Aussetzung und Ruhen des Verfahrens
(Hinweise zum Anwendungserlass zur Abgabenordnung vom i. d. F. vom ) [1]
1. Zweck der Vorschrift und Anwendungsbereich
Das Finanzamt ist grundsätzlich gehalten, den Fortgang des Einspruchsverfahrens zu fördern und es möglichst rasch abzuschließen. Ein Verfahrensstillstand ohne gesetzliche Grundlage verstößt gegen das ungeschriebene Beschleunigungsgebot im Einspruchsverfahren. [2] Gegen die Untätigkeit des Finanzamts kann sich der Einspruchsführer mit der Untätigkeitsklage gem. § 46 FGO wenden. Sowohl bei Aussetzung als auch bei Ruhen des Verfahrens tritt jedoch vorübergehend Verfahrensstillstand ein. Das Beschleunigungsgebot gilt in diesem Fall nicht.
Ein zureichender Grund für die Untätigkeit des Finanzamts ist gegeben, wenn bei objektiver Betrachtungsweise ein Verwaltungsakt nicht zu erwarten ist. Das ist z. B. der Fall, wenn die Entscheidung vom Ausgang eines anderen Verfahrens abhängt [3] oder es zweckmäßig ist, diese Entscheidung abzuwarten.
Verfahrensaussetzung und Verfahrensruhe kommen i. d. R. nicht in Betracht, wenn der Einspruch unzulässig ist. [4] Bei Unzulässigkeit besteht für einen Stillstand des Verfahrens kein Bedürfnis. § 363 Abs. 1 und 2 AO gelten auch nicht bei Anträgen außerhalb eines Einspruchsverfahrens. Im Verfahren wegen Aussetzung der Vollziehung nach § 361 AO kommt eine Aussetzung oder ein Ruhen des Verfahrens aufgrund der Eilbedürftigkeit und des summarischen Charakters der Entscheidung i. d. R. nicht in Betracht. [5]
Bei ermessensfehlerhafter Weigerung des Finanzamts, das Verfahren bei Vorliegen von Musterverfahren ruhen zu lassen, können dem Finanzamt die Kosten des Verfahrens auferlegt werden. [6]
Sind die Voraussetzungen für eine Verfahrensaussetzung oder Verfahrensruhe erfüllt, kann über den Einspruch insoweit nicht entschieden werden, und zwar weder durch eine Einspruchsentscheidung noch durch den Erlass eines Änderungsbescheids. Über Fragen, die nicht Anlass der Verfahrensaussetzung oder Verfahrensruhe sind, kann dagegen durch Erlass einer Teil-Einspruchsentscheidung (§ 367 Abs. 2a AO) oder eines Teilabhilfebescheids entschieden werden. Dabei wird i. d. R. zur Herbeiführung der Bestandskraft eine Teil-Einspruchsentscheidung zweckmäßig sein. [7] Auch der Erlass von Änderungsbescheiden aus außerhalb des Einspruchsverfahrens liegenden Gründen (z. B. Folgeänderung gem. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO) bleibt zulässig. Änderungsbescheide werden gem. § 365 Abs. 3 AO Gegenstand des anhängigen Verfahrens. [8]
Von der Verfahrensaussetzung und Verfahrensruhe ist die vorrangige Unterbrechung des Verfahrens kraft Gesetzes zu unterscheiden. Insbesondere kommt Unterbrechung durch Eröffnung des Insolvenzverfahrens bzw. die Anordnung des allgemeinen Verfügungsverbots bei Einsetzung eines vorläufigen Insolvenzverwalters [9] und bei Gesamtrechtsnachfolge in Betracht. [10]
2. Aussetzung des Verfahrens
Nach § 363 Abs. 1 AO kann das Finanzamt die Entscheidung über einen zulässigen Einspruch aussetzen, wenn sie ganz oder teilweise von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt (vorgreifliches Rechtsverhältnis), das den Gegenstand eines anhängigen Rechts-streits bildet oder von einem Gericht oder einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist. Die Vorschrift entspricht der Regelung in § 74 FGO.
2.1 Voraussetzung ist zunächst das Vorliegen eines Rechtsverhältnisses, das sich aus einem konkreten Sachverhalt ergibt und öffentlich-rechtlicher oder privatrechtlicher Art sein kann.
Kein Rechtsverhältnis i. S. dieser Vorschrift sind:
reine Rechts- oder Auslegungsfragen [11], insbesondere auch nicht die Frage, ob eine Rechtsnorm gilt oder nicht [12]
das Schweben eines Verständigungsverfahrens [13]
die Möglichkeit einer Rechtsänderung [14].
2.2 Des Weiteren muss das Rechtsverhältnis vorgreiflich sein. Das ist der Fall, wenn die Entscheidung im Rechtsbehelfsverfahren ganz oder teilweise von der Art und dem Umfang der vom Gericht oder der Behörde zu fällenden Entscheidung abhängt. [15]
Es muss also ein anderes Verfahren über das Rechtsverhältnis anhängig oder zu erwarten sein, dass eine andere Behörde von Amts wegen ein solches Verfahren einleiten oder der Steuerpflichtige es alsbald – ggf. nach Fristsetzung durch das Finanzamt – von sich aus betreiben wird. Hierbei ist nicht erforderlich, dass die Entscheidung über das vorgreifliche Rechtsverhältnis die Einspruchsbehörde bindet. Es genügt, dass das andere Verfahren irgendwie für die Entscheidung erheblich ist, d. h., irgendeinen rechtlichen Einfluss auf das auszusetzende Verfahren hat. [16]
Die Klärung einer Rechtsfrage in einem Musterprozess ist grundsätzlich keine Entscheidung über das Bestehen oder Nichtbestehen eines vorgreiflichen Rechtsverhältnisses. [17] Das Finanzamt kann deshalb das Verfahren nicht aussetzen, um die Klärung strittiger Rechtsfragen in einem bereits anhängigen Verfahren des Steuerpflichtigen oder im Verfahren Dritter abzuwarten. In diesen Fällen kann jedoch ein Ruhen des Verfahrens in Betracht kommen. „Zwangsruhe” und „Anordnungsruhe” gehen der Aussetzung des Verfahren nach § 363 Abs. 1 AO vor.
Beispiele für die Vorgreiflichkeit eines Rechtsverhältnisses für das Einspruchsverfahren sind:
Abrechnungsbescheid (§ 218 Abs. 2 AO) gegenüber Rückforderungsbescheid [18]
Jahressteuerbescheid gegenüber Abrechnungsbescheid [19]
Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO gegenüber Festsetzungsbescheid [20]
Einkommensteuerbescheid gegenüber Kirchensteuerfestsetzung [21]
Verlustfeststellungsbescheid gegenüber Einkommensteuerbescheid [22]
Jahressteuerbescheid gegenüber Vorauszahlungsbescheid [23]
2.3 Die Aussetzung der Entscheidung liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Finanzamts. [24] Im Rahmen der Ermessensausübung sind daher prozessökonomische Gesichtspunkte einerseits und die Interessen der Beteiligten andererseits (z. B. rasche Beendigung des Verfahrens, Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen, Kostengründe) gegeneinander abzuwägen.
2.4 Bevor die Entscheidung über einen Einspruch ausgesetzt wird, ist zu überprüfen, ob die Feststellung über das vorgreifliche Rechtsverhältnis in einem Grundlagenbescheid im Sinne des § 171 Abs. 10 AO erfolgt, der eine Änderung des angefochtenen Verwaltungsakts auch außerhalb des Einspruchsverfahrens nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ermöglicht. In diesem Fall ist der Einspruchsführer auf die Rechtslage hinzuweisen und im Hinblick auf die Unbegründetheit des Einspruchs [25] um dessen Rücknahme zu bitten.
Solange ein Grundlagenbescheid noch fehlt oder noch unklar ist, ob und wie der angefochtene Grundlagenbescheid geändert wird, ist eine Aussetzung des Verfahrens regelmäßig zweckmäßig und geboten. [26] Dass sich der Erlass eines zukünftigen oder geänderten Grundlagenbescheids über § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ohnehin auf den Folgebescheid auswirkt, steht dem nicht entgegen. [27]
Durch die Aussetzung des Verfahrens soll u. a. verhindert werden, dass das Finanzgericht oder der Bundesfinanzhof mit einer Vielzahl gleich gelagerter Fälle „überschwemmt” werden, ohne dass dies der Klärung des vorgreiflichen Rechtsproblems dient. [28] Im Regelfall ist davon auszugehen, dass es im Interesse der Rechtsfindung liegt, den Ausgang des vorgreiflichen Verfahrens abzuwarten. Dies gilt insbesondere dann, wenn der andere Rechtsstreit bereits anhängig und das für seine Entscheidung zuständige Gericht besonders sachkundig ist.
Die Aussetzung der Entscheidung ist weder an einen Antrag des Steuerpflichtigen gebunden, noch bedarf sie seiner Zustimmung. Das Einspruchsverfahren kann danach auch gegen den Willen des Einspruchsführers ausgesetzt werden. Vor der Entscheidung sind die Beteiligten jedoch zu hören. Die Aussetzung des Verfahrens hat die Wirkung, dass der Lauf einer jeden Frist innerhalb des Rechtsbehelfsverfahrens aufhört und nach Beendigung der Aussetzung von Neuem zu laufen beginnt. [29] Da sich somit auch die Frist des § 46 Abs. 1 FGO für die Erhebung der sog. Untätigkeitsklage verlängert, ist die Aussetzung der Entscheidung dem Steuerpflichtigen in jedem Fall mitzuteilen.
Hinsichtlich des nicht von der Aussetzung betroffenen Teils kann das Verfahren fortgesetzt werden (z. B. Sachverhaltsermittlungen, Hinzuziehung, Teil-Einspruchsentscheidung, Teilabhilfebescheid, Folgeänderung gem. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO). [30]
2.5 Das Verfahren ist im Allgemeinen bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Vorfrage durch das Gericht oder bis zum Eintritt der Bestandskraft des das vorgreifliche Rechtsverhältnis regelnden Verwaltungsaktes unter Vorbehalt des Widerrufs auszusetzen. Im Rahmen seines Ermessens kann das Finanzamt allerdings auch nur eine Aussetzung bis zur Bekanntgabe des Gerichtsurteils oder des Verwaltungsaktes anordnen. Die Aussetzung kann nach pflichtgemäßem Ermessen widerrufen werden, wenn ausreichende Gründe für eine Fortführung des Verfahrens sprechen. Eine Sachentscheidung darf aber erst ergehen, wenn die aufhebende Verfügung den Beteiligten bekannt gegeben worden ist und diese Gelegenheit hatten, sich erneut zur Sach- und Rechtslage zu äußern. [31] Ist die Entscheidung über einen Einspruch ausgesetzt worden, so ist beim Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen grundsätzlich auch die Vollziehung des angefochtenen Bescheids auszusetzen.
Die Ablehnung eines Antrags auf Aussetzung oder der Widerruf der Aussetzung können nicht selbständig, sondern nur mit der Klage gegen die Einspruchsentscheidung angefochten werden (§ 363 Abs. 3 AO).
Die Anordnung der Aussetzung hingegen ist ein Verwaltungsakt, der mit dem Einspruch angefochten werden kann. [32] Setzt das Finanzamt das Verfahren aus, ohne dass die Voraussetzungen des § 363 Abs. 1 AO vorliegen, kommt auch eine Untätigkeitsklage nach § 46 FGO in Betracht.
3. „Zustimmungsruhe”
(§ 363 Abs. 2 Satz 1 AO; zu Nr. 1 AEAO)
Das Finanzamt kann auf Antrag oder mit Zustimmung des oder der Einspruchsführer das Ruhen des Verfahrens anordnen, wenn dies aus wichtigen Gründen zweckmäßig erscheint und die Voraussetzungen für eine „Zwangsruhe” oder „Anordnungsruhe” nicht vorliegen. Verweigert einer der Einspruchsführer die Zustimmung, müssen die Verfahren der verschiedenen Einspruchsführer getrennt werden. Die Zustimmung eines Hinzugezogenen ist nicht erforderlich.
Wann die Anordnung aus wichtigem Grund zweckmäßig erscheint, ist nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalles zu entscheiden. Zweckmäßig ist das Ruhen, wenn dadurch für das Finanzamt seiner Meinung nach unnötiger Verwaltungsaufwand, widersprüchliche Entscheidungen oder spätere Korrekturen der Entscheidung vermieden werden. Die Voraussetzungen sind insbesondere gegeben, wenn
beim EuGH, dem BVerfG oder einem obersten Bundesgericht zwar keine Musterverfahren im Hinblick auf die sich im Streitfall stellende Rechtsfrage, aber Verfahren zu einer ähnlichen Rechtsfrage anhängig sind
oder im Einzelfall ein echtes Musterverfahren vor einem Finanzgericht abgewartet werden soll. [33]
eine Sachentscheidung zurückgestellt wird, bis die Ergebnisse einer Außenprüfung vorliegen und dadurch umfangreiche Sachverhaltsermittlungen im Einspruchsverfahren überflüssig sind.
eine Rechtsfrage für zwei oder mehr Veranlagungszeiträume strittig ist und mit der Klärung für ein Jahr durch ein anhängiges Klageverfahren eine Erledigung der Hauptsache auch für das zweite (ggf. weitere) Streitjahr(e) zu erwarten ist. [34]
aufgrund einer Einschaltung der Oberbehörde mit einer Bereinigung des Streitfalles oder einer Klärung der Rechtsfrage zu rechnen ist.
Der Wunsch des Einspruchsführers, noch weiteres Beweismaterial beizubringen, ist kein Grund, das Verfahren ruhen zu lassen. Hierfür ist ggf. eine Frist zu gewähren. [35] Ein Ruhensgrund liegt auch nicht vor, wenn der Einspruchsführer einen Erlassantrag gestellt hat, im Einspruchsverfahren aber über die Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung zu entscheiden ist. [36]
Für ein Ruhen des Verfahrens aus Zweckmäßigkeitsgründen besteht bei klarer Rechtslage keine Veranlassung. Unzweckmäßig ist das Ruhen des Einspruchsverfahrens, wenn die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs gering sind oder wenn die Rechtsfrage den betragsmäßig weitaus geringsten Teil des Einspruchs ausmacht, aber auch wenn das Begehren des Einspruchsführers letztlich darauf abzielt, seinen Steuerfall „offenzuhalten”, um von künftigen Änderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu derzeit nicht strittigen Fragen zu „profitieren”. Diese Annahme kann naheliegen, wenn der Einspruchsführer keine eigenen Gründe für die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts geltend macht und sich auf zahlreiche nicht einschlägige Musterverfahren stützt. Je geringer die Erfolgsaussichten eines Einspruchs sind, desto schwerer wiegt das Interesse an einem Abschluss des Einspruchsverfahrens und der damit verbundenen Rechtsklarheit. [37] Das Finanzamt kann im Rahmen der Interessenabwägung auch berücksichtigen, dass das Ruhenlassen von Einspruchsverfahren zu massenhaft nicht mehr bestandskräftigen Steuerbescheiden und zusätzlichem Organisations- und Arbeitsaufwand führen würde, weil die Verfahrensruhe Signalwirkung für Steuerpflichtige hätte und dazu führen würde, dass Einsprüche gegen eine Vielzahl von Bescheiden eingelegt werden, also eine Vielzahl von Steuerbescheiden nicht mehr bestandskräftig werden würde und die Finanzämter für zahlreiche Veranlagungszeiträume Einsprüche zu überwachen hätten. [38]
Die Ablehnung eines Antrags auf Ruhen des Verfahrens ist regelmäßig eine Ermessensentscheidung im Einzelfall, die zu begründen ist. In der Begründung sind die Besonderheiten des Sachverhalts zu berücksichtigen und dürfen nicht nur Standardformulierungen verwendet werden. [39] Insbesondere die pauschale, unreflektierte Übernahme von „Musterentscheidungen” können grundsätzlich weder eine eigene Ermessensentscheidung darstellen noch eine solche ersetzen. Es muss dargelegt werden, weshalb ein das Interesse des Einspruchsführers überwiegendes Interesse des Finanzamts an der Fortsetzung des Verfahrens besteht. [40]
Die Ablehnung eines Antrags auf Ruhen des Verfahrens oder der Widerruf der Verfahrensruhe können nicht selbständig, sondern nur mit der Klage gegen die Einspruchsentscheidung angefochten werden (§ 363 Abs. 3 AO).
Die Anordnung der Verfahrensruhe hingegen ist ein Verwaltungsakt, der mit dem Einspruch angefochten werden kann. [41] Setzt das Finanzamt das Verfahren aus, ohne dass die Voraussetzungen des § 363 Abs. 1 AO vorliegen, kommt auch eine Untätigkeitsklage nach § 46 FGO in Betracht.
4. „Zwangsruhe”
(§ 363 Abs. 2 Satz 2 AO; zu Nr. 2 AEAO)
4.1 Allgemeines
Eine „Zwangsruhe” tritt ein,
wenn die Steuer nicht vorläufig nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 oder Nr. 4 AO festgesetzt wurde und
ein Verfahren anhängig ist beim EuGH, BVerfG, BFH, aber auch BGH, BAG, BVerwG, BSG
wegen der Verfassungswidrigkeit einer Rechtsnorm oder wegen einer Rechtsfrage und
wenn der eingelegte Einspruch hierauf gestützt wird und zulässig ist.
Wird festgestellt, dass in einer größeren Zahl von Fällen Einsprüche wegen eines Musterverfahrens eingelegt wurden, bitte ich zu berichten und die Steuerfestsetzungen bis zum Ergehen weiterer Weisungen nicht für vorläufig zu erklären (§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 oder Nr. 4 AO).
Soweit das (Nicht-)Ruhenlassen von Einspruchsverfahren durch Rundverfügung geregelt wurde, bitte ich hiervon nur mit meiner vorherigen Zustimmung abzuweichen. Das gilt auch dann, wenn eine die Verfassungsmäßigkeit einer angegriffenen Rechtsnorm bestätigende Gerichtsentscheidung ergangen ist.
4.2 Musterverfahren
Keine „Zwangsruhe” tritt ein, wenn zwar alle übrigen Voraussetzungen erfüllt sind, der Einspruchsführer sich aber nicht konkret auf ein beim EuGH, beim BVerfG oder bei einem obersten Bundesgericht anhängiges Verfahren beruft. [42]
Denkbar ist aber auch, dass der Einspruchsführer sich ohne Grund nicht auf ein anhängiges Musterverfahren beruft. Hat in einem solchen Fall das Finanzamt ein Interesse am Ruhen des Verfahrens, kann es zweckmäßig sein, den Einspruchsführer auf dieses Verfahren sowie darauf hinzuweisen, dass beim Ausbleiben einer gegenteiligen Äußerung von einem Einverständnis mit dem Ruhen des Verfahrens nach § 363 Abs. 2 Satz 1 AO ausgegangen wird.
Damit das Finanzamt prüfen kann, ob dieselbe Frage Gegenstand sowohl des konkreten Einspruchsverfahrens als auch des anhängigen Musterverfahrens ist, muss der Einspruchsführer im Einspruchsschreiben oder in einer später eingereichten Einspruchsbegründung die strittige Rechtsfrage bzw. die in seinem Verfahren angewendete verfassungswidrige Regelung benennen. Er muss ferner darauf hinweisen, dass nach seiner Kenntnis hinsichtlich der Rechtsfrage bzw. der Norm ein Verfahren bei einem der in Frage kommenden Gerichte anhängig ist. Dabei kann die Angabe des Aktenzeichens des Musterverfahrens grundsätzlich nicht verlangt werden.
Nach Wortlaut, Sinn und Zweck des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO muss das Musterverfahren nicht zwingend in der Hauptsache auf abschließende Klärung der aufgeworfenen Rechtsfrage gerichtet sein. Eine „Zwangsruhe” kann auch durch den Hinweis auf ein Nichtzulassungsbeschwerde-, Prozesskostenhilfe- oder Anhörungsrügeverfahren oder ein Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes beim BFH, aber auch ein einstweiliges Anordnungsverfahren beim BVerfG gerechtfertigt sein. Zumindest dürfte ein Verfahrensstillstand gem. § 363 Abs. 1 bzw. Abs. 2 Satz 1 AO veranlasst sein. [43]
Mangels Erwähnung in § 363 Abs. 2 Satz 2 AO löst die Berufung auf ein beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anhängiges Verfahren keine „Zwangsruhe” aus. Eine Verfahrensruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 1 AO aus Zweckmäßigkeitsgründen kommt ebenfalls nicht in Betracht, weil von einem vor dem EGMR anhängigen Verfahren allgemein keine Wirkung auf die individuelle Steuerfestsetzung des Einspruchsführers ausgehen könnte. Entscheidungen des EGMR haben keine kassatorische Wirkung und können die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung nicht beseitigen. [44] Der EGMR ist auch nicht zur Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit deutscher Rechtsnormen berufen. Außerdem kommt nach der Rechtsprechung des BFH Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK wegen des öffentlich-rechtlichen Charakters der Besteuerung nicht zur Anwendung. [45]
Um den Finanzämtern die Prüfung zu erleichtern, ob ein entsprechendes Musterverfahren anhängig ist und ob dieses tatsächlich dieselbe Rechtsfrage zum Gegenstand hat, wird im Bundessteuerblatt Teil II eine – nicht vollständige – Liste der beim BFH, beim BVerfG und beim EuGH anhängigen Verfahren in Steuersachen veröffentlicht. Lässt sich anhand dieser Liste nicht feststellen, dass das vom Einspruchsführer angeführte Musterverfahren anhängig ist, bzw. ist dem Finanzamt das Verfahren auch sonst nicht bekannt, ist vom Einspruchsführer ein Nachweis über die Anhängigkeit (z. B. Benennung der Fundstelle in der Fachliteratur) zu verlangen.
Kann vom Einspruchsführer der Nachweis über die Anhängigkeit eines Musterverfahrens nicht erbracht werden bzw. kommt es nach Auffassung des Finanzamts auf den Ausgang dieses Verfahrens nicht an, ist der Einspruchsführer über die Fortsetzung des Einspruchsverfahrens zu unterrichten und darauf hinzuweisen, dass die Rechtswidrigkeit der Ablehnung nur durch Klage gegen die Einspruchsentscheidung geltend gemacht werden kann (§ 363 Abs. 3 AO). Wird gegen die Ablehnung des Antrags trotz des Hinweises Einspruch eingelegt, ist dieser als unzulässig zu verwerfen. Die Entscheidung sollte mit der Hauptsacheentscheidung verbunden werden. Die Einspruchsentscheidung muss in diesem Fall auch Ausführungen dazu enthalten, warum eine „Zwangsruhe” nicht eingetreten ist.
4.3 Verfahren nach Eintritt der „Zwangsruhe”
Nach Eintritt der „Zwangsruhe” ist es zweckmäßig, den Einspruch hinsichtlich der Punkte, die nicht zum Ruhen geführt haben, bis zur Entscheidungsreife weiter zu bearbeiten. Es ist zulässig, während der „Zwangsruhe” im Rahmen der erneuten Überprüfung im vollen Umfang (§ 367 Abs. 2 Satz 1 AO) noch zusätzliche Sachverhaltsermittlungen vorzunehmen.
Soweit im Veranlagungsbereich bereits bei Einspruchseinlegung der Antrag auf Ruhen des Verfahrens gestellt wird, ist die Überprüfung, ob ein Teilabhilfebescheid erlassen werden kann, noch von der Veranlagungsstelle vorzunehmen. Nach Erlass des Teilabhilfebescheides ist der Einspruch an die Rechtsbehelfsstelle abzugeben. Kommt der Erlass eines Teilabhilfebescheides nicht in Betracht, ist der Einspruch ungeachtet der „Drei-Monats-Frist” an die Rechtsbehelfsstelle abzugeben. Ihr obliegt dann die weitere Bearbeitung des Einspruchs und des Antrags auf Ruhen des Verfahrens.
Treten die Voraussetzungen für eine Vorläufigkeitserklärung nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 oder Nr. 4 AO erst während des ruhenden Einspruchsverfahrens ein, so besteht u. U. die Möglichkeit, dem Einspruchsbegehren insoweit durch nachträgliche Beifügung eines entsprechenden Vorläufigkeitsvermerks abzuhelfen und den Einspruch zu erledigen. [46]
Ist eine „Zwangsruhe” eingetreten, muss dies dem Einspruchsführer nicht mitgeteilt werden. Er kann aus dem Stillschweigen des Finanzamts schließen, dass das Einspruchsverfahren ruht. Anders als bei der „Zustimmungsruhe” ist keine besondere Anordnung erforderlich. Die „Zwangsruhe” tritt automatisch ein. Das Ruhen des Verfahrens kraft Gesetzes ist nicht mit dem Einspruch anfechtbar, weil insoweit kein Verwaltungsakt vorliegt. Eine Zustimmung des Einspruchsführers zur „Zwangsruhe” ist nicht vorgesehen.
5. „Anordnungsruhe”
Ist noch keines der in § 363 Abs. 2 Satz 2 AO genannten Gerichte angerufen, aber absehbar, dass sich beispielsweise wegen einer bereits geführten intensiven Diskussion über die Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm oder wegen unterschiedlicher Instanzrechtsprechung aller Voraussicht nach der EuGH, das BVerfG oder ein oberstes Bundesgericht mit der Klärung der Verfassungsmäßigkeit bzw. der Rechtsfrage befassen wird, kann ebenfalls eine „Zwangsruhe” von Einsprüchen sachgerecht sein. Nach § 363 Abs. 2 Satz 3 AO kann es die oberste Finanzbehörde zulassen, dass durch öffentlich bekannt zu gebende Allgemeinverfügung (§ 118 Satz 2 AO) für bestimmte Gruppen gleich gelagerter Fälle des Ruhen von Einspruchsverfahren – ggf. auch durch die OFD oder das Finanzamt – angeordnet wird. Die Allgemeinverfügung wirkt nur für Fälle im Amtsbereich der sie erlassenden Finanzbehörde (§ 6 AO). [47]
Gegen die Anordnung ist zwar der Einspruch statthaft. Er ist aber mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässig, weil der Einspruchsführer die Möglichkeit hat, jederzeit einen Antrag auf Verfahrensfortführung zu stellen. Ggf. ist ein solcher Einspruch in einen Antrag auf Verfahrensfortführung umzudeuten.
Die „Anordnungsruhe” kann durch eine „Zwangsruhe” abgelöst werden, wenn deren Voraussetzungen zwischenzeitlich in einem in der Allgemeinverfügung geregelten Fall eintreten. Ansonsten ruht das Einspruchsverfahren, wenn es nicht gem. § 363 Abs. 2 Satz 4 AO fortzusetzen ist, bis zur Aufhebung der Allgemeinverfügung.
6. Beendigung der Verfahrensruhe
(§ 363 Abs. 2 Satz 4 AO; zu Nr. 4 AEAO)
Auch ein Einspruchsverfahren, das die Voraussetzungen für ein Ruhen erfüllt, ist fortzusetzen, wenn der Einspruchsführer dies beantragt oder das Finanzamt ihm dies mitteilt. Teilt das Finanzamt dem Einspruchsführer die Fortsetzung eines ruhenden Einspruchsverfahrens mit, ist den Beteiligten vor Erlass einer Einspruchsentscheidung Gelegenheit zu geben, sich erneut zu äußern. Das gilt für alle Fälle der Verfahrensruhe gem. § 363 Abs. 2 AO.
Die Fortsetzungsmitteilung ist regelmäßig zu begründen. Hierbei handelt es sich immer um eine Ermessensentscheidung im Einzelfall. Die Fortsetzung eines kraft Gesetzes ruhenden Verfahrens durch das Finanzamt kommt z. B. in Betracht, wenn ein weiteres gerichtliches Musterverfahren herbeigeführt werden soll, wenn bereits eine Entscheidung des EuGH, des BVerfG oder des obersten Bundesgerichts in einem Parallelverfahren ergangen ist oder wenn das Begehren des Einspruchsführers letztlich darauf abzielt, seinen Steuerfall „offenzuhalten”, um von künftigen Änderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu derzeit nicht strittigen Fragen zu „profitieren” [48], aber auch wenn die Rechtsfrage, die zu der „Zwangsruhe” geführt hat, den betragsmäßig weitaus geringsten Teil des Einspruchs ausmacht.
Einwendungen gegen die Fortsetzungsmitteilung können nur durch Klage gegen die noch zu erlassende Einspruchsentscheidung vorgebracht werden (§ 363 Abs. 3 AO).
Im Falle der „Zwangsruhe” ist eine Fortsetzungsmitteilung und somit auch eine Ermessensentscheidung nicht erforderlich, wenn das Gerichtsverfahren, auf das sich der Einspruchsführer berufen hat, abgeschlossen ist. [49] Im Einzelfall kann jedoch eine Verfahrensruhe aus Zweckmäßigkeitsgründen nach § 363 Abs. 2 Satz 1 AO angemessen sein.
Wird gegen die Entscheidung, deretwegen das Einspruchsverfahren ruhte, Verfassungsbeschwerde erhoben, setzt sich die „Zwangsruhe” nicht „automatisch” fort. Der Einspruchsführer muss vielmehr, bevor über den noch ruhenden Einspruch bzw. Teil des Einspruchs entschieden wird, seinen Einspruch auf die Verfassungsbeschwerde erstrecken. [50]
Beantragt der Einspruchsführer die Fortführung des Verfahrens, ist diesem Antrag zu entsprechen. Der Antrag des Einspruchsführers bedarf keiner Begründung. Er hat unmittelbar verfahrensgestaltende Wirkung, indem er das Ruhen des Verfahrens beendet. Das Finanzamt hat in diesem Fall keinen Ermessensspielraum. Setzt das Finanzamt das Verfahren trotz Antrag nicht fort, ist die Untätigkeitsklage (§ 46 FGO) möglich.
Die bisherige Karteikarte 1 (Kontroll-Nr. 1713) ist auszusondern.
OFD Niedersachsen v. - S
0622 - 889 - St
141
Fundstelle(n):
AO-Kartei
NI § 363
AO Karte 1 - 1716 -
CAAAD-94194
1BStBl 2011 I S. 241
2 BStBl 1967 III S. 783
3 BStBl 1972 II S. 20
4 BStBl 1990 II S. 177
5 BStBl 1988 II S. 240
6 BStBl 2003 II S. 719
7vgl. AEAO zu § 367, Nr. 6
8AEAO zu § 363, Nr. 3
10Brandis in Tipke/Kruse, § 363 AO Tz. 4
11vgl. BFH/NV 1987 S. 43, und vom , BFH/NV 1996 S. 215
12BFH-Beschuss vom , BStBl 1974 II S. 247 und vom , BStBl 1992 II S. 408
13 BStBl 1967 III S. 495
14 NJW 1962 S. 1170; BStBl 2007 II S. 129
15 BStBl 1975 II S. 211, und vom , BStBl 1985 II S. 672
16 BStBl 1990 II S. 986
17 BStBl 1968 II S. 706 und vom , BStBl 1990 II S. 944; das gilt auch für Rechtsfragen, die dem BVerfG vorliegen; die insoweit vom BFH zu § 74 FGO entwickelten Grundsätze sind auf die Aussetzung des Verfahrens nach § 363 Abs. 1 AO – zumindest ab – nicht übertragbar (vgl. BStBl 1992 II, 673 sowie BFH/NV 1993 S. 244), weil der ab diesem Zeitpunkt gültige § 363 Abs. 2 Satz 2 AO diese Rechtssituation speziell regelt (a. A.: Klein/Brockmeyer, AO, § 363 Anm. 7)
18 BFH/NV 1999 S. 440
19 BStBl 2000 II S. 46
20 BFH/NV 1998 S. 201
21 BFH/NV 1999 S. 1383
22 BStBl 1999 II S. 731
23 BFH/NV 2003 S. 794
24 BStBl 1985 II S. 672
25 BStBl 1988 II S. 142
26
BStBl 1984 II
S. 290
BStBl 1979 II S. 678
27 BFH/NV 2007 S. 1532
28vgl. BStBl 1990 II, 986
29 BStBl 1974 II S. 247
30vgl. AEAO zu § 363, Nr. 3
31 HFR 1964 S. 355
32 BStBl 1990 II S. 944
33Klein/Brockmeyer, AO, 10. Auflage, § 363 Rz. 12
34 EFG 1969, 508
35 BStBl 1967 III S. 783
36Birkenfeld in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 363 AO Rz. 158
37 BStBl 1996
S. 20
AEAO zu § 363, Nr. 4, unter Hinweis auf
BStBl 2007 II S. 222 NFG-Urteil vom
, EFG 2010 S. 1562, mit Anm. von Wagner
38Noack, Die Steuerberatung 9/2011 S. 389 ff.
39 BFG/NV 1999 S. 659
40 BStBl 2007 II S. 222
41 BStBl 1990 II S. 944
42 a. a. O. (Fn. 40)
BStBl 2011 II S. 11
43Pahlke in Pahlke/König, 2009,
§ 363 AO Rz. 46
Szymczak in Koch/Scholtz, 1996,
§ 363 AO Rz. 9/3
44Meyer-Ladewig, Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Rz. 28 zu Artikel 46
45vgl. u. a. Urteil vom , BStBl 1996 II S. 518
46AO-Kartei Anhang G Karte 1 N Tz. 4.2
47Dumke in Schwarz, § 363 AO Rz. 34
48AEAO zu § 363, Nr. 4, unter Hinweis auf a. a. O. (Fn. 42)
49AEAO zu § 363, Nr. 2, unter Hinweis auf a. a. O.
50 a. a. O. (Fn. 42)