine etwaige Dividende als Ergebnis dieser Beteiligung Ausfluß der bloßen Innehabung des Gegenstands ist (vgl. ferner Urteil vom in der Rechtssache C-333/91, Sofitam, Slg. 1993, I-3513, Randnr. 12).
16 Zwar können die in Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nummer 5 der Sechsten Richtlinie genannten Umsätze in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fallen, wenn sie im Rahmen des gewerbsmäßigen Wertpapierhandels oder zum Zweck des unmittelbaren oder mittelbaren Eingreifens in die Verwaltung der Gesellschaften erfolgen, an denen die Beteiligung besteht, oder wenn sie eine unmittelbare, dauerhafte und notwendige Erweiterung einer steuerbaren Tätigkeit darstellen (vgl. Urteile Polysar Investments Netherlands, a. a. O., Randnr. 14; vom in der Rechtssache C-155/94, Wellcome Trust, Slg. 1996, I-3013, Randnr. 35; und vom in der Rechtssache C-306/94, Régie dauphinoise, Slg. 1996, I-3695, Randnr. 18).
17 Die französische Regierung hat jedoch vorgetragen, daß zwischen dem Erwerb und Besitz von Aktien, die Gegenstand der genannten Rechtssache Polysar Investments Netherlands gewesen seien, und dem Erwerb und Besitz von Schuldverschreibungen, um die es im Ausgangsverfahren gehe, zu unterscheiden sei.
18 Wie die niederländische Regierung zutreffend ausgeführt hat, kann die Tätigkeit eines Inhabers von Schuldverschreibungen als eine Form der Kapitalanlage bezeichnet werden, die ihrer Art nach nicht über bloße Vermögensverwaltung hinausgeht. Die aus Schuldverschreibungen erzielten Einkünfte ergeben sich aus deren bloßem Besitz, der einen Anspruch auf Zinszahlungen verleiht. Unter diesen Umständen können die so eingenommenen Zinsen nicht als Gegenleistung bei einem Umsatz oder für eine vom Inhaber der Schuldverschreibung ausgeübte wirtschaftliche Tätigkeit angesehen werden, da sie aus dem bloßen Eigentum an diesen Schuldverschreibungen fließen.
19 Somit gibt es keinen Grund, den Besitz von Schuldverschreibungen anders zu behandeln als den Besitz von Beteiligungen. Deshalb gilt nach Artikel 13 Teil B Buchstabe d Nummer 5 sowohl für Aktien als auch für Schuldverschreibungen eine Steuerbefreiung.
20 Auf die erste Frage ist daher zu antworten, daß Artikel 4 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, daß der bloße Eigentumserwerb und Besitz von Schuldverschreibungen, die nicht einer anderen Unternehmenstätigkeit dienen, und der Zufluß des Ertrages aus diesen nicht als wirtschaftliche Tätigkeiten anzusehen sind, die den Urheber dieser Umsätze zum Steuerpflichtigen machen.
21 Angesichts der Antwort auf die erste Frage sind die übrigen Vorabentscheidungsfragen gegenstandslos.
Kosten
22 Die Auslagen der niederländischen und der französischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
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Fundstelle(n):
OAAAD-94391